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Gefahr oder Chance? Der Reichstag wird zum Bundestag
von Daniel Dagan
Erster Besuch in Deutschland Anfang der siebziger Jahre. Ein markanter Höhepunkt beim Aufenthalt im geteilten Berlin: Besichtigung des menschenleeren Reichstages mit seiner ständigen Ausstellung, die manche gute, aber überwiegend doch schlechte Erinnerungen an die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus an diesem Ort wachrufen.
Der Himmel über Berlin war bewölkt, fast dunkel. Ein Hauch von Traurigkeit herrschte überall. Deutsch konnte keiner von uns in der Gruppe israelischer Journalisten, und die Erklärungen unseres Begleiters mit seinem Schulenglisch erschienen uns lästig. Es war vor allem die besondere, geschichtsbeladene Atmosphäre, die uns fesselte. Und die konnte man ohnehin nicht in Worte fassen. Ein Schritt auf den Balkon, von dem aus Mauer, Stacheldraht und Wachtürme der DDRGrenzsicherungsanlagen zu sehen waren. Dieser schreckliche Anblick verstärkte die Wahrnehmung dieser unheimlichen, düsteren Realität. Hier waren nicht nur Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands, sondern auch der OstWestKonflikt und die unhaltbare Lage Berlins unmittelbar anzutreffen.
Ich muß zugestehen, daß ich im Laufe der Jahre eine Beziehung zu diesem Gebäude entwickelt habe. Wie vielleicht auch viele andere Menschen, die sich mit Deutschland mehr oder weniger intensiv befassen. Zwar habe ich den Reichstag seit meinem ersten Besuch nur selten betreten. Aber ich habe immer wieder über ihn gelesen. Und oft genug habe ich ihn - wie wohl andere Berufskollegen - in Artikeln, Sendungen oder Debatten erwähnt. Begeistert hat mich dieser Bau noch nie. Wie konnte er das auch? Für mich stellte er allerdings zunehmend einen geographischen und geschichtlichen Mittelpunkt dar. Vor dem Fall der Mauer in seiner Funktion als markantes Symbol zwischen Ost und West. Danach als Verkehrsknoten und letztlich als Riesenbaustelle inmitten des neu zu gestaltenden Berlins.
Als der Verhüllungskünstler Christo den Reichstag in einem neuen Gewand zeigte, konnte ich nicht zu einer Reise nach Berlin überredet werden. Ich sah einfach keine Veranlassung, bloß wegen dieser überdimensionalen, auf den ersten Blick wahnsinnigen Verpackung auch meinen eigenen Koffer zu packen. Doch bald darauf bekam ich die lockere, volksfestähnliche Atmosphäre am Fuße des mit Stoff verhüllten Gebäudes hautnah zu spüren. Meine Kinder, die dort waren, riefen begeistert an, um von der Magie der Bilder und der Stimmung zu berichten.
Der Reichstag ist also nicht nur ein geschichts, sondern auch ein emotionsgeladener Bau - zum Bösen und zum Guten. Dies wird selbst bei ausgewählten Besuchern und Beobachtern deutlich, von den Berlinern und den Deutschen insgesamt ganz zu schweigen. Ein so besonderer Ort bietet gewiß die Möglichkeit, aus der Geschichte nicht nur zu lernen, sondern sie auch zu spüren, zu fühlen und im besten Sinne des Wortes nachzuempfinden.
Die Rückkehr des deutschen Parlaments zum Reichstag geschieht unter einem guten architektonischen Vorzeichen, soweit man es jetzt schon beurteilen kann. Es wurde eine interessante, funktionelle Lösung gefunden, alt und neu in diesem geschichtsträchtigen Bau zu verbinden. So könnte es mit der parlamentarischen Arbeit selbst auch gelingen. Die Verknüpfung von manchen alten Ansätzen der deutschen Demokratie mit den guten bundesrepublikanischen Erfahrungen ist zugleich eine klare, überdeutliche Absage an alles, was im Dritten Reich geschah.
Aber Vorsicht! Wir sind bei dem Begriff "Reich" und somit auch bei der Diskussion über die Beibehaltung oder Ablehnung des Namens Reichstag für das Gebäude, in das die bewährte Institution Bundestag demnächst einzieht. Hierüber sollen sich Politiker und Stadtväter streiten. Ich gebe keine Empfehlungen meinerseits. Nur soweit: Das, was entschieden wird, muß sich durch eine breite Akzeptanz auch durchsetzen. Lassen wir uns überraschen.
