Dann, in den kurzen Minuten der Dämmerung, bricht der Fußball plötzlich hervor wie ein Platzregen. Auf hölzernen Veranden, in Hinterhöfen aus brüchigem Beton, an den Stränden und in den Parks: Trinidad kickt. Im Queen's Park Savannah, dort, wo die Hauptstadt Port of Spain auszusehen versucht wie London, ergießen sich hunderte von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über die gelbgrüne Fläche. Sie stecken Felder ab, selten mit Fähnchen, meistens mit Phantasie; sie schießen auf wenige fest installierte und viele improvisierte Tore; gelegentlich spielen sie in einheitlichen Trikots, fast immer so schrill und bunt wie ihre Herkunft.
Trinidad. Seit dem 16. November 2005 gehört die südlichste Karibikinsel samt ihrer Nachbarin Tobago auf die Weltkarte des Fußballs. Das Wunder hatte einen Monat zuvor seinen Lauf genommen: 0:1 stand es im letzten Gruppenspiel der Qualifikation gegen den hohen Favoriten Mexiko, sogar einen Elfmeter hatten sie verschossen. Dann drehte die Mannschaft von Trinidad und Tobago das Spiel und schaffte es durch ein 2:1 in die Ausscheidung gegen Bahrein. Das Heimspiel am 12. November vor 25.000 Zuschauern im ausverkauften Hasely-Crawford-Stadion von Port of Spain endete 1:1, wie in elf Versuchen zuvor seit der Unabhängigkeit 1962 schien alles verloren. Doch nach 49 Minuten des Rückspiels schoss Dennis Lawrence dieses legendäre Tor zum 0:1 und Trinidad und Tobago versank im Freudentaumel.
Man kennt diese Momente, wenn siegreiche Sportler aus der Fremde zurückkehren: Ein Corso aus Luxuslimousinen rollt über eine Prachtstraße durch ein Spalier von Fans, vom Rathausbalkon erklingen salbungsvolle Reden. In Trinidad aber winkten die Fußballer von der Ladefläche eines LKW, nicht Fans, die Hälfte der Gesamtbevölkerung stand Spalier, und statt einer Prachtstraße säumten sie die komplette Autobahn vom Flughafen weit draußen bis nach Port of Spain. Premierminister Patrick Manning verzichtete auf große Reden und verordnete einen offiziellen Feiertag. Der Torschütze Dennis Lawrence sagte angesichts der wachsenden Kriminalität in seiner Heimat: "Vielleicht ist dieser Erfolg der Beginn von Frieden und Liebe unter uns."
Mit dem Frieden und der Liebe wird es wohl noch etwas dauern - im ersten Drittel des Jahres 2006 wurden fast 100 Menschen ermordet, einer pro Tag in einem Land, das nicht mehr Einwohner hat als München. Als Ursachen nennen nicht nur Experten die ungerechte Verteilung des Ölreichtums, die Korruption und die schier unüberwindlichen Folgen von Kolonisation und Sklaverei. Und doch hat der Erfolg der Fußballer die Nation aus den Nachfahren afrikanischer Sklaven, indischer Arbeiter, spanischer Kolonisatoren und Zuwanderern aus über 150 Ländern geeint wie kein Ereignis zuvor. Ihr buntes Team aus über die Welt verstreuten Legionären, ihre Mannschaft mit nur zwei englischen Erstligaspielern und einigen alternden Stars hatte sich in die Weltelite gespielt: Das gibt Mut, wenn man sich selbst zu den Verlierern dieser globalisierten Welt zählt.
Verlierermentalität, das genau war es, was Trainer Leo Beenhakker vorfand, als er die Mannschaft im Frühjahr 2005 in nahezu aussichtsloser Lage übernahm. "Immer gestattete die Mannschaft dem Gegner, der Partie seinen Rhythmus aufzuzwingen", monierte der Holländer, am Anfang habe er es zwar mit hervorragenden Einzelspielern zu tun gehabt, jedoch "mit nichts, was nur im Entferntesten einer Mannschaft glich". Bevor er seinen Job antrat, hatte sich Beenhakker gründlich im karibischen Fußball umgesehen und verblüfft festgestellt: "Immer spielen wie in Europa zwei Mannschaften, aber nie hat jemand den Ball."
