Die boomenden Glitzerstädte im Reich der Mitte wie Shanghai, Chongqing oder Shenzhen sind nur die eine Seite der sich abzeichnenden dritten Weltmacht. Abseits des von der Partei geplanten Kapitalismus mit jährlichen Wachstumsraten um die zehn Prozent grassieren Armut, bittere Not und pure Verzweiflung. 900 Millionen Bauern, über zwei Drittel des 1,3-Milliarden-Volkes, leben in einer Parallelwelt, viele am Rande des Existenzminimums.
Das chinesische Schriftstellerehepaar Chen Guidi und Wun Chuntao war mehrere Jahre in der Provinz Anhui im Westen Shanghais und hat 50 Kreise besucht, um sich Klarheit über die Situation der dort lebenden Dorfbevölkerung verschaffen. Aufgeschrieben wurde, was ihnen Bauern, Wanderarbeiter, Parteikader, Dorfvorsteher, Regierungsbeamte und Spezialisten erzählt und gezeigt haben.
Die Reportage von Chen und Wu erschien erstmals 2003 als Vorabdruck in dem Literaturmagazin "Dangdai", kurz darauf als Buch in einem Pekinger Verlag. Als nach kurzer Zeit einige hunderttausend Exemplare verkauft waren, wurde das Buch in China verboten und jede Berichterstattung darüber untersagt. Inzwischen sollen einige Millionen Raubkopien kursieren. Im Oktober 2004 wurden die Autoren in Berlin für ihre brillante und mutige Reportage mit dem "Lettres Ulysses Weltpreis" ausgezeichnet, und Kanzlerin Angela Merkel ließ es sich nicht nehmen, anlässlich ihres China-Besuchs im Mai 2006 Wu und Chen in der deutschen Botschaft einen Empfang zu geben.
In der Mehrzahl der Dörfer Chinas ächzt die Landbevölkerung seit Jahren unter willkürlichen Steuern und Abgaben. Wer sich weigert, die von den Parteikadern angesetzten Gebühren zu zahlen, riskiert, geschlagen und gedemütigt zu werden. Wer es wagt, sich bei höheren Instanzen zu beschweren, muss mit Gefängnis und Folter, oft auch mit Mord und Totschlag rechnen, oder seine geringe Habe wird von Killerbanden geplündert, das Haus zerstört, die Felder verwüstet. Chen und Wu stellten fest, dass "viele Bauern dort bettelarm sind, viele nicht mehr besitzen als die nackten vier Wände, ein Leben so elend und erbärmlich wie nicht einmal in den ersten Jahren nach der Befreiung. Vom Getreideanbau allein kann man schon nicht mehr leben, und darüber hinaus haben die Bauern mehr Steuern und Abgaben am Hals als ein Ochse Haare."
Verantwortlich für die eklatante Notlage sind einerseits lokale Funktionäre, die sich vielerorten als Despoten und Schmarotzer verstehen, häufig unterstützt von Kreissekretären, die sich ebenfalls auf Kosten der Bauern bereichern wollen und vor kriminellen Maßnahmen nicht zurückschrecken. Andererseits wird vom Zentralkomitee der KPCh auf die Gemeinden, Kreise und Provinzen permanent finanzieller Druck ausgeübt, um den Boom in den Metropolen voranzutreiben. Wenn dann, weil auf der Scholle kein Auskommen mehr ist, die Bauern zu Millionen in die Städte flüchten und sich als Wanderarbeiter verdingen, werden sie dort zu Parias degradiert, die unterbezahlt in menschenunwürdigen Behausungen vegetieren, von den Stadtbewohnern verächtlich als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Glanz und Überfluss der Städte, so jedenfalls die bittere Erkenntnis der beiden Autoren, beruht zum erheblichen Teil auf "dem Schweiß und den Tränen zahlloser bäuerlicher Arbeiter". Die Volksrepublik China, die sich offiziell noch immer als sozialistisches Land ausgibt, ist zu einer lupenreinen Klassengesellschaft geworden, in der "die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden". Bereits vor einigen Jahren lag das Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land bei 6:1. Und obwohl das Dilemma von den Parteigremien inzwischen wahrgenommen und zugegeben wird, sind durchgreifende Reformen bis jetzt ausgeblieben oder im Sande verlaufen.
Chen und Wu halten es für äußerst bedrohlich, wenn auch weiterhin fast 70 Prozent der Bevölkerung von jeder Modernisierung, von Wohlstand und sozialer Anerkennung ausgeschlossen bleiben. Der Druck, den der Bauernstand ausgesetzt ist, hat bereits jetzt zu einem gefährlichen Anstieg der Kriminalitätsrate geführt, außerdem zu zahlreichen Aufständen, Demons-trationen und Übergriffen der Bauern und Wanderarbeiter. Nach Berechnungen der Weltbank lebt derzeit in China die weltweit größte Armutsbevölkerung, und das sind 150 Millionen.
Das Fazit der Autoren lautet deshalb: "Wenn die ländlichen Gebiete längerfristig von den Modernisierungen ausgeschlossen werden, dann ist es mehr als wahrscheinlich, dass die junge Bauerngeneration zu einem lebendigen Stabilitätsrisiko wird, was die Gefahr eines Bruchs zwischen Stadt und Land noch vergrößert." Mögliche Folge wäre eine Revolte gegen das bestehende Gesellschaftsgefüge.
Chen Guidi/Wu Chuntao: Zur Lage der chinesischen Bauern. Eine Reportage. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2006; 600 S., 39,90 Euro.