Eigentlich wartet man schon längere Zeit auf einen Innovationsschub in der Soziologie, der sich endlich wieder an einem Gegenstand festmacht. Von Systemtheorie und der französischen Postmoderne eher zur Verzweiflung gebracht, greift man mit einer gewissen Erleichterung nach "Generationen" als einem wohlbekannten Grundbegriff. Er reicht zurück in die klassische Soziologie, und die Herausgeber des gleinamigen Bandes, Ulrike Jureit und Michael Wildt, scheinen einen großartigen Text von Karl Mannheim aus dem Jahre 1928 dem Vergessen entreißen zu wollen - aus aktuellem Anlass, wie sie versichern.
Mit Errichtung des modernen National- und Sozialstaates ist das "genealogische" System sozialer Sicherung - Kinder erhalten einmal alte Eltern und werden deshalb in ausreichender Zahl in die Welt gesetzt - nun kollektiviert und bürokratisiert. Um ihm den Anschein des Vertrauenswürdigen zu geben, sprach man bald von "Vater Staat". Der hat, anders als der leibliche Vater, ein ewiges Leben. Die Familie erlebte ihren ersten Funktionsverlust: "Nicht Herkunft und Abfolge regelt die Bande von Blut und Besitz, sondern Versorgung und Versicherung", so Heinz Bude.
Aus dem Eltern-Kinder-Verhältnis und den zeitlich nacheinander eintretenden Versorgungsverpflichtungen ist nun ein anonymes, horizontales, das heißt gleichzeitiges Verhältnis von Versorgungsansprüchen und entsprechenden Leistungen geworden: Eine aktive und eine im Ruhestand befindliche Generation stehen sich in Handreichung gegenüber - allerdings nur auf dem Papier staatlicher Finanz- und Sozialbürokratie. Sie erfahren sich nicht mehr sinnlich, sondern nur noch über Medien und Gruselmärchen vom Krieg der Generationen.
In 14 Beiträgen nehmen sich die Autoren der Probleme des heutigen Generationenbegriffs an und scheinen nichts auslassen zu wollen. Da ist die Frage der Dauer einer Generation, nach äußeren Anlässen und inneren Erlebnissen der unter demselben Stern Geborenen. Sie verleihen eine bestimmte Weltsicht, die ihr eigenes Tun und Lassen beeinflusst und das sie als Generation gegenüber der vorhergehenden und nachfolgenden hervorhebend dürfte.
Im Zentrum stehen die aktiven Generationen im fiktiven Generationenvertrag, wonach sie für das Altenteil der vorangegangenen zu sorgen und die nachwachsende Generation über Familiengründung rechtzeitig (!) in die Welt zu setzen haben. Daran wird sich ein neues Charakteristikum von Generationen ergeben: Unter welchen Bedingungen erfüllen sie diese Aufgabe und warum erfüllen sie sie "immer schlechter", indem sie nach beiden Seiten nachlassen, ersichtlich an Rentenkürzungen "oben" und am Geburtenrückgang "unten".
Die frühen Versprechungen Bismarcks von der Sorgenfreiheit drohen sich unter der Säge "demografischer Wandel", Arbeitslosigkeit, steigender gesetzlicher Ansprüche und Flexibilität, die eine partnerschaftliche Kindererziehung erschwert, wechselseitig zu verstärken und den Wohlfahrtsstaat nach 120 Jahren zu strangulieren.
Das Werk schildert Sichtweisen von Generationen als zeitgebundenem Selbstverständnis unter psychischen, sozialpolitischen und historischen Ansätzen. Es schildert außerdem Arbeitsweisen mit dem Generationskonzept, das trotz seiner schwierigen Umfangsbestimmung eine zeitgeschichtliche Lücke füllt. Es ist schwer, einzelne Beiträge oder Autoren gesondert hervorheben zu wollen. Trotzdem seien Kurt Lüscher, Rainer Lepsius und der Heinz Bude genannt.
Wollte man von diesem Werk und seiner Thematik auf einen Trend in der Soziologie schließen, dann wird es zweifellos das sozialpolitische Verhältnis von erstmals vier gleichzeitig lebenden Generationen sein. Aus Geschwistern wurde ein anonymes Aggregat. Es wird zusammengehalten von Erlebnis, Schicksal und von der Verpflichtung, als Aktive den Sozialaufwand zu erwirtschaften.
Nun zehrt unsere Zivilisationsstufe schon seit einer Generation von seiner Humansubstanz und erzwingt eine Art Bevölkerungspolitik. Die Autoren umgehen das Problem, dass die deutschen Generationen ab jetzt um ein Drittel schrumpfen und mit ihren "Ergänzern" von außen recht wenig Erlebnis und Schicksal teilen und nur schwer eine gemeinsame "Zeitheimat" aufbauen können. Heinz Bude erkennt offenbar die neue Schwierigkeit und sieht - kühn, aber unausweichlich - in Generation eine "biopolitische" Kategorie.
Den Autoren ist mit "Generationen" ein zeitgeschichtlicher Ansatz zu einer sozialen Existenzfrage gelungen.
Ulrike Jureit / Michael Wildt (Hrsg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburger Edition, Hamburg 2005; 354 S., 35,- Euro