Auf den ersten Blick ist der Raum ein wenig enttäuschend: Schlicht und funktional ist er eingerichtet, mit einfachen weißen Tischen, kahlen Wänden und einem Regal. In den Blick fallen die klobigen Mikrofilm-Lesegeräte. Von klassischer Archivatmosphäre mit vollgestopften Regalen, Holzschreibtischen und grünen Glaslampen ist der öffentliche Lesesaal des Jüdischen Museums weit entfernt. Im dritten Stock des Libeskind-Baus in der Berliner Lindenstraße geht es nicht um Gemütlichkeit, im Mittelpunkt steht Funktionalität. Wer sich jedoch daran macht, die Schätze zu bergen, die das Archiv bereithält, der vergisst die Umgebung um sich herum schnell.
2.000 Mikrofilme stehen den Besuchern der deutschen Dependance des Leo Baeck Instituts (LBI) zur Verfügung, mehr als 1.200 Memoiren und über 18.000 Fotografien. Doch hinter den beeindruckenden Zahlen steckt mehr: Das Archiv enthält private und öffentliche Dokumente, literarische Nachlässe, Familien- und Geschäftsurkunden, die Einblick in nahezu alle Lebensbereiche der deutsch-jüdischen Geschichte geben. Dies ist das Anliegen des Leo Baeck Instituts - hier soll eine ins Exil getriebene Kultur dokumentiert werden. Georg Heuberger, Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt am Main und Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts: "Das LBI ist ein historisches Forschungsinstitut, dessen Anliegen es ist, das deutsch-jüdische Erbe zu erhalten; das, was vor 1933 als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnet wurde."
In dieser Aufgabe ist die deutsche Dependance, die 2001 im Jüdischen Museum eingerichtet wurde, allerdings nur eine Zweigstelle: Der Hauptsitz des Instituts befindet sich in New York, in Jerusalem und London werden weitere Arbeitszentren unterhalten. "Die Arbeitszentren wurden dort eingerichtet, wohin die meisten deutschen Juden nach 1933 emigriert waren", erklärt Frank Mecklenburg, Director of Research und Chief Archivist der New Yorker Einrichtung, die ihren Sitz im Center for Jewish History hat. Dort haben sich fünf bedeutende Institutionen der jüdischen Geschichte räumlich zusammengeschlossen: das LBI, die American Jewish Historical Society, die American Sephardi Federation, das Yeshiva University Museum und das YIVO Institute for Jewish Research. Mecklenburg ist der Hüter der LBI-Bibliothek in der 16. Straße in New York, die mit mehr als 70.000 Bänden über die weltweit umfangreichste Spezialsammlung zur Geschichte des deutschsprachigen Judentums verfügt. Ein Großteil dieser wertvollen historischen Schätze ist mittlerweile auf Mikrofilm archiviert, viele der Originale stellt das LBI Museen für Ausstellungen zur Verfügung.
Wie erfolgreich und wichtig die Arbeit des Instituts sein würde, hatte bei seiner Gründung im Jahr 1955 wohl niemand ahnen können. Das Anliegen der zum Exil gezwungenen Gründer des Instituts - unter ihnen Martin Buber, Max Grunewald, Hannah Arendt und Robert Weltsch - war es, die verstreuten Reste ihrer zerstörten Kultur zu retten und so viel Material wie nur irgend möglich zu retten, um es als Zeugnis ihrer wechselvollen Geschichte zu bewahren. Zum ersten Präsidenten der Einrichtung ernannten sie den Rabbiner Leo Baeck. Er wurde 1873 in Lissa geboren, wirkte ab 1912 als Rabbiner in Berlin und hielt Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Während der Zeit des Nationalsozialismus war Baeck Leiter der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Der liberale Rabbiner, der vielen Juden die rechtzeitige Auswanderung ermöglichte, wies selbst alle Angebote, zu emigrieren und im Ausland zu lehren, entschieden zurück. 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert. Auch dort kümmerte er sich - als Mitglied des Ältestenrates - unter schwierigsten Bedingungen um die Gemeinde. Nach dem Krieg lebte Baeck als Präsident der "Weltunion für Progressives Judentum" in London und unterrichtete außerdem am Hebrew Union College in Cincinnati.
Leo Baeck hatte den Holocaust überlebt - seine Hoffnungen, dass dies auch der deutschen jüdischen Kultur gelungen sein könnte, waren jedoch gering. 1945 schrieb er deshalb: "Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen.
Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung ein Segen werden können. Dies war eine Illusion - die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für allemal vorbei."
"Das", so Frank Mecklenburg, "ist in gewisser wahr. Das deutsche Judentum, so wie es vor 1933 existiert hatte, gab es 1945 nicht mehr. Und doch gibt es heute jüdisches Leben in Deutschland. Die deutsche jüdische Gemeinde ist die weltweit am stärksten wachsende. Die Nationalsozialisten haben nicht gewonnen." Dafür sorgt inzwischen das LBI - mit der Hilfe Überlebender und ihrer Angehörigen. "Erstaunlicherweise haben wir mit immer größerem Abstand zum Holocaust immer mehr Zustrom an Materialien. Die Angehörigen verstorbener ehemaliger deutscher Juden bringen uns die Nachlässe, weil es ihnen wichtig ist, dass die Sachen gesammelt und gewürdigt werden."
Das bestätigt auch Manfred Wichmann, Mitarbeiter der Historischen Sammlung im Jüdischen Museum Berlin. "Das Archiv bekommt pro Jahr zwischen 400 und 500 Stiftungen. Oft ist es ja so, dass die Angehörigen der Emigrierten in der zweiten oder dritten Generation kein Deutsch mehr sprechen oder die altertümliche Schrift nicht lesen können. Sie wollen dann, dass die Sachen in diese wichtige Sammlung aufgenommen werden. Die Überlebenden selbst wiederum begrüßen es, dass ihre Dokumente jetzt durch die Berliner Dependance auch wieder nach Deutschland kommen. Nur sehr wenige haben mit dieser Rückkehr Probleme."
Obwohl die Dokumente, die den Holocaust betreffen, in der Sammlung breiten Raum einnehmen, stehen sie nicht im alleinigen Mittelpunkt. Für Carol Kahn Strauss, Executive Director des Leo Baeck Instituts, eine Selbstverständlichkeit: "Diese Periode umfasst 13 Jahre einer 250-jährigen Geschichte. Man kann die deutsch-jüdische Geschichte aber nicht verstehen, wenn man sich allein darauf konzentriert. Gerhard Schröder hat recht, wenn er sagt, man dürfe nicht nur das Furchtbare, sondern müsse auch das Fruchtbare sehen. You know?"
Der kleinen Frau mit der großen Brille ist es ein Herzensanliegen, dass mittlerweile so viele Menschen das Archiv des LBI nutzen. "Das sind natürlich Leute, die Genealogie betreiben. Aber es kommen auch viele, die an Literatur, Architektur, Musik oder Feminismus interessiert sind und mit unseren Dokumenten arbeiten. Es muss nicht immer um Einstein gehen - die Juden haben einfach alle Lebens- und Wissenschaftsbereiche geprägt. Sie sind ein bedeutender Teil der deutschen Geschichte."
Susanne Kailitz ist Volontärin bei der Wochenzeitung "Das Parlament".