Am Morgen hatte noch vor den Stimmen der Muezzine über der Stadt das Gezwitscher der Vögel im Dunkel vor dem Hotelfenster eingesetzt. Für einen Moment hatte es noch einmal zurück auf den Nachtigallenhügel hinter Smyrna entführt, den der Papst zwei Tage vorher besucht hatte, zum geheimnisvollen Haus Marias. Der silberne Himmel der Ägäis darüber. Flimmern der Sonne im Herbstlaub von Ahorn und Pinien. Wilde Alpenveilchen umstehen das versteckte kleine Haus, wie auf einem Hügel Galiläas im Heiligen Land. Zehn Kilometer weiter das Grab des Apostels Johannes in Ephesus. Eine Marmorplatte, vier gedrechselte, frei stehende Säulen in der Ruine einer Basilika, ein paar Eidechsen, die über die Trümmer huschen, das ist es schon. Einsamkeit. Das Grab war leer, heißt es, als man es vor Jahrhunderten öffnete. Nur eine Handvoll Staub habe noch auf dem Boden gelegen, die der Wind gleich mitnahm. Ein größerer Kontrast zu den Basiliken über den Gräbern von Petrus und Paulus in Rom ist kaum denkbar. Doch auch Paulus müsste man sich heute - wäre nicht die Völkerwanderung dazwischen gekommen - vielleicht als einen jüdischen Türken mit römischem Pass vorstellen, ließ der Papst in seinen Reden zwischen Ankara und Istanbul immer wieder anklingen. Genetisch gesehen stimmt der Vergleich natürlich nicht ganz. Doch sicher ist, dass Benedikt XVI. auch in der Türkei heiliges - und apokalyptisches - Land besuchte, dessen einst blühende Gemeinden der Seher Johannes schon im ersten Jahrhundert mit der Prophezeiung erschreckte: "Ich stoße euch den Leuchter vom Altar!" Dazu ist es längst gekommen. Kaum irgendwo wuchs die Christenheit am Anfang so rasch wie hier, und kaum sonst wo wurde sie auch so dramatisch entwurzelt und vertrieben.
Zu dieser Vollislamisierung ist es jedoch nicht in der 500-jährigen Herrschaft der Osmanen über das ehemals byzantinische Reich gekommen, sondern erst in jenem Säkularisierungsprozess, den Kemal Pascha Atatürk dem türkischen Staat in einem der großen Gewaltakte des vergangenen Jahrhunderts verordnete. Mit einem spektakulären "ordre du mufti" versuchte der Staatsgründer, dem Land das Endergebnis jenes Prozesses aufzupfropfen, für den christliche Staaten des Westens Hunderte von Jahren und das ganze Zeitalter der Religionskriege brauchten. Jetzt ist es deshalb, als zeige sich die eiserne Hand des Gründers angesichts der Silhouetten so vieler Moscheen Istanbuls vor allem in den Heerscharen von Polizisten, die dem Besucher hier auf Schritt und Tritt begegnen.
Dieser Hand - und auch dem Islam - gilt der Besuch des Bischofs aus Rom jedoch erst in zweiter Linie. Die roten Schuhe, mit denen der Papst die Türkei am Dienstag betrat, sind sozusagen ein Erbteil der Kaiser von Byzanz. Nur an diesen Schuhen war der letzte Kaiser Ostroms noch zu identifizieren, als er am 29. Mai 1453 unter Bergen von Gefallenen gefunden wurde. Die Eroberung der Stadt durch Sultan Mehmet ließ Konstantinopel damals über Nacht zu Istanbul werden. Jetzt besuchte und stärkte der Papst in dieser brodelnden Metropole deshalb vor allem den kläglichen Rest der alten türkisch-byzantinischen Christenheit. Vor rund 80 Jahren stellten sie noch etwa 20 Prozent der Bevölkerung, jetzt nur noch knapp ein halbes Prozent, als überalterte, winzige Minderheit.
