Alfons Spiegel, 2004 gestorben, ist gescheitert mit seinem Ansatz, seiner Philosophie. Dabei hatte er damals noch großartige Journalisten in seinem Team, Reporter, Kommentatoren: Harry Valérien beispielsweise, der während eines Interviews vom ärgerlichen Fußballer Paul Breitner fast ins Wasser geworfen worden wäre - das Gespräch fand an einem Pool statt. Oder später Günther Jauch, Inquisitor mit Glacéhandschuhen, der sich arglos schauend und naiv fragend heranpirschte an seine Gäste. Also, Spiegels Jammern war ein Jammern auf hohem Niveau.
Der Fußball hat eine Bedeutung erlangt, die man hinterfragen könnte, müsste. Muss man einen Verein, der jämmerlich gewirtschaftet hat, mit Steuergeldern aufpäppeln, während das Inventar deutscher Schulen allmählich verrottet? Ist es richtig, dass ein Kicker bei Chelsea in einem Monat so viel verdient wie sein Vater in einem ganzen Leben? Oder: Ist es wirklich wichtig, wo der Bundestrainer wohnt; ist es wirklich wichtig, ob Herr Lehmann bei der Fußball-WM sich dem Niedergang entgegenstemmt oder Herr Kahn? Wäre nicht viel wichtiger, mal nachzuschauen, ob es gesellschaftliche Gründe gibt für den Niedergang des deutschen Fußballs? Die dicken Kinder, die vor dem Computer hocken statt wie früher auf der Wiese zu kicken. Die immer kleiner werdenden Grünflächen, vor denen immer dieses Schild steht: Betreten des Rasens verboten! Warum ist das kleine Land Schweden mit seinen acht Millionen Einwohnern den bräsigen Deutschen in vielen Sportarten so turmhoch überlegen?
Natürlich sind das sperrige Fragen, die die Masse des Publikums zum Umschalten veranlassen könnten. Deshalb sind sie vor der Weltmeisterschaft kaum öffentlich gestellt worden. Stattdessen schneiden sie im Fernsehen die großen Szenen zweier Torwarte zusammen und tun so, als ließe sich das große Dilemma einer satten, in Regeln erstarrten Nation nach Art des Hauses beantworten: Die Antwort liegt auf dem Platz.
Seit im Jahr 1984 das Privatfernsehen in Deutschland eingeführt wurde, prägen die kommerziellen Anbieter auch das Programm der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Die Zuschauer haben den Druck auf die Sender erhöht, er heißt jetzt Quotendruck und er fordert keine Qualität. Er fordert Unterhaltung. ARD und ZDF haben ihren alten Anspruch, das Publikum auch ein bisschen zu erziehen, in großen Teilen aufgegeben. Inzwischen erzieht das Publikum die Fernsehmacher. Ein ausführlich und geistvoll plaudernder Quizmaster wie Hans-Joachim Kulenkampff ist heute genau so wenig vorstellbar wie ein Sportjournalist Valérien, der damals drei Sendungen zum Thema Doping ins Programm genommen hat, gegen den Widerstand im eigenen Sender. Und er hätte aufgehört, wäre ihm die Aufklärungsarbeit verboten worden. Die sportkritischen Sendungen wie Sport unter der Lupe und der Sportspiegel sind längst aus dem Programm geflogen, geblieben sind Unterhaltungsformate.
Wenn ein brasilianischer Fußballer zu Gast ist, laden sie schon mal eine Rhythmusgruppe aus Rio ins Sportstudio ein, damit der Fußballer ein bisschen Samba tanzen kann. Die Interviewer sind mehr Conférenciers als Journalisten. Wolf-Dieter Poschmann filtert haspelnd jede Spitze aus seinen Fragen heraus, Michael Steinbrecher kommt samtener daher als früher der zarte Meister Dieter Kürten. Und der fast tägliche Quälgeist Johannes Baptist Kerner umkurvt mit seiner Kunst der sterilen Interviewführung bereits unter der Woche in seiner Talkshow jede Gelegenheit, Gästen Relevantes zu entlocken.
Kerner hat sein Handwerk in Sportredaktionen gelernt, wie sein ARD-Pendant Jörg Pilawa: Beide führen vor der WM durch unzählige Fußball-Shows, in der sämtliche alte Meister von Pierre Littbarski bis Klaus Fischer vor die Kamera gezerrt werden. Gern sitzt neben ihnen auf dem Showsofa dann die klassische C-Prominenz der deutschen Fernsehkultur: Verona Pooth und Oliver Pocher. Alles mischt sich, auf allen Kanälen ist der Fußball eine Show, oder die Show ist ein Fußball. Dann plaudert man über dies und das und versucht, die Vergangenheit zu beschwören und die Vorfreude auf die WM zu steigern. Dabei hält die sich in Grenzen beim Publikum, das teure Karten im Internet bestellen musste, um sich nach glücklich überstandenem Losverfahren vielleicht ein Spiel live ansehen zu können.
Das kommt in den Fernsehsendungen nicht vor, auch nicht das Machtgebaren der FIFA, die den Bäckern vorschreiben wollte, ihre Weltmeisterbrötchen während der WM nicht Weltmeisterbrötchen nennen zu dürfen.
