Pressemitteilung
Datum: 05.04.2001
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
05.04.2001
Grußwort von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Jahrestagung der Nationalstiftung "Demokratie auf dem Prüfstand: Bürger, Staaten, Weltwirtschaft" am 5. April 2001 in Berlin (Rathaus, Wappensaal)
"Stünde dieser Tage der Deutsche Bundestag zur Wahl,
würden - laut jüngster Umfrage - 32 Prozent aller
Jugendlichen darauf verzichten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu
machen. Beinahe ein Drittel aller Jugendlichen bliebe zu Hause! Sie
fühlen sich offenbar nicht zuständig für die Belange
des Staates, oder glauben, ihre Stimme sei nicht wirklich gefragt.
Und warum? Weil sie die Funktionsweise und Teilhaberegeln der
Demokratie nicht durchschauen? Weil sie nur mit Mühe einen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden können und uns auf
diesem Wege ihren Frust vermitteln wollen? Weil sie - im Lichte
aktueller politischer Skandale - dem demokratischen System
mißtrauen, es gar insgesamt in Frage stellen? Oder etwa, weil
sie sich lieber von anderen, scheinbar zeitgemäßeren
Wertvorstellungen leiten lassen - von der Spaßkultur, von den
hehren Versprechungen des "rein privaten" Glücks, von
austauschbaren Statussymbolen und dem Glanz der Warenwelt?
Ich will das Umfrageergebnis nicht dramatisieren. Denn mit diesen Zahlen lässt sich ja auch ein anderer, ein gegenläufiger Trend belegen - über zwei Drittel aller Jugendlichen sind bereit, ihre demokratische Verantwortung wahrzunehmen. Zwei Drittel wissen, dass in der Demokratie den Rechten und Freiheiten auch Pflichten gegenüber stehen. Ihnen ist klar, dass man sich einbringen muss, will man etwas erreichen, gestalten, verändern.
Der größte Teil unserer Jugend ist nicht unpolitisch, nicht orientierungslos. Das eine Drittel jedoch, dass uns per Umfrage seine politische Passivität, ja Ignoranz bekundet, darf uns nicht gleichgültig sein. Um die Integration dieser Jugendlichen müssen wir uns verstärkt kümmern - gerade die demokratischen Parteien stehen hier in der Pflicht. Denn wie beschrieb einer der Autoren der Shell-Jugend-Studie die Situation? Nicht die Jugendlichen seien politikverdrossen, nein, sie hätten vielmehr das Gefühl, die Politik sei jugendverdrossen.
Fünfeinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende und eine gute Dekade nach Beitritt der neuen Länder zum Grundgesetz leben wir in einer stabilen Demokratie - und denken deshalb, hinsichtlich der Grundwerte, der Ziele und Schutzgüter von Artikel 1, 2 und 3 unseres Grundgesetzes sei alles gesagt und alles verstanden.
Erst im Lichte der von Rechtsextremismus und Gewalt sehen wir uns gezwungen aufzuhorchen und uns zu fragen, was haben wir - Parlamentarier, Journa-listen, Lehrer, Eltern - falsch gemacht, versäumt, dem Selbstlauf überlassen? Wo wurzeln diese sehr kenntlichen Defizite in der Wertevermittlung? Was können, was müssen wir anders und besser machen, um die Jugendlichen für die Werte der Demokratie zu öffnen, zu begeistern, sie aktiv gestaltend in die demokratischen Prozesse einzubinden?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte findet offenbar bisher in nicht ausreichender Weise statt. Noch viel zu häufig wird übersehen, dass sich die Grundeinsichten, die 1949 Verfassungsrang erhielten und sich dann allmählich zum gesellschaftlichen Konsens entwickelten, nicht von selbst an die nächste Generation weiter vermitteln, dass nicht immer voraussetzungslos auf sie verwiesen werden kann, sondern dass sie - etwa in der Tradition Carlo Schmidts - wieder viel mehr erläutert und begründet werden müssen. Hier sind nicht nur der Staat und seine Institutionen, die Multiplikatoren in Parteien und Medien gefragt, sondern alle Bürgerinnen und Bürger. Eine parla-mentarische Demokratie bedarf politisch wacher und politisch gebildeter Akteure. Junge Menschen, die in einer stabilen Demokratie aufwachsen, erleben sie als Selbstverständlichkeit - sie ist einfach da. Erst in der Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte erfahren sie, dass die parlamentarische Demokratie eben nicht naturgegeben ist, dass sie kein Geschenk des Himmels ist.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können, setzt einen Lernprozess voraus. Die Demokratie und die rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der echten Teilhabe an politischen Gestaltungsaufgaben. Dafür müssen wir die Wege ebnen und Gelegenheiten schaffen. Dazu müssen wir die Jugendlichen immer wieder neu ermutigen - innerhalb, aber auch verstärkt außerhalb der klassischen Parteienlandschaft.
