Pressemitteilung
Datum: 19.03.2004
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
19.03.2004
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse auf der Frühjahrstagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing am 19. März 2004 zum Thema:
Anrede,
Seit einem halben Jahr, seit dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 24. September 2003 hält eine Debatte an und will an Schärfe nicht verlieren: der sogenannte Kopftuchstreit. In ihm geht es über das konkrete Thema hinaus um grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion, um Religionsfreiheit und staatlichen Erziehungsauftrag, um kulturelle Identität und Integration. Dass wir in Zeiten des Terrorismus, immer neuer und näher rückender terroristischer Gefährdungen darüber diskutieren, befördert Gelassenheit und Differenzierung nicht unbedingt. Aber gerade deshalb müssen wir uns dazu immer wieder neu durchringen. Denn die Abwehr der terroristischen Gefahr darf nicht selbst zur Gefährdung unseres demokratischen Rechtsstaates und seiner Verfassung und Grundwerte führen!
Ich will als katholischer Christ ganz deutlich sagen: Ich bin selbstverständlich für eine Gleichbehandlung von Religionen, wie es unser Grundgesetz vorsieht. Wir haben keine Staatsreligion verbunden mit religiöser Toleranz, sondern - worauf der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde zu Recht immer wieder hingewiesen hat - der Staat erklärt sich gegenüber den Religionen und Weltanschauungen für neutral. Ich zitiere Böckenförde: "Unser Staat ist der Religion gegenüber neutral und deshalb offen. Er unterscheidet sich dadurch vom laizistischen Staat, der auf Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben ausgerichtet ist. Der säkulare Staat hingegen gewährt der Religion freien privaten und öffentlchen Entfaltungsraum, ohne sich mit ihr irgendwie zu identifizieren oder sich für religiöse Zwecke in Dienst nehmen zu lassen."
Dies ist gerade auch für Christen in der Politik - nicht nur, aber auch in dieser Debatte - von außerordentlicher Bedeutung: Wie anders als durch die Trennung von Kirche und Staat könnte Religionsfreiheit gewährleistet werden? Die Religionsfreiheit, auf die sich auch Muslime bei uns mit Recht berufen!
Das Christentum hat auch nach den blutigen europäischen Religionskriegen lange gebraucht, um die Trennung von Kirche und Staat zu akzeptieren. Diesen Weg zu Toleranz und Religionsfreiheit ist meine, die katholische Kirche endgültig erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 gegangen.
Das war ein wichtiger, mühseliger Prozess der Mäßigung von Religion. Diese schwierige aber notwendige Erfahrung und Entscheidung ist eine unbedingte Voraussetzung für den inneren Frieden unserer Gesellschaft. Nur wenn sie gegeben ist, gilt: Wer bei uns lebt, braucht seine kulturelle Herkunft und seine Religion nicht zu verleugnen. Er muss aber bereit sein, die Grundwerte unserer Verfassung und unsere demokratischen Regeln zu akzeptieren. Die meisten Muslime, die bei uns leben, wissen den Schutz unserer Verfassung und die Offenheit dieser Gesellschaft wohl zu schätzen. Fast 90 Prozent aller in Deutschland lebenden Muslime wollen auch hier bleiben und viele von ihnen sind bereit, sich um die Integration in diese Gesellschaft zu bemühen.
Ohne dieses Fundament der Religionsfreiheit - aktiv wie passiv - und ohne die Konsequenz daraus, die Trennung von Kirche und Staat, die klare Unterscheidung von Religion und Politik, wäre die Diskussion, die wir heute hier führen, eigentlich gar nicht vorstellbar.
Deshalb muss es grundsätzlich um beides gehen: um die tatsächliche Praxis von der Religionsfreiheit einerseits und um die Sicherung der religiösen Neutralität des Staates andererseits. Lassen Sie mich deshalb - etwas ausführlicher - die meines Erachtens besonders präzise Definition von Religionsfreiheit, wie sie Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert hat, zitieren:
"Die Religionsfreiheit ist ein volles Freiheitsrecht, nicht nur eine Freiheit der Religion. Sie umfasst einerseits die Freiheit zum Glauben, zum Bekenntnis dieses Glaubens und zur öffentlichen Ausübung der Religion, andererseits aber ebenso die Freiheit, einen Glauben nicht zu haben oder sich von einem gehabten Glauben abzuwenden, das heißt ohne Glauben, Bekenntnis, öffentliche Religionsausübung zu leben. Sie ist mithin nicht eine Garantie der Religion, ihres Bestandes oder Fortbestandes, sondern nur die Garantie der Möglichkeit, dass Religion bestehen und fortbestehen kann. Religion und Bekenntnis können in Freiheit ergriffen und fortgetragen werden; sie bestehen solange - aber auch nur solange - als dies geschieht.
Religionsfreiheit als Grundrecht gehört der staatlichen Rechtsordnung an. Sie ist ein äußeres Recht, richtet sich gegen Übergriffe anderer Menschen und Übergriffe der staatlichen Gewalt. Sie betrifft nicht das Verhältnis des Menschen zu Gott und auch nicht die Stellung des Einzelnen innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Eine moralische Pflicht des Menschen Gott gegenüber, die Wahrheit zu suchen und dasjenige, was er im Glauben als Wahrheit erkennt, zu ergreifen und danach zu handeln, lässt sie unberührt."
Der Streit über das Kopftuch - ein symbolträchtiger Anlass für eben sehr grundsätzliche Erwägungen, die den nötigen Entscheidungen voraus gehen müssen - kann nicht wirklich ausgefochten werden, ohne die eigene europäische Geschichte in den Blick zu nehmen und auch nicht, ohne die aktuellen Modernisierungskonflikte im Islam zu betrachten. Wir stoßen dann auf problematische Ungleichzeitigkeiten ebenso wie auf erhellende Parallelen, die für das wechselseitige Verständnis der Religionen und Kulturen von Bedeutung sind. Der Dialog der Religionen und der Kulturen wird ohne dieses Verständnis nicht wirklich, nicht wirksam, stattfinden können.
Das europäische Christentum hat überhaupt keinen Grund, sich angesichts inner-islamischer Konflikte stolz in die Brust zu werfen. Wir haben Jahrhunderte lang religiös motivierte Kriege geführt, wenn Sie so wollen: innerchristliche Konflikte mit der Waffe ausgefochten und selbst nach dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges noch einmal rund 300 Jahre benötigt, um den heutigen Stand der Dinge zu erreichen.
Der Islam befindet sich heute in vergleichbaren Auseinandersetzungen. Die einen wollen - aus meiner Sicht zurück - auf eine Verabsolutierung des Religiösen als verbindlichen Maßstab sowohl für die Gestaltung des Lebens jedes Gläubigen als auch für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten. Die anderen wollen den Koran als zwar heiligen, aber doch historischen und damit interpretierbaren Text, sodass vielfältige Folgerungen daraus für das Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft gezogen werden können. Darunter auch die Einsicht, dass er für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten nicht unmittelbares Gesetz sein kann.
Die Realität in den islamischen Staaten ist folglich von einer Vielfalt, die hierzulande nur von Wenigen überhaupt wahrgenommen wird. Ich will das gar nicht theologisch erörtern; man könnte Vergleiche heranziehen des Zivilrechts, des Familienrechts in verschiedenen islamischen Ländern, man kann aber auch den Augenschein bemühen. Die Unterschiede sind greifbar, ob man in Tunesien oder Marokko, ob man in Jordanien oder Palästina, ob man in der Türkei oder im Iran, in Saudi-Arabien oder im Jemen ist. Vielleicht sind die Türkei und Ägypten besonders geeignete Beispiele, weil man dort viele Strömungen zugleich findet: Verabsolutierung der Religion, Festhalten an Traditionen, die mit dem Islam, dem Koran nichts zu tun haben, Überwindung solcher Traditionen, Angst vor Freiheit und Streben nach Freiheit, Streben nach Vereinbarkeit tiefer Religiosität mit der Moderne und fundamentalistische Ablehnung der Moderne mit religiösen Begründungen. Alle Schattierungen von Verabsolutierung bestimmter Lesarten des Islam bis zur Mäßigung der Religion. Der jordanische Prinz (und Bruder des verstorbenen Königs) Al Hassan Bin Talal geht vor diesem Hintergrund so weit zu erklären, dass es keinen Streit der Kulturen, also "des" Islam mit "dem" Westen gebe, sondern dass es sich stets um inner-islamische Konflikte handele.
Solche Konflikte hat es auch im europäischen Christentum gegeben: das Schisma, die Hexenverbrennungen, die heilige Inquisition, den 30-jährigen Krieg bis zu deren Überwindung im Streben nach Ökumene in offenen Zivilgesellschaften. Wir können die blutige Art und Weise, auf der diese Konflikte in Europa über einen so langen Zeitraum ausgetragen wurde, den islamischen Gesellschaften weiß Gott nicht zur Nachahmung empfehlen.
Ich erinnere an diese Parallele, weil sie helfen kann, die Konflikte im Islam zu verstehen, weil sie hilft, den Islam nicht als monolithischen Block zu begreifen und weil sie hilft, die vorwiegend negativen Schlagzeilen über Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit nicht für den Islam insgesamt zu halten. Sie sind nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber (ein wenig) Wahrheit haben sie doch. Ich zitiere einen brillanten islamischen Intellektuellen, den in Deutschland lebenden Schriftsteller Navid Kermani: "Fast alle Muslime hierzulande und die meisten Islamwissenschaftler ärgern sich über das verzerrte Bild, das die Medien vom Islam zeichnen. Aber dieses Bild wäre niemals so sehr in den Vordergrund gerückt, wenn nicht genug Muslime - Terroristen, Theologen, Staatsführer - exakt jener Karikatur des Islams entsprächen, die den Gläubigen und Kennern aufstößt. Es mag ein Feindbild Islam geben. Aber schlimmer ist, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind geriert."
Zugleich (aber) wehrt sich Karmani gegen die flotten, oberflächlichen Urteile von Europäern über den islamischen Glauben. Wir sollten uns zurückhalten, vielleicht gar heraushalten aus dem innerislamischen Streit.