Im Fernsehen leuchten die Conferenciers den Fußball - der in Wahrheit ein streng auf Kommerz getrimmtes Phänomen ist - als schönes Spiel aus, zeigen Panini-Bildchen aus eigener Sammlung und klingen dabei wie Märchenonkel.
Was also erwartet uns bei der WM? Die übertragenden Sender haben ihre Kommentatorenteams schon aufgestellt. Wir werden hören, wen wir immer hören, Beckmann im Ersten, Kerner im Zweiten. Wir werden sie ohohoh schreien hören, uiuiui und eieiei. Wir werden Franz Beckenbauers sinnfreie Analysen hören und sehen, wie Kollege Kerner fast in den Staub fällt, so stolz wird er sein, mit Beckenbauer "durch die WM zu führen", wie es ja immer heißt.
Franz Beckenbauer ist in seinem kritikfreien Umfeld zu einer Art nationalem Glücksmaskottchen aufgestiegen. Wenn man den Journalisten, die mit ihm zu tun haben, gelegentlich zuhört, kann man das Gefühl haben, im Angesicht des Kaisers gäben sie auch noch den letzten Rest ihrer Urteilsfähigkeit auf. "Wenn der Kaiser spricht, legen sogar die Engel ihre Harfen beiseite", hat der alte Fußballtrainer Max Merkel gesagt. Wahrscheinlich nehmen die Kritiker sich dann der Harfen an und säuseln dem Kaiser ein Lied. Einmal meckerte Beckenbauer, der leidigen Debatte um das Münchner Olympiastadion überdrüssig: "Am besten ist, wir sprengen das Stadion einfach weg. Es wird sich doch ein Terrorist finden, der für uns die Aufgabe erledigen kann."
Das Olympiastadion war 1972 Ort einer Gedächtnisfeier für neun Olympiateilnehmer aus Israel, die beim Attentat eines palästinensischen Kommandos und beim anschließenden Befreiungsversuch ums Leben gekommen waren. Ein Politiker hätte nach so einem Statement womöglich zurücktreten müssen, ein Maskottchen wie Beckenbauer kann sich alles herausnehmen. Weil es keine Kritiker gibt, oder weil sie kalkuliert den Mund halten.
Am Umgang mit Beckenbauer lässt sich das ganze Elend der Fernsehfußballjournalisten belegen; ihre Kritikunfähigkeit, ihre Zahnlosigkeit, ihre gespielte oder tatsächlich vorhandene Naivität. Seit Deutschland von der FIFA das Recht zugesprochen bekam, die WM 2006 zu veranstalten, gilt im deutschen Journalismus nicht nur der Leitsatz: Der Ball ist rund. Es gilt auch: Franz Beckenbauer hat die WM nach Deutschland geholt. Praktisch im Alleingang, wohlgemerkt.
Das hat mit der Wahrheit natürlich nichts zu tun, so eine WM-Bewerbung ist eine hochpolitische Angelegenheit, bei der es als letztes um Sport geht, sondern um Wirtschaft und Macht. Wie bei den Kandidaturen für Olympische Spiele werkeln Politiker und Botschafter und Geschwader von Imagefachleuten jahrelang an so einer Bewerbung. Der Philosoph Günter Gebauer sagt: "Es ist absurd zu glauben, da reist ein Franz Beckenbauer mit dem Golfschläger durch die Welt und zieht mal rasch eine Fußball-Weltmeisterschaft an Land. Solche Vorstellungen hatte man im 19. Jahrhundert von den Botschaftern - die fahren irgendwo hin, und schon hört der Krieg auf."
Aber die Geschichte von Franz, der übers Wasser laufen kann, klingt zu perfekt, deshalb wird sie von den Fernsehmenschen ja so entschlossen fortgeschrieben. Denn sie überhöht ein bisschen auch den, der ihm das Mikro vor die Nase halten darf.
Gibt es Aussicht auf Besserung? Bald wird die Weltmeisterschaft vorbei sein, vielleicht regeln sich die Fußball-Interpreten dann ein bisschen runter. Vielleicht wird der Fußball irgendwann nicht mehr so wichtig genommen. Vielleicht gehen auch die Männer im Fernsehen mit ihm irgendwann so um wie Katrin Müller-Hohenstein, die seit ein paar Monaten das Sportstudio moderieren darf und das mit bemerkenswerter Lässigkeit über die Bühne bringt. Sie ließ sich von Jürgen Klinsmann nicht irritieren, der sie Frau Müller-Wohlfahrt nannte und ihr damit listig mitteilen wollte: Du gehörst nicht hierher, nicht in unseren inneren Zirkel. Sie fragte ihn, nachdem er Jens Lehmann zur Nummer 1 im Tor gemacht hatte: "Wird Kahn die Nummer zwei sein?" Keine Antwort. "Sie hoffen darauf?" Klinsmann: "Wir werden sehen." Jürgen Klinsmann sah ein bisschen aus wie damals Paul Breitner, als er Valérien fast in den Pool geworfen hätte. Und Frau Müller-Hohenstein sah ein bisschen so aus, als orientiere sie sich voller Absicht in ihrer hartnäckig-direkten Fragetechnik an der Vergangenheit, die nicht nur in diesem Fall ein Stückchen besser ist als die Gegenwart.
Holger Gertz ist gelernter Sportjournalist, Seite-Drei-Reporter und Streiflichtautor bei der "Süddeutschen Zeitung".