In den sechs Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich der "alte Kontinent" Europa mehr verändert, als uns in der Regel bewusst ist. Tony Judt, der nach akademischen Stationen in Cambridge, Oxford und Berkeley seit über zehn Jahren europäische Geschichte an der New York University lehrt, blickt in seinem imposanten Buch als Europäer von außen auf unseren kleinkammerig gegliederten Kontinent. Amerika ist für ihn, den Europäer mit britischen und jüdischen Wurzeln, dabei weder Maßstab noch Modell; es ist eher Archimedischer Punkt, aber auch Kontrastmittel bei der Analyse. An den USA reibt sich der Autor. Man merkt es ihm beständig an, die amerikanische Kultur ist ihm innerlich fremd. Er bevorzugt und würdigt Europas Vielfalt und kulturellen Reichtum.
In angenehm erzählender Weise, sprachmächtig - nicht zuletzt auch dank der exzellenten Übersetzung - schildert Judt die Entwicklung Europas bis in die Gegenwart. Er unterzieht die europäischen Völker, ihre Staaten, ihre Gesellschaften, ihre Kultur einer Untersuchung nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
Im Alltag ist die Gegenwart präsenter als die Vergangenheit. Judt schaut auf die Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu verstehen und um Lehren aus ihr zu ziehen. Auch wenn das Vergangene vorbei ist, agiert es doch, oft unmerklich, wirkmächtig weiter. Indem Tony Judt sich und uns an das Vergangene erinnert, hilft er zu verstehen und zu lernen.
Im Unterschied zu anderen Historikern, die über die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, ist sein Augenmerk weniger auf die Überwindung des klassischen deutsch-französischen Gegensatzes ("Nie mehr Krieg, nie mehr das Gemetzel von Verdun!") oder anderer bilateraler Konflikte gerichtet. Im Mittelpunkt des Judt'schen Interesses steht das Problem ethnischer beziehungsweise kultureller Minderheiten und ihre gesellschaftliche Partizipation, Integration oder Ausgrenzung in den europäischen Staaten und Gesellschaften. Sein Anliegen, das unterstreicht er ausführlich in einem umfangreichen essayhaften Nachwort ("Erinnerungen aus dem Totenhaus"), ist es, "Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen". Dies ist der kontinuierliche Subtext des Buches, was auch an der programmatischen Auswahl des ersten und letzten Fotos im Bildteil deutlich wird. Judt will Vergessenes und Verdrängtes in Erinnerung rufen, er will Europas Nachkrieggeschichte anders und neu begründen.
In den vier großen Teilen des Buches - über die Periodisierung kann man streiten - schildert Judt, wie die europäischen Völker im Westen wie im Osten des Kontinents mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs fertig zu werden versuchen. Wie erleben, wie gestalten sie die Zeit der Teilung? Wie kommt es zum Ende der alten Ordnung? Mit welchen Schritten, mit welchem Stolpern findet Europa seinen neuen Weg ins 21. Jahrhundert? Welchen Beitrag leistet dabei die Europäische Union?
Bei seinem Tour d'horizon geht er von Land zu Land, wobei gewisse inhaltliche und regionale Schwerpunkt und zweifellos auch Schwächen erkennbar sind: Es ist ein Buch über "die Briten", "die Franzosen", "die Deutschen" und ihr Handeln. Im Mittelpunkt stehen die größeren Länder Europas, plus die USA und Rußland, gewürzt mit etwas Mittelmeer, etwas Osteuropa "und einer Prise Schweiz". Jeder wird zwar erwähnt, aber manche Länder sind nahezu blinde Flecken in der Wahrnehmung des Historikers oder werden allenfalls als Pflichtübung abgehandelt.
Nationalgeschichten werden verflochten und verschränkt mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Themen wie Bildung, Ernährung, Verkehrswesen, Film und Musik. Doch sind die einzelnen Abschnitte von unterschiedlicher Qualität und der Fokus ist manchmal etwas unscharf: Zum Teil wird der Leser mit Zahlen und Prozenten regelrecht erschlagen, zum Teil bleibt Judt aber auch ausgesprochen vage. Nur in den Urteilen ist er stets sehr bestimmt.
Speziell bei den Abschnitten über Großbritannien merkt man, wo das Herz des Autors schlägt. Der Brite wird auch bei der Beurteilung der EU-Institutionen sichtbar: Die Gründungsphasen der Gemeinschaft werden recht knapp behandelt, das Europäische Parlament krass unterschätzt, die Rolle des Gerichtshofs erschreckend verzerrt dargestellt.
Es ist klar, dass ein Buch von rund 1.000 Seiten Umfang nicht "objektiv" sein kann und durchaus seine Schlagseiten hat: Doch ist es abwegig und befremdend, wenn einerseits Konrad Adenauer ein unklares Verhältnis zu Hitler unterstellt wird, und aus heutiger Sicht eher bizarr, dass sich Judt andererseits in seiner Kritik an Kurt-Georg Kiesinger dummerweise gerade auf Günter Grass stützt. Auch mit der gesellschaftlichen Rolle der Kirchen, speziell der katholischen, hat Tony Judt ganz offensichtlich so seine Probleme.
Das verlegerisch sorgfältig editierte Buch enthält neben umfangreichen Anmerkungen und den erwähnten Bildern eine Vielzahl hilfreicher zeitgeschichtlicher Landkarten, die das Textverständnis erleichtern. Dem bildungsbeflissenen Studenten, der umfassende, ausgewogene politische Bildung aufzusaugen sucht, sollte bei sorgfältiger Lektüre gleichwohl deutlich werden, dass er kein unparteiisches Europa-Handbuch vor sich hat, kein wertneutrales Lexikon, sondern ein mit Kennerschaft und Leidenschaft geschriebenes Buch über die neueste Geschichte Europas. Als Erstlektüre zu Europa ist das Buch folglich mit einiger Vorsicht zu genießen.
Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Übersetzt von Matthias Fienbork u. Hainer Kober. Carl Hanser Verlag, München 2006; 1024 S., 39,90 Euro.