Ich bin ganz einverstanden damit, jedenfalls im Prinzip. Das - vorsichtig gesagt - Spannungsverhältnis zwischen der universellen Geltung der Menschenrechte, dem Streben nach höherem Wohlstand einerseits und tradierten kulturellen und religiösen Prägungen andererseits wird am ehesten bewältigt und vielleicht sogar aufgelöst, wenn die verschiedenen Kulturen ihren eigenen Weg zum Ziel finden.
Nur kann weder die Menschenrechtscharta dafür aufgegeben werden, noch kann die Forderung nach Mäßigung der Religion, nach Unterscheidung von Religion und Politik fallen gelassen werden. Lassen Sie uns vielmehr für die Einsicht werben, dass mangelnder Respekt vor anderen Überzeugungen die Substanz des eigenen Glaubens beschädigt, der für Christen wie für Muslime auch Glaube an die Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen, also an die Würde des Menschen ist.
Globalisierung und Migration unterstreichen die Notwendigkeit dieser Forderungen, weil wir es uns nicht mehr aussuchen können, ob wir mit Angehörigen fremder Kulturen zusammenleben wollen. Im Gegenteil: angesichts der engen Nachbarschaft und Verflechtung zwischen den Kulturen gilt nicht mehr nur national sondern auch global: friedliches Zusammenleben der Religionen ist nur bei Freiheit und Mäßigung der Religionen zugleich, also bei religiöser Toleranz möglich.
Vor diesem Hintergrund nun kann der Blick nach innen gerichtet werden, auf unsere Gesellschaft, in der gut 3 Millionen Muslime leben, auf unseren Kopftuchstreit, auf unsere Selbstverständigung. Wenn wir uns - in den genannten Grenzen - aus der Selbstverständigung islamischer Gesellschaften heraushalten wollen, so müssen wir doch unsere eigene Selbstverständigung in einer längst multikulturellen Gesellschaft immer wieder vornehmen und dabei auch bedenken, ob und wie wir mit unserem eigenen Verhalten Einfluss nehmen auf inner-islamische Konflikte und auf eine Gestaltung der globalen Verhältnisse, die das friedliche Zusammenleben der Religionen und Kulturen zum Ziel hat.
Neben der rechtlichen und rechtstheoretischen Debatte, die wir seit dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts in neuer Heftigkeit führen, ob die Landtage nun gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen oder nicht und wie die gesetzlichen Regelungen aussehen sollen - existieren eine ganze Reihe von Neben- und Hintergedanken, politischen Zielen und Absichten, von Ängsten und Ressentiments, die aufzuklären sind.
Die einen sind gegen das Kopftuch aus religiöser Intoleranz; andere, weil sie eigene Gewohnheiten und Vertrautheiten durch das Fremde in Frage gestellt sehen.
Die einen erhoffen sich durch Duldung des Kopftuchs auch bei Beamtinnen, insbesondere Lehrerinnen (nur um diese geht es bekanntlich) einen Beitrag zur Abwendung des "Clash of Civilisations", andere sehen darin die einzige Möglichkeit "wirkliche Religionsfreiheit" zu verwirklichen.
Die einen sind gegen das Kopftuch aus Fremdenfeindlichkeit und Überfremdungsangst, die anderen, weil sie nur so die grundgesetzliche Werteübereinkunft gewahrt sehen.
Die Einen sind gegen ein Kopftuchverbot aus Angst vor dem Bundesverfassungsgericht, die anderen wegen der befürchteten laizistischen Konsequenzen.
Die einen sind für ein Kopftuchverbot, weil sie sich davon ein Verbot aller religiösen Symbole in Schulen oder gar im öffentlichen Raum erhoffen, andere sind dagegen, weil sie genau das befürchten.
Ich selbst bin - gerade weil es in unserer Debatte nur um das Kopftuch von Lehrerinnen geht - eher für ein Verbot (mit Einschränkung). Das Kopftuch steht - so meine Wahrnehmung - für Auffassungen, die nicht mit den Werten des Grundgesetzes vereinbar sind. Und ich bin zugleich für die religiöse Neutralität des Grundgesetzes, die etwas ganz anderes ist als Laizismus. Und ich bin schließlich überzeugt, dass beides miteinander vereinbar ist und einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Religionen (unter den Bedingungen der Globalisierung wie auch) im eigenen Land leisten kann.
Diese Position gründet darauf, dass das Kopftuch kein nur oder vor allem religiöses Symbol ist, sondern noch mehr kulturelles und politisches Zeichen.
An dieser Stelle wäre ein kleiner Exkurs über den Unterschied zwischen Religion und Kultur notwendig. Wie (also) verhält es sich mit religiösen Symbolen, wie mit Kopftuch, Kreuz und Mönchskutte?
Die genannten Zeichen können Ausdruck einer religiösen Überzeugung sein, aber Kopftuch, Kreuz und Mönchskutte sind trotzdem nicht dasselbe. Und es gehört zur Redlichkeit der gegenseitigen Wahrnehmung von Religionen und der öffentlichen Diskussion über sie, die Unterschiede im Bedeutungsgehalt auch zu benennen. Ich zitiere Jürgen Moltmann, den berühmten Theologen: "Weil …nicht alle Religionen gleich sind, können auch nicht alle gleich behandelt werden. Es gibt eine Würde der Differenz, die auch öffentlich respektiert werden muss. Man muss schon einen sehr großen Abstand von Religion überhaupt haben, wenn einem die verschiedenen Symbole der Religionen alle gleich gültig erscheinen. Je näher man hinsieht, um so besser erkennt man, wofür die verschiedenen Symbole stehen, und dann muss man unterscheiden. Es gibt Symbole der Freiheit und Symbole der Unterwerfung, Symbole der Exklusivität und Symbole der offenen Gemeinschaft, Symbole des Lebens und Symbole des Tötens." (Die Zeit, 26.2.2004) Auch unter dem Aspekt religiöser Symbolik also sollten wir unterscheiden. Das christliche Kreuz ist - nach vielen Jahrhunderten in denen es wahrlich anders wahr - kein Zeichen der Unterdrückung mehr.
Und die Mönchskutte? Das Christentum kennt zunächst einmal keine spezifischen Kleidervorschriften für Gläubige. Eine Ordenstracht wird freiwillig als Ausdruck einer bestimmten Lebensform gewählt und widerspricht nicht den Verfassungsprinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Auch impliziert sie keinerlei normative Vorgaben für die Schülerseite.
Die Problematik des muslimischen Kopftuchs dagegen liegt in seiner Mehrdeutigkeit. Wenn eine Muslima das Tragen eines Tuchs als zu ihrer islamischen Glaubensüberzeugung gehörig darlegen kann, gehört das in den Schutzbereich von Artikel 4 des Grundgesetzes. In diesem Sinne ist es konsequent und richtig, die Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen beispielsweise im Einzelhandel zu unterbinden. Da der Staat sich in die innerreligiöse Hermeneutik nicht einschaltet, gilt dies unabhängig davon, ob der Koran das Tragen eines Kopftuchs vorschreibt, oder ob es sich bei dieser Sicht um eine theologische Interpretation oder um eine ganz anders motivierte kulturelle Tradition handelt, die nicht von allen geteilt wird. Das schließt freilich einen gesellschaftlichen Diskurs über diese Fragen nicht aus.
Wenn dem aber so ist, dann halte ich es für unzulässig und auch für pädagogisch fragwürdig, Kindern zu erklären, es handle sich hier nur um bloße Mode, so Frau Ludin (die Anlassgeberin zum Kopftuchstreit) gegenüber Schülern, oder um eine "therapeutische Maßnahme", das suggeriert eine Äußerung von Frau Alzayed von der Deutschen Muslim-Liga bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin im Februar: "Du trägst eine Zahnspange, ich trage ein Kopftuch". Verhielte es sich so, wäre der Kopftuchstreit bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht überflüssig.
Hält man es deshalb für unzulässig, dem islamischen Kopftuch seine religiöse Bedeutung gänzlich abzusprechen, gerät man in einen interessanten Widerspruch zur Erklärung des iranischen Präsidenten Mohammed Chatami, der zugleich hoher islamischer Geistlicher ist, in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung am 27. Januar 2004:
"Ich, als Geistlicher, sage Ihnen hier, wir haben in unseren theologischen Grundsätzen nichts, was nicht-muslimische Frauen zwingen könnte, ein Kopftuch zu tragen. Das dürfen wir nicht. Was Sie hier sehen, das ist eine gesellschaftliche Tradition in Iran, das hat mit dem Islam nichts zu tun. Und wir dürfen Menschen überhaupt nicht zwingen, ihr privates Leben auf eine bestimmte Art und Weise zu führen. Aber ich bin sicher, dass die Zeit viele von diesen Problemen lösen wird."
Das Kopftuch ist also in jedem Falle auch, Präsident Chatami bestätigt dies, ein kulturelles, ein politisch-gesellschaftliches Symbol. Dafür sprechen die Wirkung dieses starken Zeichens in der Öffentlichkeit und der objektive politisch-historische Deutungskontext des Kopftuchs. In diesem Sinne kann das Kopftuch gelten:
1. als Zeichen der Abgrenzung von der westlich-christlichen Mehrheitsgesellschaft;
2. als Zeichen, das die Unterordnung der Frau unter den Mann sinnfällig macht und damit mindestens in Spannung zu Art. 3 des Grundgesetzes - dazu komme ich noch im Einzelnen - steht, zumal der Islam keine Trennung zwischen religiösem und staatlichen Bereich kennt;
3. als möglicher Ausdruck einer Haltung, die den religiösen Geboten des Islam den Vorrang vor der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einräumt;
4. möglicherweise sogar mit dem programmatischen Ziel der Ablösung des Grundgesetzes bei anderen Mehrheitsverhältnissen.
Welcher Maßstab, welche Deutung soll nun gelten: die individuelle Sicht der Kopftuchträgerin oder die objektive Sicht/die mögliche Wirkung als demonstratives Bekenntniszeichen mit entsprechendem Deutungskontext?