Eindrücke, die sich im Dämmerungsgetümmel im Queen's Park Savannah bestätigen. Sie zaubern und tricksen, versuchen mit Dribblings die Beine des Gegners zu verknoten und die zusehenden Mamas auf den gelben Parkbänken zu unterhalten. Doch die armen Kerle, die irgendein Los dazu verdonnert hat, ein Tor zu hüten, langweilen sich zu Tode. Manche Mannschaft ähnelt einer Artistengruppe, Taktik, Kurzpassspiel, Doppelpass oder gar Abseits sind Fremdwörter. In der knappen Stunde zwischen der Hitze des Tages und der Schwärze der Nacht fallen kaum Tore, selbst Trainer Roger, der mit seiner "Queen's Park Football Academy" ein kleines Stück Rasen besetzt hält, lässt seine Jungs und Mädchen lieber mit dem Ball jonglieren als sie in die Kunst des Mannschaftsspiels einzuführen.
Es wird dauern, bis aus der Begeisterung über den einmaligen Erfolg dauerhafte Strukturen werden. Nicht ohne Grund stehen kaum Spieler aus Trinidads winziger Profiliga in Beenhakkers Kader. Erst in Glasgow, Manchester, Coventry, Luton oder Wrexham haben sich die meisten seiner technisch so versierten Spieler an den funktionellen Hochgeschwindigkeitsfußball der Weltelite gewöhnt; wer daheim blieb, bei den "Doc's Khelwahlaas" oder bei "Vibe CT 105 W Connection", wer sich mit maximal 2.500 US-Dollar Monatseinkommen begnügen wollte, hatte kaum eine Chance, international mitzuhalten. Immerhin steht nach der WM-Qualifikation eine Aufstockung der Profiliga von sieben auf zehn Teams an, eines davon, "Joe Public", besitzt Jack Warner, FIFA-Vizepräsident und Präsident der T&TFF - des Fußballverbands von Trinidad und Tobago.
Es war bezeichnend, dass kurz nach der umjubelten Qualifikation sogleich eine Korruptionsaffäre erster Güte das Land erschütterte. Der steinreiche Multiunternehmer Warner hatte versucht, einen großen Teil des Ticketkontingents für die WM in Deutschland über sein eigenes Reisebüro "Simpaul" zu vertreiben, natürlich nur im Paket mit teuren Flügen und Hotels für 4.500 US-Dollar pro Package. Schon 2001, als Trinidad und Tobago Gastgeber der U17-WM waren, hatte es Warner geschafft, sämtliche Bauaufträge für neue Sportanlagen und Stadien eigenen Unternehmen zuzuschanzen. Und wie damals, kam er auch diesmal glimpflich davon: Im März verkaufte er offiziell sein Reisebüro, kurz darauf sprach ihn die FIFA vom Verdacht der Korruption frei, da nun ja die Grundlage fehlte. Je nach Gesinnung reagierten die Bewohner der Inseln mit Häme oder Freude, endlich aber war Zeit, sich nur noch auf die bevorstehenden WM-Spiele gegen Schweden (10. Juni), England (15. Juni) und Paraguay (20. Juni) zu konzentrieren.
Noch einmal während der Vorbereitung auf die WM werden die Menschen in Trinidad ihre Helden rund um den 34-jährigen Kapitän Dwight Yorke zu sehen bekommen, am Ende der Abenddämmerung, unter Flutlicht. Am 10. Mai steht das Testspiel gegen Peru an, und Yorke, 2001 Gewinner der Champions' League mit Manchester United und zuletzt australischer Meister mit dem FC Sydney möchte sein Team dabei unbedingt zu einem Sieg führen. Er, der große Star des Teams, nach dem sie in Tobago ein nagelneues Stadion benannt haben, wäre der Letzte, der sich mit einem vergnügten Ausscheiden in der WM-Vorrunde begnügen wollte. Erst zwei Mal (Cuba 1938 gegen Rumänien; Jamaika 1998 gegen Japan) konnten karibische Teams bei einer WM-Endrunde ein Spiel gewinnen. "Wir wollen Deutschland mit Musik und Lebensfreude verzaubern", verkündete Jack Warner nach der Qualifikation im November. Yorke sähe den größeren Zauber darin, das Achtelfinale am 24. Juni in München gegen Deutschland zu spielen.
Peter Linden ist freier Autor und Dozent, unter anderem an der Deutschen Journalistenschule in München. Von ihm erschien "100 Jahre! Die Highlights des österrreichischen Fussballs. Triumphe, Tränen, Schmähs".