Das Parlament: Frau Dückers, 60 Jahre nach Kriegsende boomt die Literatur über die deutsche Vergangenheit. Warum ist das so?
Tanja Dückers: Dies hat viel mit der Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands zu tun. Es ist viel einfacher geworden, nach Osteuropa zu fahren und damit auch Reisen in die Vergangenheit zu unternehmen. Viele Autoren haben diese neuen Möglichkeiten genutzt. Mit der EU-Osterweiterung ist Deutschland auch viel stärker auf politischer Ebene mit Ländern konfrontiert, die von Deutschland überfallen wurden und mit denen die Beziehungen nicht ganz unkompliziert sind. Plötzlich ist die Welt nicht mehr bipolar geteilt, sondern Deutschland muss zu all diesen ehemaligen Ostblockländern individuelle Beziehungen aufbauen. Damit einher geht ein verstärktes Interesse an Geschichte und den Ursachen, die zur deutschen Teilung geführt haben. Es ist klar, dass das Niederschlag in der Literatur findet.
Das Parlament: Auf der anderen Seite wird es immer schwieriger zu recherchieren - die Zeitzeugen sterben aus…
Tanja Dückers: Tatsächlich besteht nun noch einmal die letzte Gelegenheit, mit der Zeitzeugengeneration zu sprechen. Meines Erachtens erleben wir jetzt in Bezug auf die Erinnerungskultur in Deutschland einen sehr brisanten Moment, denn bisher konnten zwei Stränge von Erinnerung an die NS-Zeit in Deutschland koexistieren: die offizielle Gedenkkultur, die sehr staatstragend daherkommt und zentral mit Bußegedanken verbunden ist. Und zum anderen das private Erinnern, bei dem der Großvater seinem Enkel noch selbst erzählt, was er in Stalingrad erlebt hat - ein ganz anderer Diskurs, der viel weniger schuldhaft ist und dafür mehr vom eigenen Leiden geprägt wird. Diese Erzähltradition fällt jetzt weg, die Jungen haben bald keine Ansprechpartner mehr, die ihnen von dieser Zeit berichten können. Und da stellt sich die Frage: Wer hat das Deutungsmonopol über die Geschichte? Wie wird festgelegt, wie diese Zeit zu beurteilen ist?
Das Parlament: Welche Rolle spielt dabei die Literatur?
Tanja Dückers: Wenn die orale Erzähltradition, das "kommunikative Gedächtnis", wie es die Soziologen Leila und Jan Assmann nennen, nicht mehr möglich ist, weil die Betroffenen nicht mehr leben, wird die Vergangenheit nur noch über das "kulturelle Gedächtnis" transportiert - eine viel abstraktere Form von Wissensvermittlung. Und da kommt verstärkt die Literatur ins Spiel.
Das Parlament: Was leistet sie, was Museen, Gedenkstätten oder wissenschaftliche Arbeiten nicht leisten?
Tanja Dückers: Die Literatur hat einen großen Vorteil: Sie kann Geschichte auf eine sinnliche Weise vermitteln. Über die NS-Zeit ist sehr viel im Sachbuchbereich publiziert worden, aber Zahlen, Daten und Fakten können uns nie in gleicher Weise berühren und zum Nachdenken oder zur Einfühlung anregen. Aus der Gedächtnisforschung weiß man längst: Wenn Erinnerungen mit starken emotionalen Eindrücken verbunden sind, merkt man sich die Inhalte viel besser. Daher kann die Botschaft eines Romans oft einen viel nachhaltigeren Eindruck beim Leser hinterlassen als ein Sachbuch zur gleichen Thematik.
Das Parlament: Ihr Roman "Himmelskörper" beschäftigt sich wie die Grass-Novelle "Im Krebsgang" mit dem Untergang des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff". Was unterscheidet beide Bücher voneinander?
