Just an dem Tag, als die Kieler SPD-Ministerin Ute Erdsiek-Rave als Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) den Plan zur Einrichtung einer bundesweiten Schülerdatei samt Identifikationsnummer für jeden Schüler verkündet, bekommt die KMK einen Preis verliehen, den man lieber nicht erhält: Den BigBrotherAward (BBA), einen Preis, der jährlich - in diesem Jahr war es der 19. Oktober - an die verliehen wird, die man als "Datenkraken" bezeichnet. Das Ergebnis einer zentralen Schülerstatistik könne sein, so die BBA-Organisatoren, junge Leute nicht zu unterstützen, "sondern zu selektieren". Es drohe ein "Datenschutz-GAU".
Wegen der Schülerdatei machen auch Datenschützer, Lehrergewerkschaften und Elternsprecher gegen die KMK mobil. Die Kritiker sehen eine weitreichende Durchleuchtung, Kontrolle und Stigmatisierung von Jugendlichen heraufziehen. Gleichwohl, auch in den Reihen der KMK zeigen sich Risse. Letztlich spielt sich der Konflikt quer zu den parteipolitischen Fronten ab. Die Befürworter argumentieren, nur mit Hilfe einer Datensammlung bei mehr als zwölf Millionen Schülern die nötigen Erkenntnisse für Verbesserungen im Bildungswesen erhalten zu können. Ute Erdsiek-Rave begründet die Schülerdatei mit dem Ziel: "Wir wollen nicht den gläsernen Schüler, sondern die gläserne Schule." Nach ihrer Auffassung sei man bislang unzureichend über die "sozioökonomischen Hintergründe und Bildungsverläufe der Schüler" informiert: "Wir wissen immer noch nicht exakt, wie viele Schüler aus armen Familien tatsächlich den Weg zum Abitur schaffen."
Baden-Württembergs CDU-Kultusminister Helmut Rau will "eine ganz wichtige Lücke in der Bildungsforschung schließen". Die gigantische Datensammlung soll das Schulsystem transparenter machen, den gesamten Verlauf aller individuellen Bildungskarrieren dokumentieren, Leistungen und Misserfolge der Heranwachsenden erfassen, eventuelle Probleme beim Wechseln der Schulformen aufzeigen sowie den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulabschlüssen offenlegen. Die KMK will eine ganze Menge wissen. Bundesweit zentral gespeichert werden sollen etwa Geburtsdatum und -ort, Schul- und Wohnortwechsel, die besuchten Schulformen, Versetzungen, Sitzenbleiben und Wahlfächer. Selbst in den persönlichen Bereich, und das ist besonders heikel, greifen die Nachforschungen ein: Wie steht es um die soziale Stellung der Eltern, woher stammen sie, welche Umgangssprache wird in der Familie gepflegt?
Erdsiek-Rave betont, man wolle Datenschutz-Bestimmungen einhalten. Laut KMK sollen die über die einzelnen Schüler ermittelten Erkenntnisse letztlich anonymisiert in den zentralen Datenpool einfließen. Allerdings bekommt nun mal jeder Erstklässler für viele Jahre eine Kennziffer, unter der die persönlichen Daten erfasst werden. Sollen möglicherweise außer den Schulstatistikern auch andere Stellen Einblick in die sensiblen Informationen erhalten, etwa Sozialversicherungen, Arbeitsagenturen, Ausländerbehörden, Sozial- und Finanzämter, Universitäten? Aus Sicht der BBA-Organisatoren fehlt bislang das, was in der Fachsprache "Zweckbindung" genannt wird: Dass präzise festgelegt wird, wer auf welche Daten Zugriff hat und wer nicht.
Auf Ablehnung stößt die Schülerstatistik beim Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar. Der Wunsch nach besserem Durchblick im Bildungswesen rechtfertige nicht die Erstellung einer Individualdatei, kritisiert er. Besonders fragwürdig sei die Erfassung des familiären Hintergrunds eines jeden Schülers. Schaar sieht in Stichproben und Forschungsprojekten eine Alternative zur zentralen Datensammlung. Es sei nicht erkennbar, meint Schaars nordrhein-westfälische Kollegin Bettina Sokol, wieso die bisherigen Methoden der Schulstatistik nicht ausreichen sollen.
"Schüler brauchen keine Hundemarken", sagt GEW-Vorsitzender Ulrich Thöne. "In einer Demokratie haben sie das verbriefte Recht auf informationelle Selbstbestimmung." In der KMK ist sogar eine Nummer für jeden Lehrer im Gespräch. Christiane Staab, Vorsitzende des baden-württembergischen Elternbeirats, verlangt, mehr Geld in die Bildung statt in Datenerhebungen zu stecken: "Es werden immer mehr Informationen gesammelt, deren Erkenntnisse jedoch nicht umgesetzt werden."