Etwa 30.000 Gene hat der Mensch. Und das, was sich eines Tages aus ihnen lesen lässt, wird wohl ebenso komplex sein wie das, wofür diese Gene eigentlich die Bauanleitung liefern: den menschlichen Körper. Es sind zumeist winzige Änderungen, in denen die wichtige Information für Ärzte und Patienten steckt. Viele von ihnen haben keine erkennbare Auswirkung, aber andere sorgen für die Unterschiede zwischen den Menschen, etwa die Hautfarbe oder das Auftreten von Nebenwirkungen bei Medikamenten. Und einige solcher Veränderungen in den Genen verursachen leider auch Krankheiten.
Es sind die drastischen Fälle, die Aufmerksamkeit erregen. Da ist zum Beispiel jene kleine Veränderung in einem Gen auf Chromosom 4, die so dramatische Folgen hat. Wer diese Mutation von einem Elternteil geerbt hat, wird mit hundertprozentiger Sicherheit an der Chorea Huntington erkranken, bei der das zentrale Nervensystem zerstört wird. Früher hieß die Huntington'sche Krankheit Veitstanz, weil die Betroffenen häufig unwillkürliche, ungelenke Bewegungen machen und sich obendrein noch ihr Wesen verändert. Heute können Ärzte aus der Art dieser Genveränderung auf Chromosom 4 sogar recht genau vorhersagen, in welchem Alter die Krankheit ausbrechen wird. Gleichzeitig hilft die Diagnose nicht weiter. Denn die Huntington'sche Krankheit lässt sich nicht behandeln. Es gibt keine Prophylaxe und auch sonst nichts, was den Patienten helfen könnte. Im Spätstadium können nur die Symptome gemildert werden.
Doch so schwerwiegend die Kenntnisse über die genetische Grundlage der Chorea Huntington für die Betroffenen auch sind: Das Beispiel dieser schweren und nicht therapierbaren Erbkrankheit gehört zu den Extremen. Bis heute gibt es im medizinischen Bereich kaum Gentests, die so eindeutige Urteile fällen können. Detlev Ganten, der Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité und frühere Leiter des Max-Delbrück-Centrums für molekulare Medizin in Berlin-Buch, erwartet, dass bis 2010 in die Zukunft blickende Gentests für gerade mal ein Dutzend Krankheiten breite Anwendung finden werden. Dabei geht es um Leiden wie die Eisenspeicherkrankheit oder die Mukoviszidose, bei der die Lunge so stark verschleimt, dass die Patienten zu ersticken drohen, aber auch um die Bluterkrankheit, die Sichelzellenanämie oder manche Formen der Muskeldystrophie.
All diese Krankheiten beruhen auf einem Defekt in einem einzigen Gen. Die meisten Leiden aber haben keine so einfache Ursache. Zwar gehen Wissenschaftler inzwischen davon aus, dass vier Füntel aller Krankheiten genetisch bedingt sind. Aber es müssen zahlreiche Veränderungen im Erbgut zusammenkommen, damit ein Mensch Herzrhythmusstörungen oder Parkinson bekommt. Vor kurzem haben Wissenschaftler ein Gen gefunden, das offenbar bei jedem fünften Patienten mit Altersdiabetes den entscheidenden Beitrag zu der Erkrankung leistet. Das Risiko für Zuckerkrankheit erhöht sich durch das Gen auf das Zweieinhalbfache. Kein erdrückendes Risiko, und doch haben Humangenetiker diese Entdeckung groß gefeiert, weil es das erste Mal war, dass sie genetische Ursachen einer echten Volkskrankheit finden konnten.
Wenn der Blick ins tiefe Innere des Menschen auch mulmige Gefühle hervorruft: Informationen über die Gene können Leben retten. Wer weiß, dass ihm aufgrund seiner Gene bald Diabetes droht, isst womöglich bewusster als jemand, der zu einer gesunden Ernährung angehalten wird, ohne dass ihm akut Leid ins Haus steht. Ähnlich verhält es sich mit einem vor kurzem entwickelten Gentest, der bereits Jahre oder sogar Jahrzehnte vor dem Ausbruch einer Darmkrebserkrankung an geringfügigen Änderungen eines Gens erkennen kann, wie hoch das Risiko für diesen Krebs ist. Wer sich testen lässt - etwa weil schon der Vater und der Großvater an Darmkrebs gestorben sind - und in seinem Erbgut eine solche Veränderung findet, wird vermutlich in kurzen Abständen zur Krebsfrüherkennung gehen. Anhand von Stuhlproben lässt sich der Krebs dann im günstigsten Fall schon im Frühstadium erkennen und meist auch heilen.
