Was ist ein Gen? Streng lexikalisch fällt die Definition nicht weiter schwer. Es handelt sich um jene Abschnitte auf den Chromosomen, die den Code zur Herstellung lebenswichtiger Eiweiße oder "Proteine" enthalten. Aber wie funktioniert das überhaupt, dass ein Gen die in ihm verborgene Information in ein Protein übersetzt? Damit fangen die Probleme schon an. In jeder unserer rund hundert Billionen Körperzellen steckt die nahezu vollständige Erbsubstanz. Trotzdem sind in Muskeln, Herz, Nieren und Leber nur die dort und nicht andernorts benötigten Proteine aktiv. Wer knipst die jeweils zuständigen Gene an, wer schaltet sie wieder aus?
Fragen über Fragen türmen sich auf, seit Wissenschaftler die Genome unterschiedlichster Lebewesen entziffern. Seit dem vorigen Jahr wissen wir, dass der Mensch genetisch zu 98,8 Prozent dem Schimpansen gleicht. Von Ratten, Mäusen, Fruchtfliegen, Fadenwürmern, selbst von der Bäckerhefe sind wir hinsichtlich unserer genetischen Ausstattung teilweise kaum zu unterscheiden. Offenbar müssen weitere Faktoren hinzukommen, sonst könnten gleiche Gene ihren Zweck kaum in so unterschiedlichen Lebewesen wie Menschen, Säugetieren, Fischen und Insekten erfüllen.
Wie viele Gene hat der Mensch überhaupt? Noch bis vor kurzem schätzte man die Zahl auf 70.000 bis 140.000. Dann sollten es nur noch 30.000 bis 40.000 sein. Inzwischen geht man von 20.000 bis 25.000 aus - etwa so vielen wie beim Grünen Kugelfisch. Manche Genen haben - je nach dem, wie man sie aus der Erbmasse schneidet - 20 oder 30 Varianten.
Gene leben nicht auf einsamen Inseln, sie arbeiten in Gruppen zusammen, beeinflussen sich wechselseitig, sind zersplittert in viele, teils weit auseinander liegende Einzelstücke, ohne dass sich ein "Anfang" und "Ende" eindeutig feststellen ließe. Je präziser man die Merkmalsträger heute zu beschreiben versucht, die von Gregor Mendel (1822-1884) entdeckt und von dem Dänen Wilhelm Johannsen 1909 als "Gene" bezeichnet wurden, desto schwerer lassen sie sich dingfest machen.
Ein nacktes Gen, bliebe es sich selbst überlassen, könnte sich nicht vervielfältigen und auch keine Proteine erzeugen, ohne die es wiederum keine Zellen, biochemischen Reaktionen und Nervenimpulse gäbe. Das so genannte "Proteom" ist ein ungleich vielfältigeres, diffizileres und dynamischeres Gebilde als das "Genom". Aus ein und demselben Gen können bis zu 20 verschiedene Eiweiße entstehen. In einer einzelnen Zelle arbeiten bis zu 40.000 unterschiedliche Proteine. Über ihre endgültige Gestalt, ihre Faltungsmus-ter und damit ihre Funktion entscheidet nicht der in den Genen festgeschriebene Code für die jeweilige Abfolge von Aminosäuren, sondern das gesamte Zellmilieu mit all seinen Eiweißen, Hormonen und sonstigen Bestandteilen.
Gene enthalten zwar die Baupläne für die Proteine. Sie brauchen ihrerseits aber Schalter ("Promotoren"), die sie aktivieren oder deaktivieren, und spezielle Eiweiße ("Histone"), von denen sie bei Bedarf aus dem Chromosom ausgepackt und wieder eingepackt werden. Steuerelemente regulieren die Intensität, mit der sie arbeiten. Kaum zu überschätzen in ihrer Bedeutung sind auch die so genannten "Mikro-RNAs", die erst unlängst ins Blickfeld rückten. Bei diesen Minigenen mit nur 19 bis 25 Basenpaaren geht es überhaupt nicht um die Herstellung von Proteinen. Ihre Aufgabe besteht ausschließlich darin, die Aktivität anderer Gene zu steuern. Es soll fast 2.000 davon im menschlichen Erbgut geben, wenn nicht mehr.
Nur von einem kleinen Teil der menschlichen Gene kennt man bislang die biologische Funktion. Vom Verständnis ganzer Lebenszusammenhänge ist die Wissenschaft Lichtjahre entfernt. Selbst die einzelne Zelle ist letztlich noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Nur die wenigsten Krankheiten lassen sich auf einzelne genetische Ursachen zurückführen. Monokausale oder genauer "monogene" Erbkrankheiten sind extrem selten.
Bei Volkskrankheiten wie Krebs oder Herzinfarkt wurden teilweise weit über 100 beteiligte Gene aufgespürt. Der Mythos einer vollständigen "Übersetzung" des genetischen Codes im Sinne einer linearen Kausalität hat ausgedient. Gene sind nicht die Lego-Bausteine, mit denen sich beliebig hantieren ließe. "Komplexität" heißt heute unter seriösen Wissenschaftlern das Zauberwort. Oder, wie es Ernst Peter Fischer, Wissenschaftshistoriker an der Universität Kons-tanz, einmal treffend formulierte: "Das Gen zerfällt in der Hand derer, die es fassen wollen."
Sogar bei eineiigen Zwillingen hat sich der Einfluss der Gene als deutlich begrenzter erwiesen als lange angenommen wurde. Zwei beliebige Menschen stimmen in ihren genetischen Bauplänen zu 99,9 Prozent überein. In einer zweiten Phase des internationalen "Humangenomprojekts" wird nun im Erbgut verschiedener Menschen nach "punktuellen Variationen" gesucht. Etwa alle 500 bis 1.000 Bausteine finden sich solche so genannten SNPs ("Single Nucleotide Polymorphisms"), die dafür verantwortlich sein könnten, dass der eine Mensch zum Beispiel für Diabetes, der andere für Alzheimer anfällig ist, und ein Medikament beim einen gut wirkt, beim anderen dagegen nicht.
Bleibt noch ein letztes großes Geheimnis. Nicht mehr als drei Prozent der rund 3,2 Milliarden Bausteine, aus denen das zur Doppelhelix verschraubte Erbmolekül besteht, wird überhaupt in Proteine übersetzt. Beim verbleibenden "Rest", also bei etwa 97 Prozent der menschlichen Erbmasse, handelt es sich um monotone Buchstabenfolgen, deren Bedeutung noch weithin im Dunkeln liegt.
Irene Meichsner arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Köln.