Politisches Engagement findet bei uns überwiegend in Parteien statt, die im Prozeß der Willensbildung eine herausragende Rolle spielen. Ich halte das für eine Stärke unseres Systems, die ganz wesentlich zur Stabilität der Demokratie in Deutschland beigetragen hat. Aber vielleicht hat die "Parteiendemokratie" auch die Neigung befördert, die Politik "den Politikern" zu überlassen. Inzwischen wird Politik tatsächlich weitgehend von Berufspolitikern gestaltet, und die Distanz zwischen den Bürgern und den von ihnen gewählten Vertretern ist gewachsen. Gerade das belegt ja auch die eingangs zitierte Umfrage.
Trotz allem bleiben die Parteien für unsere Demokratie unersetzlich. Ich sehe jedenfalls nicht, wer ihre Rolle übernehmen könnte. Wer dafür plädiert, die Parteien zurückzudrängen, der muss auch sagen, was dann an ihre Stelle treten soll. Der muss belegen, dass auch dann nicht das Kapital allein das Sagen hat. Denn die demokratischen Parteien - und darin besteht ihre herausragende Leistung in der Geschichte der Demokratien - sind ja auch Institutionen, die der Macht des Geldes, der Vorherrschaft des ökonomischen Interesses sozialen Ausgleich und über Markt und Wettbewerb hinausreichende Werte entgegensetzen.
Das Ansehen der Parteien, das Ansehen der Demokratie hat - darüber müssen wir offen sprechen - im Zuge der Parteispendenaffäre Schaden genommen. Im Osten Deutschlands hat sie ein altes und tief sitzendes, von der DDR gezüchtetes Vorurteil gegen die Demokratie scheinbar bestätigt - nach dem Motto: Im Kapitalismus beherrscht das große Geld die Politik. Das hat Demokratiefremdheit gefestigt, schlimmer noch: antidemokratische Vorurteile bestärkt.
Andererseits läßt ja gerade die Aufdeckung des Spendenskandals auch die Stärken der Demokratie erkennen. Demokratie geht nicht davon aus, dass es irgendwo oben die besseren Menschen gäbe, ohne Fehl und Tadel. Sie verleiht Macht nur auf Zeit und setzt auf Kontrolle und kritische Öffentlichkeit. Entgegen den düsteren Szenarien vom Untergang des Staates und der Demokratie hat dieser Vorgang auch gezeigt: Die staatlichen Institutionen funktionieren, Verfehlungen werden aufgedeckt, Verletzungen der Regeln nicht geduldet Die Parlamente, die Regierungen, die Gerichte, die Verwaltungen, die Medien tun ihre Arbeit. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir es in diesem und in anderen Fällen ernst meinen mit der Aufklärung politischen Fehlverhaltens, und zwar in allen Parteien. Geschieht das nicht oder nur unzureichend, wird der Schaden für die Glaubwürdigkeit der Demokratie sehr nachhaltig sein, vor allem im Osten Deutschlands.
Von allen Seiten, von jungen Menschen ebenso wie von Leuten aus der Wirtschaft, den Banken, den Medien, ertönt seit Jahren der Ruf, die Parlamente, ja Politik allgemein, seien zu kraftlos, zu zögerlich, sie hinkten dem Leben hinterher. Und verwiesen wird dann häufig auf die sich immer stärker verschärfende Diskrepanz zwischen der Schnelligkeit und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und Kurzatmigkeit politischer Prozesse und Entscheidungen andererseits.
Doch Vorsicht! Die Kritik der Langsamkeit demokratischer Verfahren ist gefährlich, schließlich stellt sie nicht weniger als die demokratischen Verfahrensweisen selbst in Frage. Das Tempo demokratischer Entscheidungsprozesse ergibt sich nicht aus der Unfähigkeit oder Entscheidungsscheu von Parteien und Politikern. Es ergibt sich aus der Gewaltenteilung, aus dem Föderalismus, aus dem Mehrheitsprizip, das zugleich dem Minderheitenschutz verpflichtet ist, aus der Gleichheit vor dem Gesetz und den Regeln des Rechtsstaats, die nicht zuletzt deshalb so kompliziert sind, weil sie der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso gerecht werden wollen wie der Spezifität jedes Einzelfalles. Der Vorwurf der Langsamkeit greift an die Wurzeln der Demokratie, wenn nicht mehr vermittelbar ist, dass der Ausgleich von Interessen und das Aushandeln von Entscheidungen notwendig für den Zusammenhalt der Gesellschaft sind.
