DIE ALTE DEUTSCHE HAUPTSTADT IST DIE NEUE BUNDESHAUPTSTADT. PARLAMENT UND REGIERUNG NEHMEN IHRE SITZE MIT AUSNAHME EINIGER MINISTERIEN IN BERLIN EIN. IM JUNI 1991 HAT DIES DER DEUTSCHE BUNDESTAG BESCHLOSSEN. DER BESCHLUSS TRÄGT DEN TITEL:
VOLLENDUNG DER DEUTSCHEN EINHEIT
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Und darum geht es auch. Bonn war das "Provisorium", Bundeshauptstadt des Westens im geteilten Deutschland. Bonn war eine gute Gastgeberin für Parlament und Regierung, und auch glühende Befürworter des Umzugs in die Hauptstadt des vereinten Deutschland werden die Stadt, ihre Umgebung, die rheinische Gelassenheit der Bonnerinnen und Bonner in guter Erinnerung behalten.
Die deutsche Einheit, die für mich noch immer und vor allem anderen die Demokratisierung Ostdeutschlands ist, kam als ein unerwartetes Geschenk. Kein Geschenk des Himmels oder eines anonymen Schicksals, sondern von Menschenhand: engagierte Ostdeutsche protestierten massenhaft gegen die SED, deren Diktatur nicht nur unfrei machte; sie scheiterte auch ökonomisch. Angesichts massenhafter Aussiedlung und massenhafter Demonstrationen erwies sie sich auch nach den Maßstäben ihrer eigenen Politik als handlungsunfähig. Mit der Öffnung des eisernen Vorhangs durch Ungarn war der Weg zur Überwindung der Teilung und der Blockkonfrontation, zur Beendigung des kalten Krieges frei.
Berlin war das Symbol der Teilung und wurde zum Symbol der Einheit. Die Bilder der Menschen, die sich auf die Mauer setzten, die sich an den nun geöffneten Übergängen vor Freude in die Arme fielen, bleiben unvergeßlich. Nur ein knappes Jahr später wurde im alten Reichstagsgebäude die Vereinigung der bis dahin getrennten deutschen Staaten vollzogen.
Berlin mußte die Teilung ertragen und ist jetzt Werkstatt der Einheit. Alle Fortschritte aber auch alle Hindernisse bei der langsamen Lösung der Aufgabe, aus der staatlichen Einheit eine zeitgemäße gesellschaftliche Einheit zu machen, spiegeln sich in Berlin wie in einem Brennglas. Die Metropole Berlin hilft dabei. Sie hilft zum Beispiel zu dem Verständnis, daß "innere Einheit" nicht Einheitlichkeit sein kann. Berlin ist eine große Stadt, deren Teile zusammengehören und zugleich Eigenleben führen. Man ist nicht nur Berliner, man ist auch Neuköllner oder vom Prenzlauer Berg. Man ist neugierig auf alles, aber nicht in erster Linie auf einen anderen Kiez oder Nachbarbezirk. Ich empfehle dieses "Berliner Modell" den deutschen in Ost und West als Vorbild.
Der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin ist ein wichtiger Vorgang. Mir persönlich sind Argumente, daß Berlin wegen seiner Größe oder seines Metropolencharakters repräsentativer, beeindruckender sei als andere deutsche Städte und deshalb Sitz von Parlament und Regierung sein müsse, nicht so wichtig. Bonn war eine gute Hauptstadt, und die Bescheidenheit Bonns hat uns gut zu Gesicht gestanden. Wichtiger ist mir, daß Berlin vier Jahrzehnte Hauptstadt im Wartestand war, daß vier Jahrzehnte lang das Versprechen galt, mit der Einheit werde die alte Hauptstadt ihre Funktion zurückerhalten.
Niemand hätte verstanden, wenn dieses Versprechen nicht gehalten worden wäre. Daß Berlin Bundeshauptstadt sein und nicht nur diesen Namen tragen sollte, folgt angesichts der Vorgeschichte aus der Einheit.
Aber schließlich ist mir die Vollendung der Einheit das wichtigste Argument: seit 1990 wandern alle für die Gesellschaft bedeutenden Kompetenzen nach Westen ab wenn sie nicht ohnehin schon dort fest verankert waren.
Ostdeutsche Verwaltungen erhielten westdeutsche Köpfe, ostdeutsche Unternehmen westdeutsche Besitzer; die ostdeutsche Forschungslandschaft mußte sich der westdeutschen fügen. Politik konnte dagegen nicht viel ausrichten und hat es oft nicht einmal versucht. Diese regionale Schieflage hat sich eher noch gefestigt. Es ist deshalb mehr als ein symbolischer Akt, wenn ein gesellschaftliches Entscheidungszentrum nach Osten kommt. Es ist das einzige Entscheidungszentrum, über das die Politik verfügen kann, und ich bin froh, daß dieser Kraftakt für ein gewisses innerdeutsches Gleichgewicht gelungen ist.