Rede von Dr. Jürgen Meyer im Europäischen
Konvent
am 10. Juli 2003
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
als Sprecher der sozialistischen Parteienfamilie und ihrer mehr als 30 Delegierten dieses Konvents darf ich mit großer Freude erklären: Wir stimmen dem heute vorgelegten Verfassungsentwurf zu! Und gestatten Sie mir bitte, eine persönliche Bemerkung hinzuzufügen: Dies ist für mich auch deshalb ein sehr bewegender Augenblick, weil ich zu der kleinen Gruppe von Delegierten gehöre, die seit Dezember 1999 auch dem ersten Konvent angehört haben. Wir haben damals in 9 ½ Monaten unter dem Vorsitz von Roman Herzog die Grundrechte-Charta erarbeitet, die nun als Herzstück der neuen Verfassung rechtsverbindlich wird.
Als vor acht Jahren im Juni 1995 in einer Debatte des Deutschen Bundestages über den Amsterdamer Vertrag die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung aus nationalen Abgeordneten und Europaabgeordneten und die Ausarbeitung einer Grundrechtecharta vorgeschlagen und ein Entwurf der Charta vorgelegt wurde, galt das vielen als Träumerei. Heute wird ein Stück dieses Traumes wahr. Die Charta, die nun Verfassungstext ist, beweist: die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, sondern auch und vor allem eine Wertegemeinschaft. Wer zu ihr gehört, darf sich "Europäer" nennen.
Liebe Europäerinnen und Europäer,
zu unserer Werteordnung gehört neben der Unantastbarkeit der
gleichen Würde eines jeden Menschen und dem Bekenntnis zu
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch der Grundwert der
Solidarität. Dieser findet sich nicht nur in den sozialen
Grundrechten der Charta und in den vielfältigen
Beistandspflichten in den Teilen I und III der Verfassung, sondern
er begründet auch die Vision eines sozialen Europa, der wir
heute einen Schritt näher kommen. Macht ist nur legitim, wenn
sie sich auf Werte gründet und durch sie begrenzt wird. Auch
diese Überzeugung gehört zu unserer europäischen
Identität.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der heutige Tag ist auch ein Erfolgstag für die
Konventsmethode. Unser Gremium mit je drei Delegierten aus jedem
Mitglieds- und Kandidatenland, ganz gleich, ob groß oder
klein, hat 16 Monate lang öffentlich diskutiert und um Konsens
gerungen. Wir haben das Gespräch mit der Zivilgesellschaft und
dem europäischen und den nationalen Jugendkonventen gesucht.
Und die Mehrheit der 72 Parlamentsvertreter unter den 105
Delegierten hat in den letzten Wochen manchen Konsens
überhaupt erst ermöglicht, den eine Regierungskonferenz
wohl nicht zustande gebracht hätte. Und dabei zeigte sich
immer wieder, dass der Konvent nur lebendig und erfolgreich bleibt,
wenn die Delegierten sich aufeinander zubewegen und Kompromisse
schließen. In diesen vielen Monaten ist gegenseitiges
Verständnis und Vertrauen gewachsen, ja auch manche
Freundschaft entstanden.
Wir haben erkannt - und das ist ein kostbarer Gedanke -, dass es tatsächlich so etwas wie die gemeinsame Verfassungsüberlieferung unserer Länder gibt. Und wir haben, wie Willy Brandt es genannt hat, mehr Demokratie gewagt.
Unser Dank gilt Ihnen, Herr Präsident, und Ihren
Präsidiumsmitgliedern. Sie haben wesentlich dazu beigetragen,
dass wir gemeinsam ein Stück europäischer Geschichte
gestaltet haben.
Der Präambel unserer Verfassung haben Sie den Ausspruch von
Thukydides, eines griechischen Klassikers, über die Demokratie
vorangestellt. Lassen Sie mich ergänzend auf den Satz eines
römischen Klassikers hinweisen: "opus justitiae pax"- Frieden
entsteht durch Gerechtigkeit. Das bedeutet für uns: Das immer
größer werdende Europa ist eine Friedensgemeinschaft,
die durch die Geltung von Menschenrechten und dem Vorrang der
zivilen Konfliktsprävention vor der militärischen
Intervention als allerletztes Mittel lebt.
Unser Dank gilt, last but not least, dem Sekretariat, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Dolmetschern für
ihren großartigen Einsatz, ohne den es diese Verfassung nicht
gäbe.
(langanhaltender Beifall)
Und nun lassen Sie uns alle gemeinsam unseren Bürgerinnen und Bürgern sagen, dass und warum diese Verfassung ein großer Schritt zu mehr Demokratie, mehr Transparenz, zu mehr Handlungsfähigkeit und auch zu mehr Solidarität in einer erweiterten Europäischen Union ist.
Die Regierungsvertreter in diesem Konvent sind aufgefordert, der
bevorstehenden Regierungskonferenz klarzumachen, dass dieser
Entwurf ein Gesamtkunstwerk oder - prosaisch formuliert - ein Paket
ist, das nicht aufgeschnürt werden darf, weil man es sonst
nicht mehr zusammenbekommt.
Ich schlage vor, dass die 25 Staats- und Regierungschefs ihre
Unterschrift 8 Tage nach dem Beitritt der 10 neuen
Mitgliedsländer am 9. Mai 2004, dem neuen Europatag, unter die
Verfassung setzen.
Nun lassen Sie uns die Europabegeisterung, die uns bei unserer
Arbeit getragen hat, auf unsere Mitbürger übertragen.
Begeistern kann man nur, wenn man es selbst ist.
Ich danke Ihnen.
(Beifall)