Die mit der Wahrnehmung dieser Diskrepanz sich verstärkende Ungeduld der Bürger gegenüber politischem Handeln schlägt sich bei diesen natürlich in sehr kenntlichen Erwartungshaltungen nieder. Der Widerspruch zwischen diesen Erwartungshaltungen, dem Problemdruck, den die Bürger mehr oder minder deutlich wahrnehmen, auf der einen Seite, und die quälende Langsamkeit der politischen Prozesse auf der anderen Seite, scheinen mir das eigentliche Problem zu sein, mit dem wir uns heute zu beschäftigen haben.
Was ist zu tun? Wir müssen an einer neuen politischen Kultur arbeiten, die es vermag, mehr und mehr Bürger an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, in der wir aber zugleich auch die Langsamkeit des demokratischen Entscheidungsprozesses verteidigen. Es geht um die Öffnung der Parteien, um mehr Bürgerpartizipation. Warum sollte auf Bundesebene nicht gehen, was in vielen Ländern schon möglich ist?
Ich plädiere seit langem dafür, die Beteiligungsrechte zu erweitern und unser parlamentarisches System durch plebizitäre Elemente zu ergänzen. Derentwillen bin ich vor Jahren in die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat gegangen, noch voller Euphorie, als jemand, der die Demokratie der Straße erlebt und gesagt hat, dass dies vielleicht die kostbarste politische Erfahrung ist, die wir Ostdeutschen in das gemeinsame Deutschland einbringen. Das müsste eine Chance haben, auch im Grundgesetz einen Widerhall zu finden. Doch - Sie wissen es - die damaligen Mehrheitsverhältisse im Bundestag standen dagegen. Inzwischen haben sich nicht nur die Mehrheitsverhältnisse gewandelt, auch die Stimmung ist heute eine etwas andere, zumindest in dieser Frage. Auch bei CDU/CSU und FDP wird inzwischen eine größere Öffnung auf Bundesebene nicht mehr ausgeschlossen. Gerade Anfang dieser Woche setzte ja die CDU-Präsidiumssitzung ein entsprechendes Zeichen.
Der Parteivorstand der SPD hat im vergangenen Monat die Erweiterung der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger beschlossen - und zwar auf Bundesebene. Die SPD setzt sich dafür ein, die Bevölkerung an wichtigen Sachentscheidungen teilhaben zu lassen, wofür allerdings eine Verfassungsänderung erforderlich ist. Unsere Vorschläge sehen Verbesserungen und Ergänzungen beim Petitionsrecht ebenso vor wie die Einführung neuer Instrumente - also Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. Die SPD wirbt um die Zustimmung der anderen Parteien, damit ihre Vorschläge noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden können.
Franz Müntefering hat in seinem Brief an die Generalsekretäre der anderen im Bundestag vertretenen Parteien zu Gesprächen eingeladen, um Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens zu erörtern.
Ich bin optimistisch. Ich denke, es ist in absehbarer Frist möglich, die erste Beteiligungsstufe (Volksinitiative) auch auf Bundesebene zu erreichen, mit der die Bürger bei vorliegendem Quorum den Bundestag veranlassen können, sich mit einem Thema oder Gesetz zu befassen. Perspektivisch setze ich darauf, dass wir die drei grundlegenden Elemente auf Bundesebene haben werden.
Neue, wirkungsvollere Formen der Bürgerbeteiligung bewirken keine Schwächung oder gar Delegitimierung unseres parlamentarischen repräsentativen Regierungssystems, sondern - ganz im Gegenteil - dessen Ergänzung, Bereicherung, Differenzierung und Öffnung. Aber plebizitäre Elemente sind kein Allheilmittel. Sie werden, darüber sollte sich niemand wundern, die demokratischen Prozesse gewiß nicht beschleunigen: Die gründliche Information und die erschöpfende Diskussion werden notwendiger sein denn je.
Demokratie ist und bleibt ein Instrument der Bürgerinnen und Bürger. Doch ob sie dieses Instrument, dieses Angebot annehmen und nutzen, das liegt nicht allein in der Hand der Parteien oder einzelner Politiker. Das liegt in der Entscheidung jedes einzelnen.