Oder anders gefragt: Muss sich eine kopftuchtragende muslimische Frau die möglichen objektiven Wirkungen zurechnen lassen, selbst wenn sie ihrem Selbstverständnis widerstreiten?
Bei der Antwort auf diese Frage ist zu differenzieren: im Blick auf die eigene Religionsfreiheit: Nein. Niemand kann und will der muslimischen Frau vorschreiben, welche Folgerungen sie für sich aus ihrem Glauben zieht. Im Blick auf ihre mögliche Rolle als beamtete Lehrerin meiner Auffassung nach aber sehr wohl, denn da muss sie aktiv sicher stellen, dass ihr Verhalten der Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung entspricht.
Bei aller Vorsicht vor sich herausbildenden Stereotypen und auch vor der Gefahr einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die scheinrationale Argumente für religiöse Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit hervorbringt, muss man sich mit den Argumenten der Verteidiger des Kopftuchs inhaltlich auseinandersetzen:
1. Dem Argument, dass das Kopftuch ein freiwillig getragenes religiöses Zeichen sei, muß ich insoweit widersprechen, als die Freiwilligkeit nicht zweifelsfrei vorauszusetzen ist. Es gibt offenkundig ungezählte Fälle von Zwang und massivem sozialen Druck, dem junge Mädchen ausgesetzt sind, damit sie ein Kopftuch tragen. An diesem Zwang darf sich die Schule nicht beteiligen. Ich erinnere an Berichte von Lehrerinnen z. B. aus Berlin-Kreuzberg über zunehmenden familiären, männlich-väterlichen Druck auf islamische Mädchen, Kopftuch zu tragen, an Sportunterricht und Schulausflügen nicht teilzunehmen.
2. Das Argument, das Kopftuch sei ein Zeichen der Emanzipation der Frau, ist mir nicht verständlich, weil es historisch das Gegenteil von Emanzipation signalisiert. Wovon wollen sich die muslimischen Frauen emanzipieren und worauf ist diese gerichtet?
3. Das Argument, das Kopftuch sei nötig zur Abgrenzung von der Frauenrolle in der säkularen Gesellschaft, vermag Anlass zum gesellschaftlichen Diskurs geben. Es bestätigt zugleich seinen gesellschaftspolitischen Gehalt. Die zum Ausdruck gebrachte Differenz steht im Widerspruch zur rechtlich bereits errungenen Gleichberechtigung und tatsächlich erreichten Gleichstellung von Mann und Frau, die sich aus dem Grundgesetz ergeben.
4. Das Kernargument aus der Sicht der streitbaren Kopftuchträgerinnen selbst ist das des notwendigen Selbstschutzes. Frau Ludin hat es unmissverständlich formuliert: "Ohne Kopftuch fühle ich mich nackt." Ein solches Argument und der dahinter liegende "Anständigkeitsdiskurs" trifft den Nerv einer Gesellschaft, die um die Emanzipation der Frau einen harten Kampf geführt hat, die die Gleichstellung der Geschlechter in den Rang eines Verfassungsprinzips erhoben und die eine hohe Sensibilität für Verletzungen dieses Prinzips im Alltag entwickelt hat. Und es trifft auch den Nerv christlicher Identität. So lange ist es noch nicht her, dass eine Frau ihrem Mann vor dem Traualtar den Gehorsam schwur. Auch das Verhältnis zwischen weiblicher (und damit auch sexueller) Identität und christlicher Religion ist alles andere als unverkrampft. Das Bild der sündigen Eva ist tief in unserem kulturellen Bewusstsein verankert.
Dass eine Frau gleiche Rechte wie ein Mann hat, dass sie ihre weibliche Identität nicht verstecken muss, um als "anständig" zu gelten und vor sexuellen Übergriffen geschützt zu sein, sind große Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats. Die Einsicht, dass eine Frau in gleicher Weise wie der Mann und nicht nur in von ihm abgeleiteter Weise Bild Gottes ist, ist heute "Gott sei Dank" auch in der christlichen Theologie unstrittig.
Als sich im Januar diesen Jahres der Geburtstag Lessings zum 275. Mal jährte, war das Gelegenheit an seine Verdienste als Aufklärer und als Streiter für religiöse Toleranz zu erinnern. Bundespräsident Johannes Rau hat aus diesem Anlass eine große und überzeugende Rede zu unserem Thema gehalten. Lessings Toleranzbegriff nun erschöpfte sich nicht im Erdulden und Ertragen der anderen Religionen, sondern er rief dazu auf, sich mit den kulturellen Leistungen des Judentums und des Islam auseinanderzusetzen und sie zu respektieren. Aber damit ist keineswegs laissez-faire, Werterelativismus oder Überzeugungslosigkeit gemeint, sondern: für die eigene Identität, die eigene Kultur, die eigenen Grundwerte einzustehen, das gehört unabdingbar zur herben Tugend der Toleranz.
Das also müssen wir zusammen denken und zusammen praktizieren: den Respekt vor der anderen Religion und den Einsatz für die eigenen Überzeugungen! Und zwar um des demokratischen Rechtsstaates willen, für dessen Voraussetzungen die Gesellschaft immer neu sorgen muss, indem sie seine grundlegenden Werte immer neu stiftet und lebendig hält. "Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht", heißt es bei Alexis de Tocqueville.
Der Staat - und seine Schulen - haben sich nach unserer Verfassung gegenüber den Religionen neutral zu verhalten. Er schaltet sich nicht in die innerreligiöse Hermeneutik ein. Das ist unsere Konsequenz aus Lessings Forderung nach religiöser Toleranz.
Da wir in einer multikulturellen Gesellschaft mit einer bedeutenden islamischen Minderheit leben, bedeutet dieses Verständnis von Toleranz aber auch, dass uns zur Verteidigung des Status quo weitergehende Begründungspflichten abverlangt werden. Diese Konsequenz haben wir bislang noch nicht aus der Tatsache gezogen, dass wir uns auf ein unausgesprochenes Einverständnis, eine Grundübereinstimmung aufgrund gemeinsamer Sprache, Geschichte und Gebräuche nicht mehr ohne weiteres verlassen können (wie Mark Siemons in einem beachtenswerten Beitrag im Feuilleton der FAZ vom 17. März schrieb).
"Die Probleme beim Zusammenleben und die Konflikte mit dem Rechtsstaat", heißt es da an anderer Stelle, "entstehen ja weniger durch den religiösen Kern der verschiedenen Bekenntnisse als durch deren Einbettung in bestimmte, von politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren beeinflusste Kulturen. Diese Einbettung ist unvermeidlich, aber sie ist nicht unveränderlich. Wie alle Kulturen wandeln sich auch die religiös geprägten ständig und geben insofern auch Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Koexistenz." Das ist eine richtige Beobachtung, gespeist aus europäischer geschichtlicher Erfahrung.
Deshalb bietet sich nicht der Ausweg, durch die Unterscheidung zwischen Religion und Kultur den Kopftuchstreit zu entscheiden. Wir können nicht von Staats wegen bestimmen, ob das Kopftuch grundsätzlich religiös oder bloß kulturell ist. Dass dies im Islam selbst höchst umstritten ist, sollte uns erst recht davor zurückschrecken lassen.
Wir können das Kopftuch der muslimischen Lehrerin nur zulassen oder ablehnen aufgrund unserer eigenen, wohlbegründeten Werteentscheidung.
Auf die Vielfalt und Wandlungsprozesse islamischer Kulturen habe ich eingangs hingewiesen.
Es ist ein Jammer, dass wir in Deutschland zwar ein ungeheures Wissen über den Islam in wissenschaftlichen Archiven versammelt haben - das größte außerhalb der islamischen Welt, hat mir ein islamischer Religionslehrer in Marokko versichert - und dass wir schon geraume Zeit mit gut 3 Millionen Muslimen zusammenleben, denen aber immer noch mit Gleichgültigkeit und Unverständnis bis hin zu Ablehnung und Aggression begegnen.
Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen ist nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Für viele Muslime ist das Leben in unserer säkularisierten Gesellschaft zweifellos eine Herausforderung. Im täglichen Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen irritieren dabei nicht so sehr die unterschiedlichen Religionen, sondern vor allem die unterschiedlichen Einstellungen zum Glauben.
Und obwohl das Grundgesetz die Freiheit der Religion und der Ausübung des Glaubens garantiert und obwohl die Zahl der islamischen Gebetsräume und Moscheen bei uns im Lande ständig wächst, haben viele Muslime offenbar Angst davor, diesen eigenen Glauben nicht mehr leben zu können. Sie fürchten, nach und nach ihre religiös-kulturelle Identität zu verlieren, und reagieren mit bewusster Abgrenzung oder gar Abschottung.
Deshalb handelt der Kopftuchstreit natürlich auch von Integration, was sie für wen bedeutet und wie weit sie gehen soll. Hierauf gibt es keine einfachen Antworten. Nur, dass Integragion konfliktfrei verlaufen könnte, das kann man wohl sicher ausschließen.
Die letztlich entscheidende Frage hat Böckenförde (in seinem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Januar 2004) formuliert. Ich zitiere: "Die relevante Frage ist deshalb nur, was sich aus einer politischen Dimension des Kopftuches für dessen Zulassung oder Verbot ergeben kann."
Das Urteil des Verfassungsgerichts lässt beides zu: ein Verbot oder eine Zulassung in einem bestimmten Umfang. Die Abwehr konkreter Gefahren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollten uns bei unseren Überlegungen leiten.
Ich habe - jeweils mit einem Schwerpunkt darauf, den Dialog der Kulturen in Gang zu halten - fast alle eingangs aufgezählten islamischen Staaten besucht und nicht nur durch Augenschein sondern in unzähligen Debatten bestätigt bekommen, dass es natürlich einen Zusammenhang zwischen den angeblich religiös bestimmten Bekleidungsvorschriften und der Diskriminierung der Frau gibt. Diese Diskriminierung wird bestenfalls dadurch bestätigt, dass man erklärt und mancherorts auch auf überzeugende Taten verweisen kann, sie überwinden zu wollen.
Nicht selten wird zur eigenen Entlastung - aber ja durchaus zu Recht - auf die Defizite verwiesen, die Deutschland noch immer hat, wenn es um die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen geht.
