Fischer : Die Hemmschwelle für ein Nein zur EU ist deutlich gesunken
Berlin: (hib/WOL) "Die Hemmschwelle für ein Nein ist deutlich gesunken", hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), am Mittwochnachmittag im EU-Ausschuss erklärt. Fischer ging damit im Rahmen einer Unterrichtung auf Fragen der Fraktionen zu den europapolitischen Perspektiven nach den bereits durchgeführten Referenden über den Vertrag über eine Verfassung für Europa ein. So war gefragt worden, ob ein "Nein" eines EU-Gründerstaates einen Dominoeffekt auslösen könne. Schwer einzuschätzen ist laut Fischer der so genannte deutsch-französische Motor für EU-Initiativen angesichts des Votums durch das französische Referendum. Auch die Klammer der drei Großen werde auf die Dauer nicht ausreichen, die "ganz erheblichen Auswirkungen", um nicht zu sagen "den Rückschritt" für Europa zu vermeiden. Einig war sich der Außenminister mit den Ausschussmitgliedern darüber, dass der vorliegende Verfassungsvertrag für Europa bewahrt werden müsse. "Andere Modelle werden nicht funktionieren", sagte Fischer, und auch ein Herauslösen der für alle EU-Mitgliedsstaaten unstreitigen Punkte löse die Probleme "nicht wirklich". Wie schon bei dem ersten Referendum in Irland, würden bei einer Volksabstimmung häufig die innenpolitischen und sozialen Fragen eines Mitgliedsstaates in Verbindung mit der EU gebracht. Tatsächlich aber habe nicht die Erweiterung der Europäischen Union, sondern die Entwicklung von 1989/90 mit dem Einigungsprozess und der Öffnung nach Osten zu erheblichen Veränderungen und den jetzigen Ängsten geführt. Entsprechend sehe er sich in seiner Ablehnung, sich solchen Referenden zu unterwerfen, entschieden bestätigt.
Die Handlungsfähigkeit der EU falle damit nun auf die Grundlage des Vertrags von Nizza zurück, der "schlechter ist, als der jetzige Verfassungsvertrag". Zudem gebe es innerhalb der EU möglicherweise ein "Legitimationsloch" für Staaten, deren Bevölkerung überwiegend mit "Nein" votiert habe. Dabei sei anzumerken, dass ein Pro oder Kontra häufig nicht an Parteien gebunden, sondern strukturell begründet sei. So sei in den Städten Frankreichs anders abgestimmt worden als auf dem Land - und im Süden oder Westen anders, als in den übrigen Regionen. Auch wenn es sich nicht um die erste Krise der EU handele, so sei mit einem Erstarken nationaler Interessen bei
den kommenden Verhandlungen im Rat und in der Arbeit der Kommissionen zu rechnen. Die "nationalen Egoismen" würden bei der Diskussion über die Erweiterung der EU, über die EU-Verfassung und zur finanziellen Vorausschau für EU-Vorhaben fraglos deutlich werden. Klar sei auch, dass die ganze Balkanstrategie ohne eine gemeinsame europäische Vereinbarung zu EU-Verfassung "nicht mehr verankert ist". Angesichts wieder auflebender Diskussionen um die Erweiterung, die Währungseinheit und gemeinsame Verhandlungspositionen dürfe dennoch nicht in Pessimismus verfallen werden. Realismus - nicht Pessimismus sei gefragt. Denn es sei ein langer Umweg auf dem weiteren Weg zu Europa zu befürchten, gerade, weil es zum Verfassungsvertrag keine Alternative gebe. Wir müssen sehen, wie weit wir bei Verhandlungen auf der Basis von "Nizza" kommen, sagte Fischer. In diesem Zusammenhang stelle sich deshalb die Frage, "ob man bei den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament nicht verpflichtet ist, mit europäischen Spitzenkräften anzutreten".