Tanja Dückers: Im Gegensatz zu Grass schreibe ich aus Sicht der Enkel. Der Roman spielt im Jahr 2003 und nicht 1945. Etwas anderes würde ich mir auch nicht zutrauen. Ich muss nicht mit den Autoren in Konkurrenz treten, die diese Zeit wirklich authentisch erlebt haben. Und ich versuche auch nicht, mir Erfahrungen literarisch anzueignen, die ich nicht habe. Was ich beschreibe, und auch das ist für mich selbstredend authentisch, ist die Spurensuche der Enkel, die mit einer Wohnungsauflösung eine Reise in die Vergangenheit besonderer Art vornehmen müssen, verschiedene Dokumente sichten und versuchen, mit ihren Großeltern gemeinsam noch einmal ins Gespräch zu kommen. Denn ihnen dämmert, dass es ein Familiengeheimnis gibt, das auf das Jahr 1945 zurückgeht. Sie stoßen auf viele Tabus und Mauern des Schweigens, immer wieder aber auch auf ein unglaubliches Redebedürfnis. Mein Thema ist: Wie kann man solch eine Spurensuche in die Vergangenheit antreten, wie kann man den in fast jeder deutschen Familie vorkommenden Tabus begegnen? Aber auch: Wie gehen wir mit den Älteren um?
Das Parlament: Steht dahinter eine persönliche Erfahrung?
Tanja Dückers: Ja, im Kern ist die Fluchtgeschichte in "Himmelskörper" autobiografisch. Bei mir waren es Onkel und Tante, die von Königsberg aus mit einem Minensuchboot "Theodora" geflohen sind.
Das Parlament: Sie selbst sind 1968 geboren. Was bewegt Sie, über die NS-Zeit zu schreiben?
Tanja Dückers: Ich finde diese Frage immer sehr eigentümlich. Der Zweite Weltkrieg war ein Ereignis, das Deutschland vollkommen umgestülpt hat, unser ganzes Aufwachsen in diesem Nachkriegsdeutschland wurde dadurch beeinflusst. Ich bin, bis ich 21 war, in einer geteilten Stadt aufgewachsen. Als ich noch zur Schule ging, sah man in Berlin noch viele Einschusslöcher an den Hausfassaden. Die Verwerfungen des Krieges zeigen sich auch in den Familien - an fehlenden Familienmitgliedern, an Menschen, die lange in Gefangenschaft waren und traumatisiert sind, an Täter- und Opfererfahrungen. Es gibt kaum eine deutsche Familie, die nicht zentral davon betroffen ist. Daher kann ich mir gar nicht aussuchen, ob ich mich damit beschäftigen möchte oder nicht. Diese Geschichte hat mich geprägt.
Das Parlament: Viele aus der älteren Generation sind skeptisch gegenüber jungen Autoren, die sich mit dem Krieg auseinandersetzen. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler spricht von "Holocaust-Fiction"...
Tanja Dückers: Das ist die Arroganz der Älteren. Jede Generation versucht, ein Ereignis zu ihrem zu erklären. Man darf den 68ern auch nicht ihr Woodstock wegnehmen. Ich behaupte aber, dass eine jüngere Generation ihr Verhältnis zu einem geschichtlichen Ereignis selbst am besten beschreiben kann. Ich kann nicht über Stalingrad schreiben, weil ich es nicht erlebt habe, und ich tue es auch nicht. Was ich dokumentiere, sind die Reflexionen der Jüngeren über diese Zeit, ihre Fragen, ihr Nachfragen, ihr Unwohlsein, ihr Gefühl von Identität als Deutsche in Europa. Es geht um die Fragen, die Enkel ihren Großeltern stellen, über die Reaktionen darauf und den Schmerz, die Wut oder die Scham, die diese Fragen auslösen. Ich schreibe also über das, was aus Deutschland geworden ist und wie man heute als junger Mensch in diesem Deutschland lebt. Auf diese Spurensuche haben wir ein Anrecht.
Das Interview führte Johanna Metz.