Ähnlichkeit mit unserem Status quo gibt es allerdings nur dort, wo Frauen noch keine oder nur wenige Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft eingenommen haben.
Aber jenseits unseres Verfassungsanspruchs liegt es eindeutig, Frauen auf das häusliche Leben zu beschränken, sie von öffentlicher Verantwortung fern zu halten, sie aus dem öffentlichen Leben insgesamt auszuschließen oder sie schließlich gar zum bloßen Anhängsel, zum Eigentum des Mannes herabzuwürdigen, wie ich es im Jemen gerade erlebt habe.
Dort und im Iran, wo vollständige Verhüllung erzwungen wird, sind beispielsweise weibliche Richter unvorstellbar. Vermutlich wird sich das im Iran aber schneller ändern als im Jemen, aus vielen Gründen, einer davon ist, dass die iranischen Frauen ein hohes Bildungsniveau haben, die jemenitischen aber zu schätzungsweise 80 Prozent Analphabetinnen sind.
Diesen kurzen Erfahrungsbericht könnte man als Schreckensszenario missverstehen. Tatsächlich zeigt es ein unakzeptables Frauenbild, aber es zeigt vor allem sehr unterschiedliche kulturelle Entwicklungsstände. Diese unterschiedlichen Entwicklungsstände sind hier in Deutschland anwesend.
Deshalb sollte unsere Entscheidung im Kopftuchstreit nicht ganz außer Acht lassen, ob und wie sie auf diese verschiedenen kulturellen Prägungen wirkt, sie sollte aber vor allem in Rechung stellen, welche Auswirkungen sie für die Integration dieser verschiedenen muslimischen Kulturen hat.
Da wir uns also laut Verfassungsgericht für wie gegen ein Verbot des muslimischen Kopftuchs für Lehrerinnen in Schule und Unterricht entscheiden können, da wir dabei nicht eine endgültige Entscheidung treffen können, ob es sich um ein religiöses Symbol oder gar eine Vorschrift handelt oder nicht, was (ich wiederhole) im Islam selbst umstritten ist, und da wir eine wie immer begründete Diskriminierung der Frau nicht akzeptieren dürfen, müssen wir eine Güterabwägung vornehmen zwischen der individuellen Religionsfreiheit und der weltanschaulichen Neutralität der Schule und der besonderen Verpflichtung von Beamten gegenüber dem Grundgesetz.
Demnach sind folgende Alternativen denkbar:
1. Wer die hohe Bedeutung der Glaubensfreiheit betont und die staatliche Neutralität im Sinne einer Kooperation in den Vordergrund rückt und die Schule nicht als religionsfreien Raum betrachtet, wird dem Islam Gleiches zubilligen wie dem Christentum und für die grundsätzliche Zulassung eines Kopftuchs votieren. Konkrete Schwierigkeiten wären im Einzelfall disziplinarisch zu ahnden. Diese Position ist angesichts der offensichtlichen Mehrdeutigkeit des Kopftuches problematisch.
2. Wer das Kopftuch als sowohl politisch-gesellschaftliches Symbol als auch als Ausdruck für eine Interpretation des Islam betrachtet, das für eine Parallel- oder sogar eine Gegengesellschaft zur westlich-demokratischen deutschen Gesellschaft und gegen den säkularen Rechtsstaat steht, wird sich auf das Argument stützen, dass das islamische Kopftuch im Widerspruch zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes steht. Das Kopftuch vermittelt in diesem Sinn die islamische Vorstellung von einem niederen Rang der Frau. Ein Verbot eines solchen Symbols, das eben mit dem grundgesetzlichen Gebot der Gleichberechtigung von Frau und Mann nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, das mithin die Diskriminierung verfestigt, wäre die notwendige Konsequenz. Hinzu kommt, dass das gedeihliche Zusammenwirken in der Schule, mithin der Schulfrieden gefährdet wäre. Die Kinder und Jugendlichen in unserem Land sollen erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung der Überzeugung des anderen - ein Lehrer muss im Unterricht diese Grundwerte der Verfassung glaubhaft vermitteln können. Dem Staat ist es verwehrt, aus vermeintlicher Toleranz auf diese persönlichen Anforderungen an seine Lehrer zu verzichten. Er ist zur Erfüllung seines Erziehungsauftrages auf Lehrer angewiesen, die sich vorbehalts- und widerspruchsfrei zu unserer Verfassung und ihren Werten bekennen.
Die Religionsfreiheit wäre durch ein solches Verbot meines Erachtens schon deshalb nicht tangiert, weil es sich um eine bloße Konkretisierung des besonderen Treueverhältnisses von Beamten gegenüber dem Grundgesetz handelt. Folglich finde ich den Vorschlag aus mehreren Bundesländern (Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen) überzeugend, einem entsprechend neutral formulierten Verbot einen Erlaubnisvorbehalt hinzuzufügen. Die Formulierung für das Verbot lautet vorläufig:
"... im Dienste keine Kleidung oder Zeichen [zu] tragen..., deren objektiver Erklärungsgehalt zu den Grundwerten der Verfassung, insbesondere der Menschenwürde sowie den Freiheits- und Gleichheitsrechten, in Widerspruch steht und die geeignet sind, den Schulfrieden zu beeinträchtigen..."
Verbot und Erlaubnisvorbehalt folgen aus einer möglichst umfassenden Güterabwägung mit dem hohen Gut von Artikel 4 des Grundgesetzes, der Religionsfreiheit, und entsprechen der Lebenswirklichkeit, die natürlich auch Kopftuchträgerinnen kennt, die sich freiwillig dazu entschließen und keine inkriminierten Absichten verfolgen. Der Umstand, dass das Kopftuch objektiv eine politische Botschaft vermittelt, nämlich ein bestimmtes Frauenbild, das mit Art. 3 GG nicht vereinbar ist, begründet das generelle Verbot. Der Umstand, dass das Kopftuch subjektiv auch schlichter Ausdruck eines individuellen religiösen Bekenntnisses und der Zugehörigkeit zum Islam in seiner Vielfältigkeit sein kann, begründet die Möglichkeit der Ausnahme.
Der Vorschlag kehrt die Beweislast um: Die Bewerberin muss zeigen, dass sie auch mit Kopftuch grundgesetzkonform unterrichten wird. Mit anderen Worten, von einer Lehrerin oder einer Lehramtsbewerberin, die ihr Kopftuch aus religiösen Motiven nicht ablegen möchte, kann wegen des mehrdeutigen und, wie dargelegt, auch diskriminierenden Gehalts des Kopftuches verlangt werden, glaubhaft zu machen, dass sie für unser Grundgesetz, für Gleichberechtigung und Toleranz eintritt. Dabei muss ein Verfahren gewählt werden, dem objektiv nachvollziehbare Kriterien zugrunde liegen und das nicht in einer "Gesinnungsprüfung" mündet. Damit sollte zudem sichergestellt sein, dass keine Muslima gehindert ist, Beamtin zu werden, wenn sie den beamtenrechtlichen Dienstpflichten nachkommt und ihre Rechtstreue zweifelsfrei feststeht.
Der Vorwurf, dass ein Verbot eine Diskriminierung im Sinne des Geschlechts (Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention) darstellt, ist - unabhängig von der ja möglichen geschlechtsneutralen Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung - meines Erachtens nicht berechtigt. Das Verbot zielt nicht auf die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, sondern dient dem legitimen Zweck der Beachtung der Neutralität des staatlichen Unterrichts.
Gegen eine solche Regelung könnte weder der Vorwurf erhoben werden, die Religionsfreiheit würde gefährdet, noch könnten wir uns umgekehrt den Vorwurf machen, wir würden unsere eigenen Verfassungsgebote und unsere eigenen Bemühungen um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter falsch verstandener religiöser oder kultureller Toleranz opfern.
Ich teile die Befürchtung nicht - den Wunsch schon gar nicht - wir könnten uns damit auf einer Rutschbahn zum Laizismus bewegen.
Mit einer solchen behutsamen Regelung vermeiden wir übrigens auch eine Einmischung in den innerislamischen Streit, ob es sich um ein strikt religiöses Symbol handelt und ob es als solches für Musliminnen zwingend ist.
Eine solche Einmischung nämlich - nun zitiere ich noch einmal Mark Siemons - würde die hoffnungsvollen kulturellen Wandlungsprozess gefährden."… wenn sich staatliche Gewalten anmaßten, 'Kulturen' und 'Identitäten' … ein für allemal fixieren zu wollen und würde das als eine "sich selbst erfüllende Prophezeiung die Konflikte erst schüren, die sie zu lösen beanspruchte".
Religion ist keine Privatsache, sie gehört aus vielen Gründen in die Öffentlichkeit. "Religionen gehören wie die Künste, die Presse und die übrigen Gedanken zur gesellschaftlichen Selbstbestimmung, die man nicht ungestraft unterdrückt."
Im Kopftuchstreit haben wir mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sich hinter dem religiösen Motiv, ein Kopftuch zu tragen, das politische Motiv verbirgt, die Diskriminierung der Frau zu verfestigen statt sie aufzuheben. Diese Wahrnehmung ist solange berechtigt, wie der Islam - bei den erwähnten Ausnahmen - beansprucht, auch alleinige Richtschnur für Politik und Kultur zu sein.
Gelöst werden kann diese Schwierigkeit nur durch Mäßigung der Religion. Noch einmal aus dem erwähnten Artikel: "Die demokratische Öffentlichkeit muss fortwährend auf die Unterscheidung der Ebenen dringen, damit politische Argumente politisch begründet werden und religiöse religiös. Eine wie auch immer verschleierte machtpolitische Ideologisierung der Religion darf kein säkularer Staat dulden." Das heißt, wir müssen angesichts des Kopftuchstreits aufpassen, dass wir in unserem Bemühen um religiöse Toleranz nicht nachlassen, nicht sogar wieder zurückfallen vor Lessing und in religiös motivierte Machtkämpfe. Von unseren Mitbürgern und Mitbürgerinnen islamischen Glaubens können und müssen wir dieselbe Mäßigung der Religion erwarten und ebenso dass sie sich den für alle gleichen rechtsstaatlichen Regeln beugen.
