Islam im modernen Staat - das ist in erster Linie ein Problem der Länder mit islamischer Bevölkerung", konstatiert der Tübinger Wissenschaftler Heinz Halm in seinem hervorragenden Beitrag über den Islam in Europa. Islam, das ist vor allem die Religion der Araber, organisiert in 22 Staaten. Einer der namhaften deutschen Experten, Udo Steinbach, sieht die ganze Region "unter dem Druck eines machtpolitischen Gestaltungswillens der USA, der letztlich den wirtschaftlichen Interessen des Westens dient". Damit folgt er der Argumentation islamischer Fundamentalisten, die die gesamte Misere in Nahost den USA anlasten, um billig von eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten ihrer Völker und Regierungen abzulenken.
Seit dem Terroranschlag auf Amerika ist deutlich geworden, dass die amerikanische Nahost-Politik eben nicht nur von wirtschaftlichen, sprich energiepolitischen Interessen geleitet ist, sondern auch von ideologischen. Was sich in keinem der Beiträge findet, ist die Tatsache, dass der amerikanische Präsident mit der Invasion des Iraks den jahrzehntelangen starren Status quo beendet hat und die islamische Welt letztendlich demokratisieren möchte, damit von ihr keine Gewalt mehr ausgeht. Das ist keine "undifferenzierte amerikanische Machtpolitik", wie die beiden Herausgeber im Vorwort schreiben, sondern eine sehr gezielte.
Wohl aber trifft zu, was Steinbach und andere Autoren festhalten: Die Ausbreitung der westlichen Kultur und Gesinnung im Zuge der Handelspolitik mit den islamischen Ländern wird von radikal-islamischen Konservativen als Bedrohung der islamischen Religion und Kultur verstanden und aktiviert dadurch Widerstand auf breiter Ebene. In der überwiegenden Mehrheit sind es die arabischen Männer, nicht ihre Frauen, die sich von westlichen Einflüssen bedroht fühlen und um ihre althergebrachten Privilegien im Umgang mit dem "schwachen Geschlecht" bangen.
Mehrere Beiträge arbeiten diese Hintergründe anschaulich heraus. Die Autoren konzentrieren sich auf die politischen Systeme der Region und auf ihren Widerstand gegenüber dem globalen Trend der Demokratie-Ausbreitung. Eberhard Kienle zeigt auf, wie sich die politische Sphäre bisher von den externen Einflüssen abschotten konnte. Er skizziert die politischen Strukturen der arabischen Welt mit ihren vielfältigen autoritären Merkmalen und den Ursachen ihrer bisherigen "Demokratie-Resistenz".
Lutz Richter-Berneburg geht aus geistesgeschichtlicher Perspektive der Frage nach, warum die seit 1948 weltweit anerkannten Menschenrechte in der islamischen Welt keine nennenswerte Resonanz gefunden haben. Dabei geht es im Kern um die Frage der Vereinbarkeit von wörtlich genommenem Islam - also so, wie er im Koran zum Ausdruck kommt - und säkular begründeten universellen Werten. Renate Kreile analysiert die Geschlechterbeziehungen im Vorderen Orient und zeigt, welchen positiven und negativen Einflüssen der Globalisierung sie unterliegen.
Männer und Frauen werden hin- und hergerissen zwischen den Werten ihrer traditionellen muslimischen Solidargemeinschaft und den westlichen Einflüssen, die Individualismus und Selbstverwirklichung verbreiten. Ihre Aussage, es seien "vor allem Angehörige der höheren Schichten, die in beiden Lagern Emanzipationserfolge" erzielten, ist einmal mehr Grund, über eine bildungspolitische Entwicklungshilfe für die Region nachzudenken. Gefragt sind Lehrer und Didaktiker.
Mit der Kampfansage der modernen Islamisten an den Rest der Welt befaßt sich Reinhard Schulze. Aus seiner Sicht ist der orientalische Widerstand nun selbst Teil des Globalismus, der den Westen auf eigenem Terrain herausfordert. Hervorzuheben für die aktuelle Islam-Diskussion in Deutschland sind Schulzes Hinweise auf die "Double Standards" - mit anderen Worten: auf die Heuchelei im Westen. Was vor allem die Zeitschriften "Focus" mit "Unheimliche Gäste" und "Der Spiegel" mit der Titelgeschichte "Allahs rechtlose Töchter" - beide vom November 2004 - eindrucksvoll vorgeführt haben, sieht Schulze anhand weiterer Beispiele aus Kirche, Politik und Medien bestätigt: wie in der Auseinandersetzung mit dem Islam "auf den alten orientalischen Klischees" aufgebaut und letztlich "die Überlegenheit des Abendlandes beschworen" wird. Auch wenn mancher Beitrag aufgrund der ständig im Fluss befindlichen Nahost-Politik nicht mehr aktuell ist und Autoren wie Steinbach, Helga Baumgarten und Martin Beck überkommene Standard-Klischees in Bezug auf den Einfluss der USA und das "Bedrohungspotenzial Israels" weitertragen, bietet die Aufsatzsammlung insgesamt einen wichtigen Überblick über die aktuelle Diskussion um die Zukunft und das Schicksal des Vorderen Orients. Eine rundum empfehlenswerte Lektüre mit geballtem Wissen über die arabische Welt.
Peter Pawelka / Lutz Richter-Berneburg (Hrsg.)
Religion, Kultur und Politik im Vorderen Orient.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004; 190 S.,34,90 Euro