Bollywood-Streifen, benannt nach dem Sitz der Filmindustrie in der indischen Megacity Bombay, legen keinen Wert auf Authentizität und Realitätsnähe. Das populäre und unglaublich erfolgreiche Kino Indiens produziert Träume. Seit 70 Jahren sind es immer die selben: Sie handeln davon, dass die Welt doch gar nicht schlecht und ungerecht ist.
Shashi Tharoor geht offenbar nicht ins Kino, um zu träumen. Der in London geborene indische Autor mehrerer Sachbücher über Indien und hauptberufliche Mitarbeiter bei den Vereinten Nationen, einstiger Assistent von UN-Generalsekretär Kofi Annan, hat bereits vor 15 Jahren einen Roman geschrieben, in dem ein Filmheld die Hauptrolle spielt. Jetzt ist sein Buch, rechtzeitig zum großen Auftritt Indiens auf der Frankfurter Buchmesse, auf Deutsch erschienen. Der Titel ist so einfach zu merken wie die meisten Drehbücher dort: "Bollywood" heißt es.
Nur wenig komplizierter ist die Handlung des Buchs - hier ist Tharoor noch nahe an seinem Objekt. Ashok Banjara, ein weitgehend talentfreier Absolvent einer Eliteuniversität, setzt sich in den Kopf, Bollywood zu erobern. Ein wenig kommt es ihm zupass, dass sein Vater Minister für Textilproduktion ist, aber vor allem mit einer ordentliche Portion Glück schafft er den Aufstieg zu Superstar. Im Filmolymp angekommen, wird er zum Vorbild der armen Massen Indiens, die mit ihm eigentlich gar nichts gemein haben. So weit, so simpel.
Doch Tharoor ist daran gelegen zu zeigen, dass die Welt - oder zumindest der indische Teil davon - nicht gut und nicht gerecht ist. Deswegen hat sein Held allerhand dunkle Seiten, die sich nach seinem kometenhaften Aufstieg jenseits der Leinwand zeigen: Er betrügt seine ihm treu ergebene Ehefrau mit einfach strukturierten Filmsternchen; er lässt sich auf dubiose Geldgeschäfte ein, um sein singend verdientes Geld an der Steuer vorbei zu schmuggeln; er straft seinen Vater, einen der wenigen ehrlichen Politiker Indiens, durch Verachtung und Ignoranz; schließlich steigt er auch noch in die Politik ein, von der der talentlose Mime noch weniger Ahnung hat. Der Leser wird das Gefühl nicht los, dass am Ende das Böse siegen könnte.
Diese Geschichte beschreibt Shashi Tharoor unterhaltsam, manchmal angesichts der einfachen Handlung sogar spannend. Die Schilderung einiger Szenen hätte ihm die indische Filmzensur sicherlich gestrichen - aber die erlaubt ja nicht einmal Küsse vor der Kamera. Tharoor erzählt aus verschiedenen Perspekti-ven: Die wichtigsten Personen dürfen umfassende Monologe vortragen. So erhalten die Charaktere - die treue Gattin, der immer anständige Nebenbuhler, der moralisch gefestigte Politiker und Vater - ein wenig Tiefgang. Sie helfen Tharoor bei seiner dem Roman unterlegten Gesellschaftsanalyse. Offensichtlich war sie ein Grund für den Autor, das Buch zu verfassen.
So weiß der Vater zum Beispiel, dass Politik "die Kunst des Opportunen" ist. Und zu seinem Sohn gerichtet sagt er: "Du spielst deine Rolle in einem Schein-Indien, das nie wirklich existiert hat. Ich als Politiker spiele auch eine Rolle in einer Scheinwelt." Schließlich glaube er noch daran, dass seine politischen Ideale etwas bewirken können. Der gute Nebenbuhler entlarvt später die Filmmaschine Bollywoods - die in Realität an die 1.000 Filme pro Jahr produziert und damit mengenmäßig Hollywood längst abgehängt hat - in bester Tradition der Frankfurter Schule als Instrument der Elite, die Massen aller unüberwindbaren Klassenunterschiede zum Trotz still zu halten.
Diese oft schelmisch überzeichneten Schilderungen der indischen Filmbranche lesen sich amüsant und meist mit einer Leichtigkeit, die einer guten Bollywood-Tanzszene nicht unähnlich ist. Leider vertraut Shashi Tharoor seinem eigenen Stilmittel der Ironie nicht im nötigen Maß: Immer wieder glaubt er, die beschriebenen Klischees als solche auch noch mit Brachialhumor entlarven zu müssen. Dann fühlt sich der Leser weniger in einem Roman als vielmehr in einer Universitätsvorlesung. Thema: die Ungerechtigkeit der Welt.
15 Jahre nachdem Tharoors Roman erstmals erschienen ist, hat sich die indische Filmindustrie etwas verändert. Seit einiger Zeit entstehen auch einige Filme, die mit den Traditionen Bollywoods brechen und durchaus gesellschaftliche Probleme thematisieren: die Rolle der Frau, Aids, teilweise sogar politische Fragen wie den Kaschmir-Konflikt. Tharoors Roman über das Massenphänomen des indischen Mainstream-Kinos wirft dennoch eine Frage auf, die mit der seit einigen Jahren stark steigenden Popularität des klassischen Bollywood-Films in Deutschland spannend zu diskutieren ist: Woher rührt diese Verehrung von Geschichten, die so wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben? Deren Hauptdarsteller in ihrem sozialen Filmstatus und ihrem Reichtum nichts mit den Zuschauern gemein haben? Deren Ende immer vorhersehbar ist? Es ist die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung von modernen Märchen. Diese nur als Kitsch zu beschreiben und damit ihre Zuschauer lächerlich zu machen, beantwortet die Frage nicht.
Shashi Tharoor: Bollywood. Roman. Insel Verlag, Frankfurt/Main, Leipzig 2006; 414 S., 22,80 Euro.