Ein Minenfeld brisanter Begriffe pflasterte den Weg des Papstes. So tänzelte er nun auf Zehenspitzen über jenes Seil, das sich ihm für diese Begegnung zwischen West und Ost über den Bosporus spannte. Weil Kemal Pascha Atatürk nicht nur die alte arabische Schrift der Türkei durch das lateinische Alphabet ersetzt, sondern auch den muslimischen Ruhetag vom Freitag auf den Sonntag verschoben hatte, wählte Benedikt für seinen letzten spektakulären Besuch in der Blauen Moschee den Donnerstagabend. Ziel und Höhepunkt der Reise hatte er da schon hinter sich, im "Lichthaus" auf einem verfallenen Winkel der prächtigen Metropole am Bosporus. In Istanbul ist das traditionelle Griechenviertel der misstrauisch beäugte Rest der Hauptstadt eines untergegangenen Imperiums, älter noch als das untergegangene Osmanische Weltreich, älter als der Islam. Mit den Gottesrufen von den Minaretten hat hier im "Phanar" an diesem Donnerstag deshalb vor allem der Festtag des Apostels Andreas in dieser Enklave der Geschichte begonnen. Der Rest der Stadt erleidet einen Verkehrsinfarkt. Nichts geht mehr. Die Galata-Brücke ist gesperrt. Taxifahrer fahren im Kreis und entlassen ihre Gäste schließlich verzweifelt irgendwo. Auch zu Fuß kommt schon lange kein Unbefugter mehr zum Phanar durch. In Italien machen Zeitungen mit der Drohung der Al-Qaida auf, den Papst in Istanbul zu töten, der es wagte, am Vortag den Frieden für Jerusalem und alle Völker zu erflehen - natürlich als Vorwand für einen neuen Kreuzzug, mit dem die Türkei wieder aus dem Haus des Islams herausgebrochen werden soll. Hubschrauber durchpflügen mit drohendem Geknatter den Himmel.
Der armenische Patriarch wartet schon, der syrisch-orthodoxe Metropolit und der Oberrabbiner der Türkei. Es ist das "Herzstück des Besuches", wie es vorab aus dem Vatikan hieß: ein neuer Meilenstein für die Versöhnung zerstrittener alter Kirchen, seit am 7. Dezember 1965 in Rom und in Konstantinopel gegenseitige Bannflüche feierlich widerrufen wurden. Weiter als mit dem Patriarchen von Konstantinopel ist die Ökumene noch mit keiner Teilkirche gediehen. Der Weihrauch, die knisternden Kerzen, das Gold der Ikonostase, griechischer, nicht abreißender Chorgesang, die hymnenschwere Liturgie des heiligen Chrysostomos (dessen Gebeine in der Kathedrale ruhen) - jedes Detail führt dem Gast aus Rom in seiner hermelinbesetzten Purpur-Mozetta das "leuchtende Erbe dieses Ortes" noch einmal vor Augen, wo sich "die Botschaft des Evangeliums und die kulturelle Tradition der Antike begegnet" sind. Vielleicht hat es ihn auch an die Ewigkeit erinnert und gewiss an die "zwei Lungen", mit denen die Christenheit atmen müsse, wie Johannes Paul II. zu betonen nicht müde wurde: mit der orthodoxen und der westlichen Christenheit.
Der Papst betet mit dem Patriarchen das Credo, beide auf Griechisch. Es ist der gemeinsame Grund und Boden zwischen Ost und West. "Ihr Besuch hätte nicht zu einer besseren Zeit erfolgen können", hat ihm zwei Tage zuvor der libanesische Botschafter in Ankara zur Begrüßung gesagt. "Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg", zitierte der Pontifex danach einen Text des Konzils auf Französisch. Dabei denke er ganz besonders an den "verstörenden Konflikt im Nahen Osten, der kein Zeichen der Mäßigung zeigt und schwer auf der internationalen Gemeinschaft lastet" - bevor er auf Englisch danach "die religiöse Freiheit als fundamentalen Ausdruck menschlicher Freiheit überhaupt" leise auch für die Türkei anmahnte, die immer als "Brücke zwischen Ost und West und Asien und Europa, und Drehkreuz von Kulturen und Religionen gedient habe". Mit dem Patriarchen, der als letzter Statthalter eines untergegangenen Weltreiches in Istanbul blieb, zieht Benedikt ganz andere Lehren aus der Geschichte. Weil "der Prozess der Säkularisierung die christlichen Traditionen nachhaltig schwäche", dürfe es kein anderes Ziel ihrer Bemühungen geben als die "vollkommene Gemeinschaft der Kirche von Rom mit der Kirche von Konstantinopel". Die Trennungen der Kirchen seien "ein Skandal in der Welt". Die Einheit der Christen sei überlebensnotwendig.
Nach der Feier reißen auf dem Balkon des Innenhofes beide die Arme hoch wie zwei Boxer nach einem gemeinsamen Sieg. Als Benedikt sich danach zu Fuß zur Hagia Sophia aufmacht zu einem Gebet mit dem Großmufti von Istanbul in der Blauen Moschee, hat er das Land schon erobert. Daran ändern auch jene Nachrichten nichts, dass er sich nach Mekka verbeugt habe, im Gegenteil. In Europa sind alle Kirchen nach Osten - und gen Mekka - ausgerichtet. Als sein Flugzeug am Freitag vom Boden abhebt, hat der Bischof von Rom das große Land auf eine Weise geadelt, wie die Türken es in den vergangenen Jahrzehnten durch keinen Politiker erfahren haben.