Im Februar 2005 trafen sich im Wiener Cafe Imperial der ehemalige österreichische EU-Kommissar Franz Fischler und der Wiener Journalist und Publizist Christian Ortner, um das Projekt eines gemeinsamen Buches über Europa zu besprechen. Damals befand sich die EU in einer Art Hochstimmung: Die Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten war vor kaum einem Jahr gelungen, der Euro hatte sich zwei Jahre nach seiner Einführung in zwölf EU-Ländern als Erfolg erwiesen und der vom Konvent ausgearbeitete Entwurf einer Europäischen Verfassung lag dem Europäischen Parlament und den 25 Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vor. Trotzdem blickten die Gesprächspartner mit Skepsis in ihren Kaffee Melange, wollten sie ihrem Buch doch den Titel "Woran die EU scheitern könnte" geben.
Drei Monate später, nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung, verfiel die Union in eine Krise, von der sie sich seither nicht erholt hat. Die Befürchtung der beiden Wiener war also schneller eingetreten als erwartet und der Titel ihres Buches obsolet geworden.
Sie mussten einen neuen Ansatz suchen und fanden diesen in einer sachlich fundierten, politisch abgewogenen und sehr gut formulierten Analyse der Probleme, Herausforderungen, Schwierigkeiten und Widerstände, denen sich die EU gegenübersieht. Der schließlich gewählte Titel "Europa - Der Staat, den keiner will" erscheint allerdings etwas deplaziert, da eigentlich niemand - auch nicht die überzeugten Anhänger der europäischen Integration - die Weiterentwicklung der EU zu einem Staat anstreben, der letzten Endes zur Überwindung der Nationalstaaten führen könnte.
Fischler und Ortner machen auch nicht den Versuch, einen Ausweg aus der Krise der EU aufzuzeigen, wie dies seit Mai 2005 von zahlreichen Politikern immer wieder geschieht. Bekanntlich will ja die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 eine Lösung in der Verfassungsfrage vorbereiten. Der frühere Kollege von Fischler in der EU-Kommission, Günter Verheugen, hatte in seinem im Herbst 2005 erschienenen Buch unter dem Titel "Europa in der Krise" gar eine Neubegründung der europäischen Idee" gefordert.
Die österreichischen Autoren beschreiben den "wenig erquicklichen" Zustand der EU von seinen Ursachen her, um dann mögliche Auswege aufzuzeigen. Sie befassen sich vor allem mit den oft irrationalen Argumenten, Vorurteilen, Klischees und Gefühlen gegenüber dem europäischen Projekt. Insofern tragen sie zu einer Versachlichung und zu einem realistischen Verständnis der Aktionsmöglichkeiten der EU bei. Sie tun dies auf eine originelle Weise, indem sie in zehn Kapiteln jeweils zehn Fragen stellen oder Postulate formulieren, um diese dann analytisch aufzulösen.
So wird gleich im ersten Kapitel die "schizophrene Wirtschaftspolitik" behandelt: einerseits wolle man der "wettbewerbsfähigste Kontinent" der Welt werden, anderseits wolle man den Sozialstaat des vorigen Jahrhunderts erhalten. Es wird auch die Frage gestellt, was die Bevölkerung davon hätte, wenn es einen europäischen Außenminister gäbe. Oder ob deutsche und österreichische Soldaten eines Tages auf Befehl Brüssels in den Krieg ziehen müssen? Bei diesem Kapitel geht die Kritik der Verfasser allerdings etwas zu weit. Ihre Behauptung, der zweite Arm der Außenpolitik, die europäische Sicherheitspolitik, sei nicht vorhanden, übersieht die Tatsache, dass gemeinsame Streitkräfte unter EU-Flagge bereits seit Jahren in mehreren Ländern und Regionen außerhalb der EU im Einsatz sind, etwa auf dem Balkan oder aktuell im Kongo.
Die Verfasser vermissen im heutigen Europa überzeugungsstarke politische Führungspersönlichkeiten, die auch bereit sind, ein Risiko auf sich zu nehmen und ihren Völkern zu erklären, warum sie sich für eine in ihren Augen richtige Entscheidung zur europäischen Integration einsetzten. Diese Politik müsse allerdings transparent und nachvollziehbar sein. Als Beispiel wird an die Führungsrolle von Helmut Kohl, François Mitterand und Jacques Delors bei der Durchsetzung des EU-Binnenmarkts, dem freien Reiseverkehr (Schengen-Abkommen) oder bei der Einführung des Euro erinnert.
Alles in allem eine sehr instruktive Lektüre für alle, die am Schicksal unseres Kontinents interessiert sind. Man merkt dem Buch an, dass es von einem Insider der EU und von einem erfahrenen Journalisten verfasst wurde. Der frühere Präsident der EU-Kommission, Jacques Santer, bezeichnet das Buch in seinem Vorwort als einen wichtigen Beitrag zur derzeitigen Nachdenkphase in der EU.
Franz Fischler / Christian Ortner: Europa - Der Staat, den keiner will, Ecowin Verlag, Salzburg 2006; 224 S., 19,90 Euro.