Bayern verschärft massiv die Gangart zum Schutz von schwer vernachlässigten Kindern. Ministerpräsident Edmund Stoiber machte anlässlich eines Kabinettsbeschlusses deutlich, dass er nicht tatenlos abwarten wolle, bis in Berlin ein politischer Konsens über die Pflicht zu Vorsorgeuntersuchungen erreicht werde. Einen gemeinsamen Antrag der Länder Bayern, Hessen, Saarland und Bremen für derartige verbindliche Untersuchungen hatte der Bundesrat am 24. November an die Ausschüsse verwiesen. Rückenwind erhielten die Antragsteller vom CDU-Parteitag, der sich ebenfalls für verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen von Kindern aussprach. Dagegen kritisierten neben der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) unter anderem auch der Deutsche Kinderschutzbund und die bayerische Landtagsopposition den Vorstoß.
Um zu erreichen, dass alle Kinder von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr regelmäßig an Pflichtuntersuchungen teilnehmen, sieht der bayerische Alleingang ein eigenes Informations- und Kontrollsystem auf Landesebene vor, das so rasch wie möglich umgesetzt werden soll. Wer seine Kinder nicht untersuchen lasse, müsse künftig damit rechnen, dass Gesundheitsamt oder Jugendamt eingeschaltet würden, sagte Stoiber. Als Druckmittel wird auch das bayerische Landeserziehungsgeld eingesetzt: Es wird erst ausbezahlt, wenn die Eltern die verlangten Untersuchungen belegen können.
Daneben will Bayern ein Frühwarnsystem installieren, das bereits in zwei Pilotprojekten erprobt wird. Anhand anerkannter Risikofaktoren sollen bereits in der Schwangerschaft und bei der Geburt eventuelle Anzeichen für eine spätere mögliche Vernachlässigung der Kinder festgestellt werden. Um Eltern und Kindern rechtzeitig zu helfen, will die Staatsregierung Hebammen, Geburtskliniken und Ärzte einschalten.
Für einen effektiven Kinderschutz soll auch der Datenaustausch zwischen allen zuständigen Stellen auf den Prüfstand. Die Staatsregierung will eine "lückenlose Vernetzung von Ärzten, sozialen Diensten und Sicherheitsbehörden" erreichen. Es müsse zum Beispiel möglich sein, Informationen auch ohne Zustimmung der Eltern weiterzugeben, sagte Stoiber. Kinderschutz dürfe nicht an einem falsch verstandenen Datenschutz scheitern, weil Risikodaten nicht rechtzeitig weitergegeben werden könnten. Auslöser für alle diese laut Staatskanzlei "maßgeschneiderten Maßnahmen" waren das Schicksal des kleinen Kevin in Bremen und eine Serie von Kindsmisshandlungen und Kindstötungen in den letzten Monaten. Stoiber betonte, gerade die Kinder als die Schwächsten in der Gesellschaft brauchten, wenn es notwendig sei, einen starken Staat: "Der Staat muss der Anwalt der Kinder sein."
Die Bundesratsinitiative von Bayern, die bisher freiwillig angebotenen Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen, ist umstritten. Bereits im Mai hatte der Bundesrat eine Entschließung zu Früherken-nungsuntersuchungen um einiges unverbindlicher ge-fasst. Als Gegnerin einer Untersuchungspflicht gilt auch die Bundesfamilienministerin. Neben "erheblichen rechtlichen Gründen" wie beispielsweise einem unverhältnismäßigen Eingriff ins grundrechtlich ge-schützte Elternrecht, äußerte sie weitere Bedenken. Eltern, die ihre Kinder vernachlässigten oder misshandelten, entwickelten geschickte Strategien, dies zu verbergen. Die Ministerin befürwortete vielmehr ein kompaktes Maßnahmebündel mit sozialen Frühwarnsystemen.
Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, erklärte gegenüber dem "Parlament", die Betroffenen seien hauptsächlich sozial Schwache, "die vor allem Unterstützung und Hilfe brauchen, aber keine bürokratische Überwachungsbürokratie". Für Stoiber allerdings ist eine obligatorische Vorsorgeuntersuchung hingegen das "einfachste, praxisnächs- te und am schnellsten umsetzbare Mittel zum Schutz von Kindern". Dagegen nehme die Einrichtung von Frühwarnsystemen, wie sie die Bundesregierung in einzelnen Pilotprojekten erwäge, viele Jahre Zeit in Anspruch. Seitens der SPD-Landtagsfraktion lehnte die gesundheitspolitische Sprecherin Kathrin Sonnenholzner die Pflichtuntersuchung als "ebenso untaugliches wie hilfloses Mittel" ab. Die Hilfsfunktion der Ärzte würde zu einer Kontrollfunktion degradiert und wirke sich negativ auf das Vertrauensverhältnis zu den Eltern aus. Die Sprecherin der Grünen, Renate Ackermann, nannte die Forderung hingegen "bloßen Aktionismus". Wesentlich sinnvoller sei es, Eltern schon vor der Geburt auf ihre Rolle vorzubereiten und überforderte Eltern anschließend durch gezielte Familiensozialarbeit zu begleiten.