ANHÖRUNG ZUR BEHINDERTENPOLITIK
Neues Sozialgesetzbuch IX findet weitgehend positives Echo
(as) Der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Gesetzentwurf eines neuen Sozialgesetzbuches IX ( 14/5074) hat am 19. Februar in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung weitgehend Zustimmung gefunden. Die Initiative schaffe die Grundlage für ein selbstbestimmteres Leben von Menschen mit Behinderungen, erklärte Achim Backendorf vom Sozialverband der Kriegs- und Wehrdienstopfer (VdK).
Durch den Gesetzentwurf würden die Träger der Rehabilitation in die Lage versetzt, besser zu kooperieren und sich sinnvoll zu vernetzen. Die Zusammenarbeit der Leistungsträger und der Empfänger von Leistungen werde gestärkt und die Rahmenbedingungen der Rehabilitation verbessert. Der Experte bewertete auch die geplanten Servicestellen für Behinderte positiv; sie eröffneten neue Chancen der Beratung und des Zugangs. Norbert Behrens vom Sozialverband Deutschland bezeichnete den Gesetzentwurf als "das beste, was bisher in der Behindertenpolitik vorgelegt worden ist". Das neue Sozialgesetzbuch IX sei kein Spargesetz und stelle eine gute Grundlage dar, auf der aufgebaut werden könne.
Persönliches Budget begrüßt
Werner Eike vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt unterstützte das Vorhaben der Koalition, ein persönliches Budget für Behinderte einzurichten. Auf dieser Ebene müsse weitergedacht werden, um den Betroffenen möglichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen. In den Augen von Ernst Rabenstein vom Diakonischen Werk lässt der Entwurf zur Ausgestaltung des persönlichen Budgets richtigerweise viel Spielraum. Deshalb sollten in den nächsten Jahren zu diesem Thema weitere Modellversuche gemacht werden. Klaus Lachwitz von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte plädierte dafür, Angehörige von Behinderten künftig nur noch bis zum 27. Lebensjahr zur Unterhaltsfinanzierung heranzuziehen. Danach müssten neue Lösungen gefunden werden, da die bisherige Praxis der Einkommensüberprüfung Angehöriger "entwürdigend" sei.
Ulrich Kuhn von der Stiftung Liebenau sprach sich dafür aus, ein Leistungsgesetz für Behinderte zu entwickeln. Dies hätte den Vorteil, dass Bedürftigkeitsprüfungen wegfielen. Unterstützung bekam der Experte in diesem Punkt von Horst Steinhilber von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtpflege. Ein Leistungsgesetz könne die Belange von Menschen mit Behinderungen am besten klären und den Begriff der Behinderung genau definieren, hieß es in der Anhörung.
Zusatzkosten befürchtet
Durch die Neudefinition des Begriffs der Behinderung erweitert sich möglicherweise der Kreis der Leistungsempfänger. Diese Einschätzung haben am zweiten Tag der öffentlichen Anhörung am 20. Februar einige Sachverständige in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung geäußert.
"Die im Entwurf vorgesehene Neudefinition des Behindertenbegriffs ist ein Unsicherheitsfaktor", erklärte Fritz Baur von der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Möglicherweise kämen neue Personenkreise auf die Sozialhilfe zu, so dass das neue Sozialgesetzbuch IX unbedingt nach drei Jahren auf seine Wirkung hin untersucht werden müsse. In den Augen des Sachverständigen ist der Gesetzentwurf eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen, das Ansprüche genau beschreiben müsse. Für Ursula Friedrich vom Deutschen Städtetag verschiebt sich durch die neue Begrifflichkeit die Grenze, wer Zugang zu welchen Leistungen habe. Da sich auf diese Weise die Zahl der Sozialhilfeberechtigten ausweiten könnte, entstünden neue Kosten.
Johann von Stackelberg vom AOK-Bundesverband begrüßte die im Gesetzentwurf der Koalition vorgesehenen Servicestellen für Behinderte. Es dürften aber keine Parallelstrukturen entstehen. Daher sei es sinnvoll, auf dem Vorhandenen aufzubauen und die bisherigen Ansprechpartner der Träger besser zu vernetzen. Barbara Hüllen vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen dagegen sah keine Notwendigkeit, neue Servicestellen einzurichten. Die neuen Anlaufstellen verursachten zusätzliche Bürokratien und zögen Zusatzkosten von bis zu 400 Millionen DM nach sich. Zweckmäßiger ist es nach Meinung der Expertin, die Rehabilitationsfachkräfte der Krankenkassen zu einer besseren Zusammenarbeit zu bewegen. Auch mit den im Sozialgesetzbuch vorgesehenen Servicestellen entstehen keine Parallelstrukturen, erklärte wiederum Herbert Schillinger von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Vorhandene Kapazitäten würden lediglich gebündelt und zusammengeführt.
Axel Reimann vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger vertrat die Auffassung, mögliche Mehrkosten durch die Servicestellen hingen davon ab, wie diese verwirklicht werden. Insgesamt begrüßte der Sachverständige die im Gesetzentwurf geplante stärkere Beteiligung der Betroffenen an der Rehabilitation, die die Behinderten zu größerer Mitwirkung motivieren könnte.
Betroffenen schnell helfen
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung schreibt in ihrer schriftlichen Stellungnahme, sie unterstütze Servicestellen, die vorbereitende Leistungsentscheidungen kombinieren. Es müsse gewährleistet sein, dass der Antragsteller ohne zeitliche Verzögerung und bürokratische Hürden zeitgerecht die für ihn individuell notwendigen Rehabilitationsleistungen durch den hierfür zuständigen Träger erhalte. Allerdings müsse der Gesetzentwurf stärker als bisher vorgesehen einen Bezug zur ärztlichen Patientenbetreuung herstellen.
Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe hält in einer Stellungnahme gemeinsame Servicestellen auf Kreisebene für Behinderte für wünschenswert, soweit nicht bereits entsprechende Beratungs- und Hilfestrukturen bestünden. Durch die Zuordnung von Servicestellen für Suchtkranke würden konkurrierende und damit kostentreibende Parallelstrukturen geschaffen.