Wo Paul Löbe Albert Einstein empfing
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Historische Ansicht des Reichstagspräsidentenpalais.
Ein Palais für den Reichstagspräsidenten zu errichten, war nach der Reichsgründung 1871 zunächst nicht geplant. Der Präsident sollte lediglich – und das wäre das einzige materielle Vorrecht seines Amtes gewesen – eine Wohnung auf Kosten des Reiches im neuen Reichstagsgebäude erhalten. Als sich in den Bauplänen jedoch kein Platz für eine Präsidentenwohnung mehr fand, musste ein separates Haus gebaut werden. Nach der Suche eines geeigneten Standorts und nach einer Projektierungs- und Bauzeit von 1897 bis 1904 entstand das Wohn- und Amtsgebäude für den Präsidenten mit den Dienstwohnungen für den Direktor beim Reichstag und für den Aufseher der Präsidentenwohnung (Kastellan). Mit den Entwürfen und der Ausführung wurde der Baumeister des Reichstagsgebäudes, Paul Wallot, betraut.
Im Frühjahr 1899 wurde das Bauprojekt um den repräsentativen, seitlich zurücktretenden Saalbau mit dem Wilhelm I. gewidmeten "Kaisersaal" erweitert. Durch den Anbau, so die Begründung des Reichstagsvorstands, sollte die auf dem angrenzenden Grundstück stehende hässliche Brandmauer verdeckt werden. Die Westfassade des Palais hatte Paul Wallot mit Haupteingang, Erker und Kutscheneinfahrt gegenüber der reich durchgegliederten Ostfassade des Reichstagsgebäudes baukünstlerisch schlicht gehalten. Hingegen legten Reichstagsvorstand und Architekt großen Wert darauf, die nördliche, zur Spree gelegene Hauptschauseite besonders ästhetisch zu gestalten. Sie ließen sich dabei auch nicht durch die preußischen Superrevisionsbehörden beirren, die hinhaltende Einwände gegen den Saalanbau und seine in den Garten führende hohe Freitreppe vorbrachten. Zum Jahresende 1903 war das Bauwerk vollendet. Am 10. Januar 1904 übergab die Bauabteilung des Reichsamts des Innern das Haus dem Reichstag. Die Eröffnung durch Präsident Franz Graf von Ballestrem fand am 3. Februar mit einem festlichen Abendessen im Kaisersaal statt, an dem auch Kaiser Wilhelm II. teilnahm.
Die Reichstagspräsidenten waren nicht verpflichtet, im Palais zu wohnen. So verzichtete Johannes Kaempf, ein Berliner, der von 1912 bis 1918 Präsident war, auf die Amtswohnung. Von 1920 bis 1932 bewohnte der sozialdemokratische Präsident Paul Löbe das Haus. Weil ihn die Erinnerungen an die Monarchie störten, benannte er den Kaisersaal in "Großer Saal" um und verhängte das Standbild Wilhelms I. an der Ostwand des Saales mit einer Leinwand.
Löbe war ein großzügiger Gastgeber. Er lud Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zu "parlamentarischen Abenden" ein. Regelmäßige Gäste waren der sowjetische Botschafter Krestinski und der römische Nuntius Pacelli, der spätere Papst Pius XII. Auch Albert Einstein, der Publizist Alfred Kerr, der Schauspieler Fritz Kortner und der Sänger Jan Kiepura fanden sich gern zu solchen Abenden ein. Die Schauspielerin Elisabeth Bergner schenkte Paul Löbe bei einem Besuch im Jahre 1925 ein Mandelbäumchen, das er in den Garten pflanzte. Für Leben sorgte auch Löbes Sohn, der mit seinen Schulkameraden auf dem Hof Fußball spielte.
