Rede von Dr. Jürgen Meyer im Europäischen Konvent am 29. Oktober 2002
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
zweimal als Gast an der Arbeitsgruppe, die Kommissar Vitorino
geleitet hat, teilgenommen und dabei ist meine Bewunderung für
seinen Sachverstand und sein diplomatisches Geschick - soweit das
noch überhaupt möglich war - noch gestiegen! Durch die
Rechtsverbindlichkeit der Charta wird ein großer Schritt
gemacht, der deutlich werden lässt: Die Europäische Union
ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion,
sie ist auch eine Wertegemeinschaft. Mit den Worten von Romano
Prodi kann man sagen: Sie ist die künftige Seele der
Europäischen Union.
Was nun die Klarstellungen angeht, zu denen der Kollege Duhamel
sich geäußert hat, ist meine Auffassung, dass diese
Klarstellungen unnötig sind, aber ich betone auch, sie sind
unschädlich, und sie waren eine Bedingung dafür, dass in
der Arbeitsgruppe Konsens erreicht werden konnte; aus diesem Grunde
wurde diese Klarstellung an drei Stellen, die keine inhaltliche
Veränderung ist - das betone ich noch einmal -, vereinbart.
Ich will aber auch eindeutig betonen, hinsichtlich der Aufnahme der
Charta in die Verfassung bin ich für die erste Option. Eine
Verfassung, die in ihrem Text keine Grundrechte enthält,
sondern nur auf diese verweist, verdient nicht den Namen
Verfassung!
Was die Präambel angeht, unterstütze ich mit Nachdruck
den Vorschlag der Arbeitsgruppe, diese auch zur Präambel der
künftigen Verfassung zu machen. Im Strukturvorschlag, den
Präsident Giscard d'Estaing gestern vorgestellt hat, ist unter
der Überschrift Präambel kein Text. Ich möchte das
so verstehen, dass es bisher jedenfalls inhaltlich nichts Besseres
gibt als diese Präambel. Ich erinnere daran, dass wir im
ersten Konvent lange über den Inhalt der Präambel
debattiert haben, die auch Gegenstand von Kompromissen war, und
dieses sollten wir in diesem Konvent nicht wiederholen.
Was den Beitritt zur europäischen Menschenrechtskonvention
angeht, sollten wir uns keine unnötigen Probleme bereiten.
Über den Beitritt selbst entscheiden die neue Verfassung und
dieser Konvent nicht, sondern es geht nur um die Möglichkeit
des Beitritts. Diese Möglichkeit kann in der Verfassung
sichergestellt werden, und wie Kommissar Vitorino eben gesagt hat,
bedarf es dann zur Aufnahme von Verhandlungen nach geltendem Recht
eines einstimmigen Ratsbeschlusses.
Diese Grundrechtecharta als rechtsverbindliches Dokument ist ein
wichtiges Signal an die neuen Mitgliedsländer. Dort gibt es
viele Menschen, die fürchten, was aus Brüssel an
Machtausübung auf sie zukommt, und denen können wir
gemeinsam sagen: Ihr kommt in eine Gemeinschaft, die unter der
Herrschaft der Menschenrechte steht, und wenn aus Brüssel Eure
Rechte verletzt werden, dann werdet Ihr dagegen geschützt
durch die Grundrechtecharta! Ihr könnt Vertrauen haben, wenn
ihr in die Europäische Union kommt!