Es bleibt eine unserer wichtigsten Aufgaben, für demokratisches Engagement zu werben. Zu den zeitgemäßen Wertvorstellungen, von denen ich eingangs gesprochen habe, gehören auch heute die im Grundgesetz verankerten Werte und Verfahren. Wir müssen der jungen Generation - besser als bisher - vermitteln, warum das so ist: Politische Gleichgültigkeit, Politikferne kann sich nur der leisten, dessen privates Glück nicht durch politische Unfreiheit bedroht ist. Auch die Spasskultur, die unsere Jugend so fasziniert, ist nur in einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft denkbar."
Ich will das Umfrageergebnis nicht dramatisieren. Denn mit diesen Zahlen lässt sich ja auch ein anderer, ein gegenläufiger Trend belegen - über zwei Drittel aller Jugendlichen sind bereit, ihre demokratische Verantwortung wahrzunehmen. Zwei Drittel wissen, dass in der Demokratie den Rechten und Freiheiten auch Pflichten gegenüber stehen. Ihnen ist klar, dass man sich einbringen muss, will man etwas erreichen, gestalten, verändern.
Der größte Teil unserer Jugend ist nicht unpolitisch, nicht orientierungslos. Das eine Drittel jedoch, dass uns per Umfrage seine politische Passivität, ja Ignoranz bekundet, darf uns nicht gleichgültig sein. Um die Integration dieser Jugendlichen müssen wir uns verstärkt kümmern - gerade die demokratischen Parteien stehen hier in der Pflicht. Denn wie beschrieb einer der Autoren der Shell-Jugend-Studie die Situation? Nicht die Jugendlichen seien politikverdrossen, nein, sie hätten vielmehr das Gefühl, die Politik sei jugendverdrossen.
Fünfeinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende und eine gute Dekade nach Beitritt der neuen Länder zum Grundgesetz leben wir in einer stabilen Demokratie - und denken deshalb, hinsichtlich der Grundwerte, der Ziele und Schutzgüter von Artikel 1, 2 und 3 unseres Grundgesetzes sei alles gesagt und alles verstanden.
Erst im Lichte der von Rechtsextremismus und Gewalt sehen wir uns gezwungen aufzuhorchen und uns zu fragen, was haben wir - Parlamentarier, Journa-listen, Lehrer, Eltern - falsch gemacht, versäumt, dem Selbstlauf überlassen? Wo wurzeln diese sehr kenntlichen Defizite in der Wertevermittlung? Was können, was müssen wir anders und besser machen, um die Jugendlichen für die Werte der Demokratie zu öffnen, zu begeistern, sie aktiv gestaltend in die demokratischen Prozesse einzubinden?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte findet offenbar bisher in nicht ausreichender Weise statt. Noch viel zu häufig wird übersehen, dass sich die Grundeinsichten, die 1949 Verfassungsrang erhielten und sich dann allmählich zum gesellschaftlichen Konsens entwickelten, nicht von selbst an die nächste Generation weiter vermitteln, dass nicht immer voraussetzungslos auf sie verwiesen werden kann, sondern dass sie - etwa in der Tradition Carlo Schmidts - wieder viel mehr erläutert und begründet werden müssen. Hier sind nicht nur der Staat und seine Institutionen, die Multiplikatoren in Parteien und Medien gefragt, sondern alle Bürgerinnen und Bürger. Eine parla-mentarische Demokratie bedarf politisch wacher und politisch gebildeter Akteure. Junge Menschen, die in einer stabilen Demokratie aufwachsen, erleben sie als Selbstverständlichkeit - sie ist einfach da. Erst in der Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte erfahren sie, dass die parlamentarische Demokratie eben nicht naturgegeben ist, dass sie kein Geschenk des Himmels ist.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können, setzt einen Lernprozess voraus. Die Demokratie und die rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der echten Teilhabe an politischen Gestaltungsaufgaben. Dafür müssen wir die Wege ebnen und Gelegenheiten schaffen. Dazu müssen wir die Jugendlichen immer wieder neu ermutigen - innerhalb, aber auch verstärkt außerhalb der klassischen Parteienlandschaft.