Seit einem halben Jahr, seit dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 24. September 2003 hält eine Debatte an und will an Schärfe nicht verlieren: der sogenannte Kopftuchstreit. In ihm geht es über das konkrete Thema hinaus um grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion, um Religionsfreiheit und staatlichen Erziehungsauftrag, um kulturelle Identität und Integration. Dass wir in Zeiten des Terrorismus, immer neuer und näher rückender terroristischer Gefährdungen darüber diskutieren, befördert Gelassenheit und Differenzierung nicht unbedingt. Aber gerade deshalb müssen wir uns dazu immer wieder neu durchringen. Denn die Abwehr der terroristischen Gefahr darf nicht selbst zur Gefährdung unseres demokratischen Rechtsstaates und seiner Verfassung und Grundwerte führen!
Ich will als katholischer Christ ganz deutlich sagen: Ich bin selbstverständlich für eine Gleichbehandlung von Religionen, wie es unser Grundgesetz vorsieht. Wir haben keine Staatsreligion verbunden mit religiöser Toleranz, sondern - worauf der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde zu Recht immer wieder hingewiesen hat - der Staat erklärt sich gegenüber den Religionen und Weltanschauungen für neutral. Ich zitiere Böckenförde: "Unser Staat ist der Religion gegenüber neutral und deshalb offen. Er unterscheidet sich dadurch vom laizistischen Staat, der auf Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben ausgerichtet ist. Der säkulare Staat hingegen gewährt der Religion freien privaten und öffentlchen Entfaltungsraum, ohne sich mit ihr irgendwie zu identifizieren oder sich für religiöse Zwecke in Dienst nehmen zu lassen."
Dies ist gerade auch für Christen in der Politik - nicht nur, aber auch in dieser Debatte - von außerordentlicher Bedeutung: Wie anders als durch die Trennung von Kirche und Staat könnte Religionsfreiheit gewährleistet werden? Die Religionsfreiheit, auf die sich auch Muslime bei uns mit Recht berufen!
Das Christentum hat auch nach den blutigen europäischen Religionskriegen lange gebraucht, um die Trennung von Kirche und Staat zu akzeptieren. Diesen Weg zu Toleranz und Religionsfreiheit ist meine, die katholische Kirche endgültig erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 gegangen.
Das war ein wichtiger, mühseliger Prozess der Mäßigung von Religion. Diese schwierige aber notwendige Erfahrung und Entscheidung ist eine unbedingte Voraussetzung für den inneren Frieden unserer Gesellschaft. Nur wenn sie gegeben ist, gilt: Wer bei uns lebt, braucht seine kulturelle Herkunft und seine Religion nicht zu verleugnen. Er muss aber bereit sein, die Grundwerte unserer Verfassung und unsere demokratischen Regeln zu akzeptieren. Die meisten Muslime, die bei uns leben, wissen den Schutz unserer Verfassung und die Offenheit dieser Gesellschaft wohl zu schätzen. Fast 90 Prozent aller in Deutschland lebenden Muslime wollen auch hier bleiben und viele von ihnen sind bereit, sich um die Integration in diese Gesellschaft zu bemühen.
Ohne dieses Fundament der Religionsfreiheit - aktiv wie passiv - und ohne die Konsequenz daraus, die Trennung von Kirche und Staat, die klare Unterscheidung von Religion und Politik, wäre die Diskussion, die wir heute hier führen, eigentlich gar nicht vorstellbar.
Deshalb muss es grundsätzlich um beides gehen: um die tatsächliche Praxis von der Religionsfreiheit einerseits und um die Sicherung der religiösen Neutralität des Staates andererseits. Lassen Sie mich deshalb - etwas ausführlicher - die meines Erachtens besonders präzise Definition von Religionsfreiheit, wie sie Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert hat, zitieren:
"Die Religionsfreiheit ist ein volles Freiheitsrecht, nicht nur eine Freiheit der Religion. Sie umfasst einerseits die Freiheit zum Glauben, zum Bekenntnis dieses Glaubens und zur öffentlichen Ausübung der Religion, andererseits aber ebenso die Freiheit, einen Glauben nicht zu haben oder sich von einem gehabten Glauben abzuwenden, das heißt ohne Glauben, Bekenntnis, öffentliche Religionsausübung zu leben. Sie ist mithin nicht eine Garantie der Religion, ihres Bestandes oder Fortbestandes, sondern nur die Garantie der Möglichkeit, dass Religion bestehen und fortbestehen kann. Religion und Bekenntnis können in Freiheit ergriffen und fortgetragen werden; sie bestehen solange - aber auch nur solange - als dies geschieht.
Religionsfreiheit als Grundrecht gehört der staatlichen Rechtsordnung an. Sie ist ein äußeres Recht, richtet sich gegen Übergriffe anderer Menschen und Übergriffe der staatlichen Gewalt. Sie betrifft nicht das Verhältnis des Menschen zu Gott und auch nicht die Stellung des Einzelnen innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Eine moralische Pflicht des Menschen Gott gegenüber, die Wahrheit zu suchen und dasjenige, was er im Glauben als Wahrheit erkennt, zu ergreifen und danach zu handeln, lässt sie unberührt."
Der Streit über das Kopftuch - ein symbolträchtiger Anlass für eben sehr grundsätzliche Erwägungen, die den nötigen Entscheidungen voraus gehen müssen - kann nicht wirklich ausgefochten werden, ohne die eigene europäische Geschichte in den Blick zu nehmen und auch nicht, ohne die aktuellen Modernisierungskonflikte im Islam zu betrachten. Wir stoßen dann auf problematische Ungleichzeitigkeiten ebenso wie auf erhellende Parallelen, die für das wechselseitige Verständnis der Religionen und Kulturen von Bedeutung sind. Der Dialog der Religionen und der Kulturen wird ohne dieses Verständnis nicht wirklich, nicht wirksam, stattfinden können.
Das europäische Christentum hat überhaupt keinen Grund, sich angesichts inner-islamischer Konflikte stolz in die Brust zu werfen. Wir haben Jahrhunderte lang religiös motivierte Kriege geführt, wenn Sie so wollen: innerchristliche Konflikte mit der Waffe ausgefochten und selbst nach dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges noch einmal rund 300 Jahre benötigt, um den heutigen Stand der Dinge zu erreichen.
Der Islam befindet sich heute in vergleichbaren Auseinandersetzungen. Die einen wollen - aus meiner Sicht zurück - auf eine Verabsolutierung des Religiösen als verbindlichen Maßstab sowohl für die Gestaltung des Lebens jedes Gläubigen als auch für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten. Die anderen wollen den Koran als zwar heiligen, aber doch historischen und damit interpretierbaren Text, sodass vielfältige Folgerungen daraus für das Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft gezogen werden können. Darunter auch die Einsicht, dass er für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten nicht unmittelbares Gesetz sein kann.
Die Realität in den islamischen Staaten ist folglich von einer Vielfalt, die hierzulande nur von Wenigen überhaupt wahrgenommen wird. Ich will das gar nicht theologisch erörtern; man könnte Vergleiche heranziehen des Zivilrechts, des Familienrechts in verschiedenen islamischen Ländern, man kann aber auch den Augenschein bemühen. Die Unterschiede sind greifbar, ob man in Tunesien oder Marokko, ob man in Jordanien oder Palästina, ob man in der Türkei oder im Iran, in Saudi-Arabien oder im Jemen ist. Vielleicht sind die Türkei und Ägypten besonders geeignete Beispiele, weil man dort viele Strömungen zugleich findet: Verabsolutierung der Religion, Festhalten an Traditionen, die mit dem Islam, dem Koran nichts zu tun haben, Überwindung solcher Traditionen, Angst vor Freiheit und Streben nach Freiheit, Streben nach Vereinbarkeit tiefer Religiosität mit der Moderne und fundamentalistische Ablehnung der Moderne mit religiösen Begründungen. Alle Schattierungen von Verabsolutierung bestimmter Lesarten des Islam bis zur Mäßigung der Religion. Der jordanische Prinz (und Bruder des verstorbenen Königs) Al Hassan Bin Talal geht vor diesem Hintergrund so weit zu erklären, dass es keinen Streit der Kulturen, also "des" Islam mit "dem" Westen gebe, sondern dass es sich stets um inner-islamische Konflikte handele.
Solche Konflikte hat es auch im europäischen Christentum gegeben: das Schisma, die Hexenverbrennungen, die heilige Inquisition, den 30-jährigen Krieg bis zu deren Überwindung im Streben nach Ökumene in offenen Zivilgesellschaften. Wir können die blutige Art und Weise, auf der diese Konflikte in Europa über einen so langen Zeitraum ausgetragen wurde, den islamischen Gesellschaften weiß Gott nicht zur Nachahmung empfehlen.
Ich erinnere an diese Parallele, weil sie helfen kann, die Konflikte im Islam zu verstehen, weil sie hilft, den Islam nicht als monolithischen Block zu begreifen und weil sie hilft, die vorwiegend negativen Schlagzeilen über Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit nicht für den Islam insgesamt zu halten. Sie sind nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber (ein wenig) Wahrheit haben sie doch. Ich zitiere einen brillanten islamischen Intellektuellen, den in Deutschland lebenden Schriftsteller Navid Kermani: "Fast alle Muslime hierzulande und die meisten Islamwissenschaftler ärgern sich über das verzerrte Bild, das die Medien vom Islam zeichnen. Aber dieses Bild wäre niemals so sehr in den Vordergrund gerückt, wenn nicht genug Muslime - Terroristen, Theologen, Staatsführer - exakt jener Karikatur des Islams entsprächen, die den Gläubigen und Kennern aufstößt. Es mag ein Feindbild Islam geben. Aber schlimmer ist, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind geriert."
Zugleich (aber) wehrt sich Karmani gegen die flotten, oberflächlichen Urteile von Europäern über den islamischen Glauben. Wir sollten uns zurückhalten, vielleicht gar heraushalten aus dem innerislamischen Streit.