So schicksalhaft die Diagnose von Gentests häufig ist, so schnell sind inzwischen die Tests. Wer im Erbgut nach etwas sucht, benötigt lediglich eine Blutprobe. Theoretisch lässt sich der Gesundheitszustand eines Menschen auch aus dem Urin oder aus dem Speichel lesen. Doch das Blut enthält von diesen Körperflüssigkeiten die meisten Zellen und damit auch das meiste Erbgut. Um das Erbgut zu analysieren, wird es zunächst aus den Zellen herausgelöst. Dann werden die interessanten Abschnitte mit Hilfe der Polymerase-Ketten-Reaktion vermehrt und können zum Beispiel mit Hilfe eines Sequenziergeräts im Detail gelesen werden.
Für jene Gene aber, die besonders häufig untersucht werden, gibt es bereits kleine Hightech-Tests, die so genannten DNS-Chips. Auf ihnen können tausende Gene in einem einzigen Arbeitsgang untersucht werden. Anwendung finden diese Chips aber weniger in der Diagnostik von Krankheiten. Zwar hat sich die Zahl der Krankheiten, für die Mediziner einen genetischen Hintergrund gefunden haben, seit 1970 von 1.600 auf etwa 16.000 Störungen verzehnfacht. Doch die möglichen Ansätze für allerlei Leiden wollen weder Ärzte noch Patienten in einem spontanen Mega-Check kontrolliert wissen, zumal der Zusammenhang mit den Krankheiten meist noch vage ist.
DNS-Chips werden vielmehr meist in einem anderen Medizinfeld eingesetzt: der so genannten personalisierten Medizin. Sie sollen dabei helfen, die richtige Therapie für einen Patienten zu finden. Zwar sind die meisten Medikamente heutzutage sehr wirksam und auch ziemlich sicher. Aber immer wieder kommt es auch zu schweren Nebenwirkungen. "Ein Hauptproblem der Medizin besteht darin, dass Tabletten alle gleich sind, Menschen aber alle verschieden", sagt Detlev Ganten. "Mit ein und demselben Medikament werden tausende und hunderttausende von Patienten behandelt, von denen jeder ein individuelles Erbgut hat, das zu einer individuellen Krankheitsausprägung und einer individuellen Reaktion auf die Therapie führt." Gentests könnten in manchen Fällen helfen, Wirkung und Nebenwirkung vorauszusagen und die Dosis anzupassen.
"Ein zweites Problem der bisherigen Medizin ist, dass nicht nur Menschen, sondern auch Krankheiten verschieden sind", sagt Ganten. "Vieles, was zu ähnlichen Symptomen führt, wird oft unter einem Namen als eine Krankheit angesehen. Krankheiten wie Diabetes oder Brustkrebs sind jedoch, wenn man sich die Ursachen auf molekularer Ebene anschaut, nicht zwei, sondern Dutzende verschiedene Krankheiten."
So können vor allem Krebstherapien die Lebensqualität eines Patienten niederdrücken. Wenn von vornherein klar ist, dass eine Chemotherapie ohnehin nicht anschlagen wird, wäre es gut, sie dem Kranken zu ersparen. Auf dieser Idee beruht ein kommerzieller DNS-Chip der Firma Eppendorf, der sich allerdings noch in der Erprobungsphase befindet. Er soll dabei helfen, die richtige Therapie für Brustkrebspatientinnen auszuwählen. Denn wenn sich zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose noch keine Metastasen gebildet haben und die Lymphknoten noch nicht von der Krankheit befallen sind, ist für zwei Drittel der Frauen eine Operation ausreichend, sagt Cornelius Knabbe vom Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Die Patientinnen gelten als geheilt, sie brauchen keine Chemotherapie. Noch allerdings erkennen Ärzte nicht, welchen Patientinnen sie eine Therapie ersparen können. Womöglich, so Knabbe, verbirgt sich die Antwort in der genetischen Ausstattung des Tumors.