Politisches Engagement findet bei uns überwiegend in Parteien statt, die im Prozeß der Willensbildung eine herausragende Rolle spielen. Ich halte das für eine Stärke unseres Systems, die ganz wesentlich zur Stabilität der Demokratie in Deutschland beigetragen hat. Aber vielleicht hat die "Parteiendemokratie" auch die Neigung befördert, die Politik "den Politikern" zu überlassen. Inzwischen wird Politik tatsächlich weitgehend von Berufspolitikern gestaltet, und die Distanz zwischen den Bürgern und den von ihnen gewählten Vertretern ist gewachsen. Gerade das belegt ja auch die eingangs zitierte Umfrage.
Trotz allem bleiben die Parteien für unsere Demokratie unersetzlich. Ich sehe jedenfalls nicht, wer ihre Rolle übernehmen könnte. Wer dafür plädiert, die Parteien zurückzudrängen, der muss auch sagen, was dann an ihre Stelle treten soll. Der muss belegen, dass auch dann nicht das Kapital allein das Sagen hat. Denn die demokratischen Parteien - und darin besteht ihre herausragende Leistung in der Geschichte der Demokratien - sind ja auch Institutionen, die der Macht des Geldes, der Vorherrschaft des ökonomischen Interesses sozialen Ausgleich und über Markt und Wettbewerb hinausreichende Werte entgegensetzen.
Das Ansehen der Parteien, das Ansehen der Demokratie hat - darüber müssen wir offen sprechen - im Zuge der Parteispendenaffäre Schaden genommen. Im Osten Deutschlands hat sie ein altes und tief sitzendes, von der DDR gezüchtetes Vorurteil gegen die Demokratie scheinbar bestätigt - nach dem Motto: Im Kapitalismus beherrscht das große Geld die Politik. Das hat Demokratiefremdheit gefestigt, schlimmer noch: antidemokratische Vorurteile bestärkt.
Andererseits läßt ja gerade die Aufdeckung des Spendenskandals auch die Stärken der Demokratie erkennen. Demokratie geht nicht davon aus, dass es irgendwo oben die besseren Menschen gäbe, ohne Fehl und Tadel. Sie verleiht Macht nur auf Zeit und setzt auf Kontrolle und kritische Öffentlichkeit. Entgegen den düsteren Szenarien vom Untergang des Staates und der Demokratie hat dieser Vorgang auch gezeigt: Die staatlichen Institutionen funktionieren, Verfehlungen werden aufgedeckt, Verletzungen der Regeln nicht geduldet Die Parlamente, die Regierungen, die Gerichte, die Verwaltungen, die Medien tun ihre Arbeit. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir es in diesem und in anderen Fällen ernst meinen mit der Aufklärung politischen Fehlverhaltens, und zwar in allen Parteien. Geschieht das nicht oder nur unzureichend, wird der Schaden für die Glaubwürdigkeit der Demokratie sehr nachhaltig sein, vor allem im Osten Deutschlands.
Von allen Seiten, von jungen Menschen ebenso wie von Leuten aus der Wirtschaft, den Banken, den Medien, ertönt seit Jahren der Ruf, die Parlamente, ja Politik allgemein, seien zu kraftlos, zu zögerlich, sie hinkten dem Leben hinterher. Und verwiesen wird dann häufig auf die sich immer stärker verschärfende Diskrepanz zwischen der Schnelligkeit und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und Kurzatmigkeit politischer Prozesse und Entscheidungen andererseits.
Doch Vorsicht! Die Kritik der Langsamkeit demokratischer Verfahren ist gefährlich, schließlich stellt sie nicht weniger als die demokratischen Verfahrensweisen selbst in Frage. Das Tempo demokratischer Entscheidungsprozesse ergibt sich nicht aus der Unfähigkeit oder Entscheidungsscheu von Parteien und Politikern. Es ergibt sich aus der Gewaltenteilung, aus dem Föderalismus, aus dem Mehrheitsprizip, das zugleich dem Minderheitenschutz verpflichtet ist, aus der Gleichheit vor dem Gesetz und den Regeln des Rechtsstaats, die nicht zuletzt deshalb so kompliziert sind, weil sie der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso gerecht werden wollen wie der Spezifität jedes Einzelfalles. Der Vorwurf der Langsamkeit greift an die Wurzeln der Demokratie, wenn nicht mehr vermittelbar ist, dass der Ausgleich von Interessen und das Aushandeln von Entscheidungen notwendig für den Zusammenhalt der Gesellschaft sind.
Die mit der Wahrnehmung dieser Diskrepanz sich verstärkende Ungeduld der Bürger gegenüber politischem Handeln schlägt sich bei diesen natürlich in sehr kenntlichen Erwartungshaltungen nieder. Der Widerspruch zwischen diesen Erwartungshaltungen, dem Problemdruck, den die Bürger mehr oder minder deutlich wahrnehmen, auf der einen Seite, und die quälende Langsamkeit der politischen Prozesse auf der anderen Seite, scheinen mir das eigentliche Problem zu sein, mit dem wir uns heute zu beschäftigen haben.