Ich bin ganz einverstanden damit, jedenfalls im Prinzip. Das - vorsichtig gesagt - Spannungsverhältnis zwischen der universellen Geltung der Menschenrechte, dem Streben nach höherem Wohlstand einerseits und tradierten kulturellen und religiösen Prägungen andererseits wird am ehesten bewältigt und vielleicht sogar aufgelöst, wenn die verschiedenen Kulturen ihren eigenen Weg zum Ziel finden.
Nur kann weder die Menschenrechtscharta dafür aufgegeben werden, noch kann die Forderung nach Mäßigung der Religion, nach Unterscheidung von Religion und Politik fallen gelassen werden. Lassen Sie uns vielmehr für die Einsicht werben, dass mangelnder Respekt vor anderen Überzeugungen die Substanz des eigenen Glaubens beschädigt, der für Christen wie für Muslime auch Glaube an die Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen, also an die Würde des Menschen ist.
Globalisierung und Migration unterstreichen die Notwendigkeit dieser Forderungen, weil wir es uns nicht mehr aussuchen können, ob wir mit Angehörigen fremder Kulturen zusammenleben wollen. Im Gegenteil: angesichts der engen Nachbarschaft und Verflechtung zwischen den Kulturen gilt nicht mehr nur national sondern auch global: friedliches Zusammenleben der Religionen ist nur bei Freiheit und Mäßigung der Religionen zugleich, also bei religiöser Toleranz möglich.
Vor diesem Hintergrund nun kann der Blick nach innen gerichtet werden, auf unsere Gesellschaft, in der gut 3 Millionen Muslime leben, auf unseren Kopftuchstreit, auf unsere Selbstverständigung. Wenn wir uns - in den genannten Grenzen - aus der Selbstverständigung islamischer Gesellschaften heraushalten wollen, so müssen wir doch unsere eigene Selbstverständigung in einer längst multikulturellen Gesellschaft immer wieder vornehmen und dabei auch bedenken, ob und wie wir mit unserem eigenen Verhalten Einfluss nehmen auf inner-islamische Konflikte und auf eine Gestaltung der globalen Verhältnisse, die das friedliche Zusammenleben der Religionen und Kulturen zum Ziel hat.
Neben der rechtlichen und rechtstheoretischen Debatte, die wir seit dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts in neuer Heftigkeit führen, ob die Landtage nun gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen oder nicht und wie die gesetzlichen Regelungen aussehen sollen - existieren eine ganze Reihe von Neben- und Hintergedanken, politischen Zielen und Absichten, von Ängsten und Ressentiments, die aufzuklären sind.
Die einen sind gegen das Kopftuch aus religiöser Intoleranz; andere, weil sie eigene Gewohnheiten und Vertrautheiten durch das Fremde in Frage gestellt sehen.
Die einen erhoffen sich durch Duldung des Kopftuchs auch bei Beamtinnen, insbesondere Lehrerinnen (nur um diese geht es bekanntlich) einen Beitrag zur Abwendung des "Clash of Civilisations", andere sehen darin die einzige Möglichkeit "wirkliche Religionsfreiheit" zu verwirklichen.
Die einen sind gegen das Kopftuch aus Fremdenfeindlichkeit und Überfremdungsangst, die anderen, weil sie nur so die grundgesetzliche Werteübereinkunft gewahrt sehen.
Die Einen sind gegen ein Kopftuchverbot aus Angst vor dem Bundesverfassungsgericht, die anderen wegen der befürchteten laizistischen Konsequenzen.
Die einen sind für ein Kopftuchverbot, weil sie sich davon ein Verbot aller religiösen Symbole in Schulen oder gar im öffentlichen Raum erhoffen, andere sind dagegen, weil sie genau das befürchten.
Ich selbst bin - gerade weil es in unserer Debatte nur um das Kopftuch von Lehrerinnen geht - eher für ein Verbot (mit Einschränkung). Das Kopftuch steht - so meine Wahrnehmung - für Auffassungen, die nicht mit den Werten des Grundgesetzes vereinbar sind. Und ich bin zugleich für die religiöse Neutralität des Grundgesetzes, die etwas ganz anderes ist als Laizismus. Und ich bin schließlich überzeugt, dass beides miteinander vereinbar ist und einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Religionen (unter den Bedingungen der Globalisierung wie auch) im eigenen Land leisten kann.
Diese Position gründet darauf, dass das Kopftuch kein nur oder vor allem religiöses Symbol ist, sondern noch mehr kulturelles und politisches Zeichen.
An dieser Stelle wäre ein kleiner Exkurs über den Unterschied zwischen Religion und Kultur notwendig. Wie (also) verhält es sich mit religiösen Symbolen, wie mit Kopftuch, Kreuz und Mönchskutte?
Die genannten Zeichen können Ausdruck einer religiösen Überzeugung sein, aber Kopftuch, Kreuz und Mönchskutte sind trotzdem nicht dasselbe. Und es gehört zur Redlichkeit der gegenseitigen Wahrnehmung von Religionen und der öffentlichen Diskussion über sie, die Unterschiede im Bedeutungsgehalt auch zu benennen. Ich zitiere Jürgen Moltmann, den berühmten Theologen: "Weil …nicht alle Religionen gleich sind, können auch nicht alle gleich behandelt werden. Es gibt eine Würde der Differenz, die auch öffentlich respektiert werden muss. Man muss schon einen sehr großen Abstand von Religion überhaupt haben, wenn einem die verschiedenen Symbole der Religionen alle gleich gültig erscheinen. Je näher man hinsieht, um so besser erkennt man, wofür die verschiedenen Symbole stehen, und dann muss man unterscheiden. Es gibt Symbole der Freiheit und Symbole der Unterwerfung, Symbole der Exklusivität und Symbole der offenen Gemeinschaft, Symbole des Lebens und Symbole des Tötens." (Die Zeit, 26.2.2004) Auch unter dem Aspekt religiöser Symbolik also sollten wir unterscheiden. Das christliche Kreuz ist - nach vielen Jahrhunderten in denen es wahrlich anders wahr - kein Zeichen der Unterdrückung mehr.
Und die Mönchskutte? Das Christentum kennt zunächst einmal keine spezifischen Kleidervorschriften für Gläubige. Eine Ordenstracht wird freiwillig als Ausdruck einer bestimmten Lebensform gewählt und widerspricht nicht den Verfassungsprinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Auch impliziert sie keinerlei normative Vorgaben für die Schülerseite.
Die Problematik des muslimischen Kopftuchs dagegen liegt in seiner Mehrdeutigkeit. Wenn eine Muslima das Tragen eines Tuchs als zu ihrer islamischen Glaubensüberzeugung gehörig darlegen kann, gehört das in den Schutzbereich von Artikel 4 des Grundgesetzes. In diesem Sinne ist es konsequent und richtig, die Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen beispielsweise im Einzelhandel zu unterbinden. Da der Staat sich in die innerreligiöse Hermeneutik nicht einschaltet, gilt dies unabhängig davon, ob der Koran das Tragen eines Kopftuchs vorschreibt, oder ob es sich bei dieser Sicht um eine theologische Interpretation oder um eine ganz anders motivierte kulturelle Tradition handelt, die nicht von allen geteilt wird. Das schließt freilich einen gesellschaftlichen Diskurs über diese Fragen nicht aus.
Wenn dem aber so ist, dann halte ich es für unzulässig und auch für pädagogisch fragwürdig, Kindern zu erklären, es handle sich hier nur um bloße Mode, so Frau Ludin (die Anlassgeberin zum Kopftuchstreit) gegenüber Schülern, oder um eine "therapeutische Maßnahme", das suggeriert eine Äußerung von Frau Alzayed von der Deutschen Muslim-Liga bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin im Februar: "Du trägst eine Zahnspange, ich trage ein Kopftuch". Verhielte es sich so, wäre der Kopftuchstreit bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht überflüssig.
Hält man es deshalb für unzulässig, dem islamischen Kopftuch seine religiöse Bedeutung gänzlich abzusprechen, gerät man in einen interessanten Widerspruch zur Erklärung des iranischen Präsidenten Mohammed Chatami, der zugleich hoher islamischer Geistlicher ist, in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung am 27. Januar 2004:
"Ich, als Geistlicher, sage Ihnen hier, wir haben in unseren theologischen Grundsätzen nichts, was nicht-muslimische Frauen zwingen könnte, ein Kopftuch zu tragen. Das dürfen wir nicht. Was Sie hier sehen, das ist eine gesellschaftliche Tradition in Iran, das hat mit dem Islam nichts zu tun. Und wir dürfen Menschen überhaupt nicht zwingen, ihr privates Leben auf eine bestimmte Art und Weise zu führen. Aber ich bin sicher, dass die Zeit viele von diesen Problemen lösen wird."
Das Kopftuch ist also in jedem Falle auch, Präsident Chatami bestätigt dies, ein kulturelles, ein politisch-gesellschaftliches Symbol. Dafür sprechen die Wirkung dieses starken Zeichens in der Öffentlichkeit und der objektive politisch-historische Deutungskontext des Kopftuchs. In diesem Sinne kann das Kopftuch gelten:
1. als Zeichen der Abgrenzung von der westlich-christlichen Mehrheitsgesellschaft;
2. als Zeichen, das die Unterordnung der Frau unter den Mann sinnfällig macht und damit mindestens in Spannung zu Art. 3 des Grundgesetzes - dazu komme ich noch im Einzelnen - steht, zumal der Islam keine Trennung zwischen religiösem und staatlichen Bereich kennt;
3. als möglicher Ausdruck einer Haltung, die den religiösen Geboten des Islam den Vorrang vor der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einräumt;
4. möglicherweise sogar mit dem programmatischen Ziel der Ablösung des Grundgesetzes bei anderen Mehrheitsverhältnissen.
Welcher Maßstab, welche Deutung soll nun gelten: die individuelle Sicht der Kopftuchträgerin oder die objektive Sicht/die mögliche Wirkung als demonstratives Bekenntniszeichen mit entsprechendem Deutungskontext?
Oder anders gefragt: Muss sich eine kopftuchtragende muslimische Frau die möglichen objektiven Wirkungen zurechnen lassen, selbst wenn sie ihrem Selbstverständnis widerstreiten?