Der Brustkrebs-Chip testet mit seiner knapp zwei Quadratzentimeter großen Fläche 210 Gene, die wissenschaftlichen Studien zufolge als relevant für bestimmte Typen und Stadien von Brustkrebs gelten. Mit dem Chip wird bestimmt, welche der untersuchten Gene in der Tumorzelle einer Patientin wirklich aktiv sind, welche also in RNS umgeschrieben werden. Dazu wird die RNS der Tumorzellen isoliert und im Labor wieder in DNS umgeschrieben. Weil sich DNS gern an ihr Spiegelbild anheftet, befinden sich auf dem Brustkrebs-Chip 210 Spiegelbilder der relevanten Gene. Die umgeschriebenen Erbgutstückchen aus der Tumorprobe binden sich also an den Chip, sofern sich dort ihr Gegenpart befindet. Alle Erbgutstücke ohne Gegenpart werden mit speziellen Waschlösungen vom Chip gespült. Dann deckt ein Leser auf, wo es zur Bindung gekommen ist - und damit, welche Brustkrebs-Gene der Tumor nutzt.
"Womöglich kann man einem Teil der Patientinnen künftig nach einem Gen-Check Chemotherapien ersparen, ohne ihre Heilungschancen zu verringern", sagt Andreas Schneeweiss von der Universität Heidelberg. Der Brustkrebs-Experte warnt jedoch davor, Genprofile vorschnell dazu zu nutzen, über eine Therapie zu entscheiden. "Große Studien müssen die Verlässlichkeit solcher Tests erst noch bestätigen", fordert er.
Bereits in der Anwendung befindet sich ein DNS-Chip von Roche Diagnostics. Er ist allerdings sehr viel einfacher gebaut als der Brustkrebs-Chip: Auf seiner Glasoberfläche warten gerade mal 33 DNS-Fragmente von zwei Genen auf ihre Pendants aus den zu testenden Proben. Es handelt sich um Gene für das Stoffwechselenzym Cytochrom-P450, das eine Schlüsselrolle beim Abbau vieler Medikamente im Körper spielt. Patienten mit einem Defekt in diesen Genen bauen viele gängige Medikamente, beispielsweise blutdrucksenkende Betablocker, entweder zu langsam oder zu schnell ab. Die Genanalyse soll dem Arzt helfen, die Dosis dem individuellen Stoffwechsel des Patienten anzupassen.
Den Nutzen dieses Chips halten viele Ärzte allerdings noch für mäßig - vor allem, wenn es um längst etablierte Medikamente geht. Die mit dem Test nachweisbaren Genvarianten seien bei weitem nicht die einzigen Ursachen für Nebenwirkungen oder schlechte Wirkung, sagt Stephan Krähenbühl, Chefarzt für klinische Pharmakologie und Innere Medizin am Universitätsspital Basel. Schließlich spielten auch Umwelteinflüsse und Interaktionen mit anderen Arzneimitteln eine Rolle; und außerdem gebe es genetische Varianten auch bei anderen Stoffwechselenzymen, Transportmolekülen und Rezeptoren.
Der Anspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist in der Gendiagnostik somit noch hoch. Mit den Erfolgen der Kriminalisten, die etwa den Mörder Rudolf Moshammers binnen 48 Stunden schnappen konnten, oder den spektakulären Funden der Gen-Historiker, die die Überreste Anastasias im Zarengrab bei Jekaterinburg fanden, können Ärzte noch nicht so recht mithalten. Ihre Kenntnisse wachsen aber mit jedem Tag - und damit auch die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung ihres Wirkens, wie sie die rot-grüne Bundesregierung in den letzten Monaten ihres Wirkens nach langem Zögern in die Tat umzusetzen begann.
Christina Berndt ist Redakteurin bei der "Süddeutschen Zeitung".