Was ist zu tun? Wir müssen an einer neuen politischen Kultur arbeiten, die es vermag, mehr und mehr Bürger an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, in der wir aber zugleich auch die Langsamkeit des demokratischen Entscheidungsprozesses verteidigen. Es geht um die Öffnung der Parteien, um mehr Bürgerpartizipation. Warum sollte auf Bundesebene nicht gehen, was in vielen Ländern schon möglich ist?
Ich plädiere seit langem dafür, die Beteiligungsrechte zu erweitern und unser parlamentarisches System durch plebizitäre Elemente zu ergänzen. Derentwillen bin ich vor Jahren in die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat gegangen, noch voller Euphorie, als jemand, der die Demokratie der Straße erlebt und gesagt hat, dass dies vielleicht die kostbarste politische Erfahrung ist, die wir Ostdeutschen in das gemeinsame Deutschland einbringen. Das müsste eine Chance haben, auch im Grundgesetz einen Widerhall zu finden. Doch - Sie wissen es - die damaligen Mehrheitsverhältisse im Bundestag standen dagegen. Inzwischen haben sich nicht nur die Mehrheitsverhältnisse gewandelt, auch die Stimmung ist heute eine etwas andere, zumindest in dieser Frage. Auch bei CDU/CSU und FDP wird inzwischen eine größere Öffnung auf Bundesebene nicht mehr ausgeschlossen. Gerade Anfang dieser Woche setzte ja die CDU-Präsidiumssitzung ein entsprechendes Zeichen.
Der Parteivorstand der SPD hat im vergangenen Monat die Erweiterung der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger beschlossen - und zwar auf Bundesebene. Die SPD setzt sich dafür ein, die Bevölkerung an wichtigen Sachentscheidungen teilhaben zu lassen, wofür allerdings eine Verfassungsänderung erforderlich ist. Unsere Vorschläge sehen Verbesserungen und Ergänzungen beim Petitionsrecht ebenso vor wie die Einführung neuer Instrumente - also Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. Die SPD wirbt um die Zustimmung der anderen Parteien, damit ihre Vorschläge noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden können.
Franz Müntefering hat in seinem Brief an die Generalsekretäre der anderen im Bundestag vertretenen Parteien zu Gesprächen eingeladen, um Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens zu erörtern.
Ich bin optimistisch. Ich denke, es ist in absehbarer Frist möglich, die erste Beteiligungsstufe (Volksinitiative) auch auf Bundesebene zu erreichen, mit der die Bürger bei vorliegendem Quorum den Bundestag veranlassen können, sich mit einem Thema oder Gesetz zu befassen. Perspektivisch setze ich darauf, dass wir die drei grundlegenden Elemente auf Bundesebene haben werden.
Neue, wirkungsvollere Formen der Bürgerbeteiligung bewirken keine Schwächung oder gar Delegitimierung unseres parlamentarischen repräsentativen Regierungssystems, sondern - ganz im Gegenteil - dessen Ergänzung, Bereicherung, Differenzierung und Öffnung. Aber plebizitäre Elemente sind kein Allheilmittel. Sie werden, darüber sollte sich niemand wundern, die demokratischen Prozesse gewiß nicht beschleunigen: Die gründliche Information und die erschöpfende Diskussion werden notwendiger sein denn je.
Demokratie ist und bleibt ein Instrument der Bürgerinnen und Bürger. Doch ob sie dieses Instrument, dieses Angebot annehmen und nutzen, das liegt nicht allein in der Hand der Parteien oder einzelner Politiker. Das liegt in der Entscheidung jedes einzelnen.
Es bleibt eine unserer wichtigsten Aufgaben, für demokratisches Engagement zu werben. Zu den zeitgemäßen Wertvorstellungen, von denen ich eingangs gesprochen habe, gehören auch heute die im Grundgesetz verankerten Werte und Verfahren. Wir müssen der jungen Generation - besser als bisher - vermitteln, warum das so ist: Politische Gleichgültigkeit, Politikferne kann sich nur der leisten, dessen privates Glück nicht durch politische Unfreiheit bedroht ist. Auch die Spasskultur, die unsere Jugend so fasziniert, ist nur in einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft denkbar."
Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2001/pz_0104053