Bei der Antwort auf diese Frage ist zu differenzieren: im Blick auf die eigene Religionsfreiheit: Nein. Niemand kann und will der muslimischen Frau vorschreiben, welche Folgerungen sie für sich aus ihrem Glauben zieht. Im Blick auf ihre mögliche Rolle als beamtete Lehrerin meiner Auffassung nach aber sehr wohl, denn da muss sie aktiv sicher stellen, dass ihr Verhalten der Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung entspricht.
Bei aller Vorsicht vor sich herausbildenden Stereotypen und auch vor der Gefahr einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die scheinrationale Argumente für religiöse Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit hervorbringt, muss man sich mit den Argumenten der Verteidiger des Kopftuchs inhaltlich auseinandersetzen:
1. Dem Argument, dass das Kopftuch ein freiwillig getragenes religiöses Zeichen sei, muß ich insoweit widersprechen, als die Freiwilligkeit nicht zweifelsfrei vorauszusetzen ist. Es gibt offenkundig ungezählte Fälle von Zwang und massivem sozialen Druck, dem junge Mädchen ausgesetzt sind, damit sie ein Kopftuch tragen. An diesem Zwang darf sich die Schule nicht beteiligen. Ich erinnere an Berichte von Lehrerinnen z. B. aus Berlin-Kreuzberg über zunehmenden familiären, männlich-väterlichen Druck auf islamische Mädchen, Kopftuch zu tragen, an Sportunterricht und Schulausflügen nicht teilzunehmen.
2. Das Argument, das Kopftuch sei ein Zeichen der Emanzipation der Frau, ist mir nicht verständlich, weil es historisch das Gegenteil von Emanzipation signalisiert. Wovon wollen sich die muslimischen Frauen emanzipieren und worauf ist diese gerichtet?
3. Das Argument, das Kopftuch sei nötig zur Abgrenzung von der Frauenrolle in der säkularen Gesellschaft, vermag Anlass zum gesellschaftlichen Diskurs geben. Es bestätigt zugleich seinen gesellschaftspolitischen Gehalt. Die zum Ausdruck gebrachte Differenz steht im Widerspruch zur rechtlich bereits errungenen Gleichberechtigung und tatsächlich erreichten Gleichstellung von Mann und Frau, die sich aus dem Grundgesetz ergeben.
4. Das Kernargument aus der Sicht der streitbaren Kopftuchträgerinnen selbst ist das des notwendigen Selbstschutzes. Frau Ludin hat es unmissverständlich formuliert: "Ohne Kopftuch fühle ich mich nackt." Ein solches Argument und der dahinter liegende "Anständigkeitsdiskurs" trifft den Nerv einer Gesellschaft, die um die Emanzipation der Frau einen harten Kampf geführt hat, die die Gleichstellung der Geschlechter in den Rang eines Verfassungsprinzips erhoben und die eine hohe Sensibilität für Verletzungen dieses Prinzips im Alltag entwickelt hat. Und es trifft auch den Nerv christlicher Identität. So lange ist es noch nicht her, dass eine Frau ihrem Mann vor dem Traualtar den Gehorsam schwur. Auch das Verhältnis zwischen weiblicher (und damit auch sexueller) Identität und christlicher Religion ist alles andere als unverkrampft. Das Bild der sündigen Eva ist tief in unserem kulturellen Bewusstsein verankert.
Dass eine Frau gleiche Rechte wie ein Mann hat, dass sie ihre weibliche Identität nicht verstecken muss, um als "anständig" zu gelten und vor sexuellen Übergriffen geschützt zu sein, sind große Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats. Die Einsicht, dass eine Frau in gleicher Weise wie der Mann und nicht nur in von ihm abgeleiteter Weise Bild Gottes ist, ist heute "Gott sei Dank" auch in der christlichen Theologie unstrittig.
Als sich im Januar diesen Jahres der Geburtstag Lessings zum 275. Mal jährte, war das Gelegenheit an seine Verdienste als Aufklärer und als Streiter für religiöse Toleranz zu erinnern. Bundespräsident Johannes Rau hat aus diesem Anlass eine große und überzeugende Rede zu unserem Thema gehalten. Lessings Toleranzbegriff nun erschöpfte sich nicht im Erdulden und Ertragen der anderen Religionen, sondern er rief dazu auf, sich mit den kulturellen Leistungen des Judentums und des Islam auseinanderzusetzen und sie zu respektieren. Aber damit ist keineswegs laissez-faire, Werterelativismus oder Überzeugungslosigkeit gemeint, sondern: für die eigene Identität, die eigene Kultur, die eigenen Grundwerte einzustehen, das gehört unabdingbar zur herben Tugend der Toleranz.
Das also müssen wir zusammen denken und zusammen praktizieren: den Respekt vor der anderen Religion und den Einsatz für die eigenen Überzeugungen! Und zwar um des demokratischen Rechtsstaates willen, für dessen Voraussetzungen die Gesellschaft immer neu sorgen muss, indem sie seine grundlegenden Werte immer neu stiftet und lebendig hält. "Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht", heißt es bei Alexis de Tocqueville.
Der Staat - und seine Schulen - haben sich nach unserer Verfassung gegenüber den Religionen neutral zu verhalten. Er schaltet sich nicht in die innerreligiöse Hermeneutik ein. Das ist unsere Konsequenz aus Lessings Forderung nach religiöser Toleranz.
Da wir in einer multikulturellen Gesellschaft mit einer bedeutenden islamischen Minderheit leben, bedeutet dieses Verständnis von Toleranz aber auch, dass uns zur Verteidigung des Status quo weitergehende Begründungspflichten abverlangt werden. Diese Konsequenz haben wir bislang noch nicht aus der Tatsache gezogen, dass wir uns auf ein unausgesprochenes Einverständnis, eine Grundübereinstimmung aufgrund gemeinsamer Sprache, Geschichte und Gebräuche nicht mehr ohne weiteres verlassen können (wie Mark Siemons in einem beachtenswerten Beitrag im Feuilleton der FAZ vom 17. März schrieb).
"Die Probleme beim Zusammenleben und die Konflikte mit dem Rechtsstaat", heißt es da an anderer Stelle, "entstehen ja weniger durch den religiösen Kern der verschiedenen Bekenntnisse als durch deren Einbettung in bestimmte, von politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren beeinflusste Kulturen. Diese Einbettung ist unvermeidlich, aber sie ist nicht unveränderlich. Wie alle Kulturen wandeln sich auch die religiös geprägten ständig und geben insofern auch Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Koexistenz." Das ist eine richtige Beobachtung, gespeist aus europäischer geschichtlicher Erfahrung.
Deshalb bietet sich nicht der Ausweg, durch die Unterscheidung zwischen Religion und Kultur den Kopftuchstreit zu entscheiden. Wir können nicht von Staats wegen bestimmen, ob das Kopftuch grundsätzlich religiös oder bloß kulturell ist. Dass dies im Islam selbst höchst umstritten ist, sollte uns erst recht davor zurückschrecken lassen.
Wir können das Kopftuch der muslimischen Lehrerin nur zulassen oder ablehnen aufgrund unserer eigenen, wohlbegründeten Werteentscheidung.
Auf die Vielfalt und Wandlungsprozesse islamischer Kulturen habe ich eingangs hingewiesen.
Es ist ein Jammer, dass wir in Deutschland zwar ein ungeheures Wissen über den Islam in wissenschaftlichen Archiven versammelt haben - das größte außerhalb der islamischen Welt, hat mir ein islamischer Religionslehrer in Marokko versichert - und dass wir schon geraume Zeit mit gut 3 Millionen Muslimen zusammenleben, denen aber immer noch mit Gleichgültigkeit und Unverständnis bis hin zu Ablehnung und Aggression begegnen.
Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen ist nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Für viele Muslime ist das Leben in unserer säkularisierten Gesellschaft zweifellos eine Herausforderung. Im täglichen Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen irritieren dabei nicht so sehr die unterschiedlichen Religionen, sondern vor allem die unterschiedlichen Einstellungen zum Glauben.
Und obwohl das Grundgesetz die Freiheit der Religion und der Ausübung des Glaubens garantiert und obwohl die Zahl der islamischen Gebetsräume und Moscheen bei uns im Lande ständig wächst, haben viele Muslime offenbar Angst davor, diesen eigenen Glauben nicht mehr leben zu können. Sie fürchten, nach und nach ihre religiös-kulturelle Identität zu verlieren, und reagieren mit bewusster Abgrenzung oder gar Abschottung.
Deshalb handelt der Kopftuchstreit natürlich auch von Integration, was sie für wen bedeutet und wie weit sie gehen soll. Hierauf gibt es keine einfachen Antworten. Nur, dass Integragion konfliktfrei verlaufen könnte, das kann man wohl sicher ausschließen.
Die letztlich entscheidende Frage hat Böckenförde (in seinem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Januar 2004) formuliert. Ich zitiere: "Die relevante Frage ist deshalb nur, was sich aus einer politischen Dimension des Kopftuches für dessen Zulassung oder Verbot ergeben kann."
Das Urteil des Verfassungsgerichts lässt beides zu: ein Verbot oder eine Zulassung in einem bestimmten Umfang. Die Abwehr konkreter Gefahren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollten uns bei unseren Überlegungen leiten.
Ich habe - jeweils mit einem Schwerpunkt darauf, den Dialog der Kulturen in Gang zu halten - fast alle eingangs aufgezählten islamischen Staaten besucht und nicht nur durch Augenschein sondern in unzähligen Debatten bestätigt bekommen, dass es natürlich einen Zusammenhang zwischen den angeblich religiös bestimmten Bekleidungsvorschriften und der Diskriminierung der Frau gibt. Diese Diskriminierung wird bestenfalls dadurch bestätigt, dass man erklärt und mancherorts auch auf überzeugende Taten verweisen kann, sie überwinden zu wollen.
Nicht selten wird zur eigenen Entlastung - aber ja durchaus zu Recht - auf die Defizite verwiesen, die Deutschland noch immer hat, wenn es um die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen geht.
Ähnlichkeit mit unserem Status quo gibt es allerdings nur dort, wo Frauen noch keine oder nur wenige Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft eingenommen haben.