Der Nationalsozialist Hermann Göring, der am 30. August 1932 zum Reichstagspräsidenten gewählt worden war, behielt seine private Wohnung in Berlin bei, die für ihn auch ein politisches Hauptquartier darstellte. Die Räume im Palais waren ihm zu klein und düster. Er konnte aber auch während der Weimarer Republik das Amtsgebäude des Reichstages nicht so parteipolitisch nutzen wie seine Privatwohnung am Kaiserdamm. Dennoch stellte er das Palais Adolf Hitler als Stützpunkt am Reichstag zur Verfügung. Im Kaisersaal ließ er die 230 Mann starke Reichstagsfraktion der NSDAP tagen. Hitler, der dem Reichstag nicht angehörte, steuerte vom Palais aus das Abstimmungsverhalten der NS-Fraktion im Plenum. Im Präsidentenhaus führte er Verhandlungen mit der Führung der Zentrumspartei. Und am 9. Dezember 1932 schwor er im Kaisersaal mit tränenerstickter Stimme die Fraktion auf sich und seine politische Linie gegen seinen parteiinternen Rivalen Gregor Strasser ein.
Nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 geriet das Reichstagspräsidentenpalais wegen des Tunnels, durch den Versorgungsleitungen zum Reichstagsgebäude liefen, in den Verdacht, für die Brandlegung benutzt worden zu sein. Dieser Verdacht konnte nie bestätigt werden.
Ein Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 ließ Göring im Saalanbau sowie im Repräsentationsgeschoss des Wohnhauses Umbauten durchführen, bei denen die Erinnerungen an die Monarchie vollends beseitigt wurden. Der Kaisersaal hieß nunmehr "Große Halle". Ab 1934 gestattete Göring seiner Schwester Olga und seinem Schwager Fritz Rigele auf Kosten des Reichstages im Palais zu wohnen. Olga Rigele verließ Berlin Anfang März 1945, nicht ohne Wertsachen aus dem Palais in Richtung Süddeutschland mitzunehmen.
Ab 1937 wurde das Terrain um das Reichstagsgebäude herum in die Entwürfe der gigantomanischen Umgestaltung Berlins zur "Welthauptstadt Germania" einbezogen. Der Abriss des Palais wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jedoch verhindert. Bei einem schweren Luftangriff am 23. November 1943 brannten die Dachstühle aus. Der Artilleriebeschuss auf den Reichstag durch die Rote Armee Ende April 1945 zog lediglich den Seitenflügel mit dem Beamtenwohnhaus in Mitleidenschaft.
Weil das Palais im sowjetischen Besatzungssektor lag, wurde es in der Zeit der Teilung Deutschlands und Berlins als nicht zum Reichstagsgebäude gehörig gesehen. Zwischen Palais und Reichstagsgebäude verlief die Grenze und seit August 1961 die Mauer. Direkt nach dem Krieg diente das Haus von Juni bis August als Domizil für die vom Berliner Magistrat eingesetzte "Restverwaltung" des Reichstages, danach von Oktober 1945 bis Februar 1946 für die "Dokumentationszentrale für Neueste Deutsche Geschichte". Nach deren Auszug Anfang März 1946 stand das Haus leer. Am 1. August 1947 gab der sowjetische Stadtkommandant Kotikow den Befehl, das inzwischen heruntergekommene Palais umgehend wiederherzustellen. Er beabsichtigte, das Haus der neu gegründeten "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der SBZ" zu "schenken", was nicht geschah. Die 1948 eingezogene VVN verließ ein Jahr später das Palais wieder. Danach diente es als "Haus der Lehrer". Im November 1950 ließ sich das "Marx-Engels-Institut beim Parteivorstand der SED" (das spätere "Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED") im Gebäude nieder. 1959 musste es jedoch für den Volkseigenen Betrieb "Deutsche Schallplatte" frei gemacht werden. 35 Jahre lang, bis 1994, diente das Palais der Schallplattenfirma als Hauptsitz.
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Das Reichstagspräsidentenpalais nach der Restauration.
Nach seiner Wiederherstellung durch den Kölner Architekten Thomas van den Valentyn ist das Palais am 14. September 1999 der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft übergeben worden. Es fügt sich städtebaulich in den Neubaukomplex des Jakob-Kaiser-Hauses ein. Seine ehemalige Stellung als Solitär am Spreeufer hat das Palais damit allerdings verloren.
Gerhard Hahn