Eine besondere Ehre bei einem für eine Christdemokratin eher ungewohnten Abendessen wird Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Woche bei ihrem Besuch in der Türkei zuteil: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die deutsche Kanzlerin zum Iftar eingeladen, dem Fastenbrechen im Ramadan. Erdogan will damit die Brückenfunktion seines Landes zwischen der islamischen und der westlichen Welt unterstreichen und die besondere deutsch-türkische Freundschaft beschwören, denn Einladungen zum Iftar erhält in der Türkei längst nicht jeder westliche Staatsgast. Merkels Iftar-Besuch ruft den Türken aber gleichzeitig in Erinnerung, wie sehr sich das Verhältnis zu Deutschland in den vergangenen Monaten verändert hat. Als Merkels Vorgänger Gerhard Schröder bei seinem Abschiedsbesuch am Bosporus vor fast genau einem Jahr ebenfalls mit Erdogan das Fasten brach, machte sich in Istanbul die Sorge breit, dass die damals neue deutsche Bundesregierung den EU-Kurs der Türkei nicht mehr ganz so nachdrücklich unterstützen werde. Ein Jahr später ist aus dieser Sorge eine auf die ganze EU bezogene Befürchtung geworden: "Schließt die EU ihre Tore?", fragte eine türkische Zeitung kurz vor Merkels Besuch.
Seit ihrem Amtsantritt vertritt die Merkel-Regierung wegen der gegensätzlichen Positionen der Koalitionspartner CDU/CSU und SPD beim Thema Türkei-Mitgliedschaft eine abwartende Haltung: Die vor einem Jahr gestarteten Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei werden von deutscher Seite nicht sabotiert, aber auch nicht energisch vorangetrieben. Bestehende Vereinbarungen zwischen EU und Türkei würden eingehalten, betont Merkel. Führende Politiker der Unionsparteien bringen trotzdem immer wieder die auch von Merkel persönlich favorisierte Möglichkeit ins Spiel, mit der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" unterhalb der Beitrittsschwelle zu vereinbaren.
Dass eine solche Partnerschaft trotz der laufenden Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft immer noch diskutiert wird, liegt nicht zuletzt an der Stimmungslage bei den Wählern. Die Zustimmung zum türkischen EU-Projekt ist in Westeuropa und auch in der Türkei selbst merklich gesunken. Der German Marshall Fund ermittelte kürzlich in einer Umfrage, dass 42 Prozent der Deutschen eine EU-Mitgliedschaft der Türken ablehnen - das sind 14 Prozentpunkte mehr als 2004. Gleichzeitig sank die Unterstützung der Türken für das Ziel der EU-Mitgliedschaft innerhalb der vergangenen zwei Jahre von 73 auf 54 Prozent. Im selben Zeitraum wuchs der Anteil der türkischen EU-Gegner von neun auf 22 Prozent.
Da Merkels eigene Position in der Türkei-Frage und die Stimmung bei den Wählern nicht gerade dazu einladen, das Thema EU in den Mittelpunkt des Besuches in der Türkei zu stellen, verständigten sich beide Seiten im Vorfeld darauf, vor allem über die Wirtschaft zu reden. Anders als bei der Europapolitik überwiegen in diesem Bereich die gemeinsamen Interessen. Die Türkei hat in den vergangenen Jahren ihre Attraktivität für ausländische Investoren deutlich gesteigert: In diesem Jahr werden 12 Milliarden Dollar an ausländischen Investitionen erwartet; noch vor drei Jahren lag diese Summe unter zwei Milliarden.
Deutschland ist seit langem der wichtigste Handelspartner für die Türkei. Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres exportierte die türkische Wirtschaft Güter im Wert von 5,4 Milliarden Dollar in die Bundesrepublik, mehr als in jedes andere Land. Es ist deshalb kein Zufall, dass Merkel in der Türkei von einer großen Wirtschaftsdelegation begleitet wird und dass Erdogan beim Besuch der Kanzlerin zwischen den politischen Gesprächen in Ankara und den Wirtschaftskontakten in der Metropole Istanbul sehr genau unterscheidet. Vor allem auf dem türkischen Energiesektor sehen deutsche Unternehmen große Chancen. Als rohstoffarmes Land will sich die Türkei aus ihrer derzeitigen Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland und dem Iran befreien und nach Alternativen suchen. Im kommenden Jahr soll deshalb der Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks beginnen.
Ganz verdrängen lässt sich das Thema EU beim Merkel-Besuch aber nicht. Die Bundeskanzlerin kommt fast genau zum ersten Jahrestag des Beginns der türkischen EU-Beitrittsgespräche am 3. Oktober nach Ankara; wenige Wochen nach der Visite der Kanzlerin wird die EU-Kommission ihren neuen Bericht zum Stand der Reformen im Bewerberland Türkei veröffentlichen und dabei viele Probleme auflisten. Insbesondere der Streit um Zypern wird darin eine große Rolle spielen. Brüssel verlangt von der Türkei bis zum Ende des Jahres die Öffnung ihrer Häfen für Güter aus der griechischen Republik Zypern, die seit 2004 EU-Mitglied ist. Ankara will dem aber erst nachkommen, wenn die Isolierung des türkischen Sektors auf Zypern aufgehoben wird.
Deutsche Diplomaten beteiligen sich intensiv an den Bemühungen der finnischen EU-Ratspräsidentschaft, eine neue Krise zwischen der EU und Türkei wegen Zypern noch zu verhindern. Denn Deutschland übernimmt im Januar 2007 für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft und will sich in dieser Zeit nicht ständig mit dem Thema Zypern herumschlagen. In der inzwischen sehr gereizten Atmosphäre beklagen türkische Politiker, dass die Europäer bei der Kandidatur ihres Landes schärfere Maßstäbe anlegen als bei anderen Bewerbern. Zusätzliche Beitrittskriterien werde die Türkei aber nicht hinnehmen, sagte Erdogan erst vor wenigen Tagen. Damit bezog sich der Ministerpräsident auf die im EU-Parlament laut gewordenen Forderungen, die Türkei müsse den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg anerkennen, bevor sie Mitglied werden könne. Auch Merkel dürfte in Ankara und Istanbul erleben, dass der Ton in der türkischen Politik schärfer geworden ist. Das hat zum Teil mit europapolitischer Enttäuschung zu tun, vor allem aber mit den im kommenden Jahr bevorstehenden Parlamentswahlen. Erdogan versucht, seine europapolitischen Erfolge in Wählerstimmen umzumünzen: Er präsentiert sich als Staatsmann, der die Türkei nach Europa bringen kann, ohne die "Ehre" des Landes dabei zu beschädigen. Nach Einschätzung europäischer Diplomaten in Ankara denkt Erdogan nicht daran, sein Europa-Programm über Bord zu werfen. Merkels Besuch in Ankara sei ein Schritt auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft, betonte der Regierungschef. Zumindest beim Fastenbrechen kann die Kanzlerin deshalb mit einem sehr freundlichen Empfang rechnen.