Aber jenseits unseres Verfassungsanspruchs liegt es eindeutig, Frauen auf das häusliche Leben zu beschränken, sie von öffentlicher Verantwortung fern zu halten, sie aus dem öffentlichen Leben insgesamt auszuschließen oder sie schließlich gar zum bloßen Anhängsel, zum Eigentum des Mannes herabzuwürdigen, wie ich es im Jemen gerade erlebt habe.
Dort und im Iran, wo vollständige Verhüllung erzwungen wird, sind beispielsweise weibliche Richter unvorstellbar. Vermutlich wird sich das im Iran aber schneller ändern als im Jemen, aus vielen Gründen, einer davon ist, dass die iranischen Frauen ein hohes Bildungsniveau haben, die jemenitischen aber zu schätzungsweise 80 Prozent Analphabetinnen sind.
Diesen kurzen Erfahrungsbericht könnte man als Schreckensszenario missverstehen. Tatsächlich zeigt es ein unakzeptables Frauenbild, aber es zeigt vor allem sehr unterschiedliche kulturelle Entwicklungsstände. Diese unterschiedlichen Entwicklungsstände sind hier in Deutschland anwesend.
Deshalb sollte unsere Entscheidung im Kopftuchstreit nicht ganz außer Acht lassen, ob und wie sie auf diese verschiedenen kulturellen Prägungen wirkt, sie sollte aber vor allem in Rechung stellen, welche Auswirkungen sie für die Integration dieser verschiedenen muslimischen Kulturen hat.
Da wir uns also laut Verfassungsgericht für wie gegen ein Verbot des muslimischen Kopftuchs für Lehrerinnen in Schule und Unterricht entscheiden können, da wir dabei nicht eine endgültige Entscheidung treffen können, ob es sich um ein religiöses Symbol oder gar eine Vorschrift handelt oder nicht, was (ich wiederhole) im Islam selbst umstritten ist, und da wir eine wie immer begründete Diskriminierung der Frau nicht akzeptieren dürfen, müssen wir eine Güterabwägung vornehmen zwischen der individuellen Religionsfreiheit und der weltanschaulichen Neutralität der Schule und der besonderen Verpflichtung von Beamten gegenüber dem Grundgesetz.
Demnach sind folgende Alternativen denkbar:
1. Wer die hohe Bedeutung der Glaubensfreiheit betont und die staatliche Neutralität im Sinne einer Kooperation in den Vordergrund rückt und die Schule nicht als religionsfreien Raum betrachtet, wird dem Islam Gleiches zubilligen wie dem Christentum und für die grundsätzliche Zulassung eines Kopftuchs votieren. Konkrete Schwierigkeiten wären im Einzelfall disziplinarisch zu ahnden. Diese Position ist angesichts der offensichtlichen Mehrdeutigkeit des Kopftuches problematisch.
2. Wer das Kopftuch als sowohl politisch-gesellschaftliches Symbol als auch als Ausdruck für eine Interpretation des Islam betrachtet, das für eine Parallel- oder sogar eine Gegengesellschaft zur westlich-demokratischen deutschen Gesellschaft und gegen den säkularen Rechtsstaat steht, wird sich auf das Argument stützen, dass das islamische Kopftuch im Widerspruch zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes steht. Das Kopftuch vermittelt in diesem Sinn die islamische Vorstellung von einem niederen Rang der Frau. Ein Verbot eines solchen Symbols, das eben mit dem grundgesetzlichen Gebot der Gleichberechtigung von Frau und Mann nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, das mithin die Diskriminierung verfestigt, wäre die notwendige Konsequenz. Hinzu kommt, dass das gedeihliche Zusammenwirken in der Schule, mithin der Schulfrieden gefährdet wäre. Die Kinder und Jugendlichen in unserem Land sollen erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung der Überzeugung des anderen - ein Lehrer muss im Unterricht diese Grundwerte der Verfassung glaubhaft vermitteln können. Dem Staat ist es verwehrt, aus vermeintlicher Toleranz auf diese persönlichen Anforderungen an seine Lehrer zu verzichten. Er ist zur Erfüllung seines Erziehungsauftrages auf Lehrer angewiesen, die sich vorbehalts- und widerspruchsfrei zu unserer Verfassung und ihren Werten bekennen.
Die Religionsfreiheit wäre durch ein solches Verbot meines Erachtens schon deshalb nicht tangiert, weil es sich um eine bloße Konkretisierung des besonderen Treueverhältnisses von Beamten gegenüber dem Grundgesetz handelt. Folglich finde ich den Vorschlag aus mehreren Bundesländern (Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen) überzeugend, einem entsprechend neutral formulierten Verbot einen Erlaubnisvorbehalt hinzuzufügen. Die Formulierung für das Verbot lautet vorläufig:
"... im Dienste keine Kleidung oder Zeichen [zu] tragen..., deren objektiver Erklärungsgehalt zu den Grundwerten der Verfassung, insbesondere der Menschenwürde sowie den Freiheits- und Gleichheitsrechten, in Widerspruch steht und die geeignet sind, den Schulfrieden zu beeinträchtigen..."
Verbot und Erlaubnisvorbehalt folgen aus einer möglichst umfassenden Güterabwägung mit dem hohen Gut von Artikel 4 des Grundgesetzes, der Religionsfreiheit, und entsprechen der Lebenswirklichkeit, die natürlich auch Kopftuchträgerinnen kennt, die sich freiwillig dazu entschließen und keine inkriminierten Absichten verfolgen. Der Umstand, dass das Kopftuch objektiv eine politische Botschaft vermittelt, nämlich ein bestimmtes Frauenbild, das mit Art. 3 GG nicht vereinbar ist, begründet das generelle Verbot. Der Umstand, dass das Kopftuch subjektiv auch schlichter Ausdruck eines individuellen religiösen Bekenntnisses und der Zugehörigkeit zum Islam in seiner Vielfältigkeit sein kann, begründet die Möglichkeit der Ausnahme.
Der Vorschlag kehrt die Beweislast um: Die Bewerberin muss zeigen, dass sie auch mit Kopftuch grundgesetzkonform unterrichten wird. Mit anderen Worten, von einer Lehrerin oder einer Lehramtsbewerberin, die ihr Kopftuch aus religiösen Motiven nicht ablegen möchte, kann wegen des mehrdeutigen und, wie dargelegt, auch diskriminierenden Gehalts des Kopftuches verlangt werden, glaubhaft zu machen, dass sie für unser Grundgesetz, für Gleichberechtigung und Toleranz eintritt. Dabei muss ein Verfahren gewählt werden, dem objektiv nachvollziehbare Kriterien zugrunde liegen und das nicht in einer "Gesinnungsprüfung" mündet. Damit sollte zudem sichergestellt sein, dass keine Muslima gehindert ist, Beamtin zu werden, wenn sie den beamtenrechtlichen Dienstpflichten nachkommt und ihre Rechtstreue zweifelsfrei feststeht.
Der Vorwurf, dass ein Verbot eine Diskriminierung im Sinne des Geschlechts (Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention) darstellt, ist - unabhängig von der ja möglichen geschlechtsneutralen Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung - meines Erachtens nicht berechtigt. Das Verbot zielt nicht auf die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, sondern dient dem legitimen Zweck der Beachtung der Neutralität des staatlichen Unterrichts.
Gegen eine solche Regelung könnte weder der Vorwurf erhoben werden, die Religionsfreiheit würde gefährdet, noch könnten wir uns umgekehrt den Vorwurf machen, wir würden unsere eigenen Verfassungsgebote und unsere eigenen Bemühungen um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter falsch verstandener religiöser oder kultureller Toleranz opfern.
Ich teile die Befürchtung nicht - den Wunsch schon gar nicht - wir könnten uns damit auf einer Rutschbahn zum Laizismus bewegen.
Mit einer solchen behutsamen Regelung vermeiden wir übrigens auch eine Einmischung in den innerislamischen Streit, ob es sich um ein strikt religiöses Symbol handelt und ob es als solches für Musliminnen zwingend ist.
Eine solche Einmischung nämlich - nun zitiere ich noch einmal Mark Siemons - würde die hoffnungsvollen kulturellen Wandlungsprozess gefährden."… wenn sich staatliche Gewalten anmaßten, 'Kulturen' und 'Identitäten' … ein für allemal fixieren zu wollen und würde das als eine "sich selbst erfüllende Prophezeiung die Konflikte erst schüren, die sie zu lösen beanspruchte".
Religion ist keine Privatsache, sie gehört aus vielen Gründen in die Öffentlichkeit. "Religionen gehören wie die Künste, die Presse und die übrigen Gedanken zur gesellschaftlichen Selbstbestimmung, die man nicht ungestraft unterdrückt."
Im Kopftuchstreit haben wir mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sich hinter dem religiösen Motiv, ein Kopftuch zu tragen, das politische Motiv verbirgt, die Diskriminierung der Frau zu verfestigen statt sie aufzuheben. Diese Wahrnehmung ist solange berechtigt, wie der Islam - bei den erwähnten Ausnahmen - beansprucht, auch alleinige Richtschnur für Politik und Kultur zu sein.
Gelöst werden kann diese Schwierigkeit nur durch Mäßigung der Religion. Noch einmal aus dem erwähnten Artikel: "Die demokratische Öffentlichkeit muss fortwährend auf die Unterscheidung der Ebenen dringen, damit politische Argumente politisch begründet werden und religiöse religiös. Eine wie auch immer verschleierte machtpolitische Ideologisierung der Religion darf kein säkularer Staat dulden." Das heißt, wir müssen angesichts des Kopftuchstreits aufpassen, dass wir in unserem Bemühen um religiöse Toleranz nicht nachlassen, nicht sogar wieder zurückfallen vor Lessing und in religiös motivierte Machtkämpfe. Von unseren Mitbürgern und Mitbürgerinnen islamischen Glaubens können und müssen wir dieselbe Mäßigung der Religion erwarten und ebenso dass sie sich den für alle gleichen rechtsstaatlichen Regeln beugen.
37.790 Zeichen
Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2004/pz_040319