Überrascht und sogar verblüfft bin ich ohnehin durch die Betrachtung der sich rasch verändernden Wirklichkeit in Deutschland, die ihren Niederschlag auch in der andauernden Diskussion um den Reichstag findet. Ein Land und seine Menschen definieren sich neu - auch durch eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit, aber keineswegs durch sie allein.
Vierzig Jahre lebten die Deutschen gut behütet in den rivalisierenden Systemen, in die sie geraten waren. Im Westen Wohlstand und Demokratie unter amerikanischer Obhut. Im Osten ein rigides, langweiliges, angepaßtes, aber für viele auch sorgenloses und bequemes Dasein unter Moskauer Dominanz. Deutschland als ein riesiges Labor der Weltsysteme. Ach, das waren Zeiten!
Als die Einheit über die Deutschen hereinbrach, schluckte der größere und erfolgreichere den kleineren und in sich zusammengebrochenen Teil des Landes. Deutschland West hat immerhin von Deutschland Ost den grünen Pfeil (der trotz Rot rechts abbiegen erlaubt) übernommen ansonsten hat sich die Bundesrepublik einfach ausgedehnt.
Und nun? Fünfzig Jahre nach der Neugründung und knapp zehn Jahre nach der Einheit sind die Deutschen wirklich auf sich selbst gestellt. Das Land also wiederum als ein weltgeschichtliches Experiment - diesmal für die Annäherung der ehemaligen Gegner, für die unvermeidbare Einigung und für die Entwicklung einer modernen, in vieler Hinsicht neuen Identität.
Es ist vor allem das Letztere, das das Land so unsicher und zugleich so interessant macht. Deutschland entdeckt sich neu: seine vorherrschende geographische Lage inmitten Europas. Seine vielen Nachbarn. Sein gewachsenes politisches Gewicht. Sein schwieriges Verhältnis zur Machtausübung und zur Interessenwahrnehmung im herkömmlichen Sinne. Und nicht zuletzt seinen Wunsch auf Wechsel und Erneuerung.
Aber noch befindet sich Deutschland in der Phase, wo Zweifel und Unsicherheiten vorherrschen. Es ist eher ein Gemütszustand als eine politische Lagebeschreibung. Der ausgeprägte Diskurs bremst den Tatendrang, die Meinungsverschiedenheiten lähmen den Fortschritt, die Unfähigkeit zur Einigung versperrt den Blick auf die anstehenden Lösungen.
In extremen Fällen suchen Menschen Flucht in die politische Irrationalität oder in die politische Utopie. Realitätsferne ist die Folge. In ganz gefährlichen Fällen werden sie gar von Xenophobie und Rechtsradikalismus befallen. Schade für Deutschland.
Ehrlich gesagt finde ich es sympathisch, daß die Deutschen noch unterwegs sind, und daß sie nicht einmal wissen, wohin die Reise geht. Wie bei der Kontroverse über das HolocaustMahnmal in Berlin - das Land diskutiert ehrlich und aufrichtig.
Doch weiß ich natürlich, daß Deutschland nicht bloß ein Labor bleiben kann. Bei dem weltpolitischen Gewicht dieses Landes - eine nicht zu verdrängende Tatsache - kann man sich die Zweifel nicht ewig leisten. Mut braucht das Land - zur Selbstdefinition als ein offenes und pluralistisches Gemeinwesen, das mehr Flexibilität und mehr Reformbereitschaft in vielen Bereichen zeigt, das Europa und der Welt zugewandt ist. Es bleibt zu hoffen, daß der bevorstehende Umzug des Bundestages in den Reichstag (oder Plenarsaal, oder wie man es auch immer nennt) das geschichtliche Bewußtsein des modernen Deutschlands noch verschärft und eine gelungene Fortentwicklung der deutschen Demokratie darstellt.
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DANIEL DAGAN
der in Kairo geborene und in Frankreich und im Kibbuz aufgewachsene
Journalist Daniel Dagan hat in Madrid, in Brüssel und in den
USA gearbeitet. Der 53jährige ist in Bonn für den
israelischen Rundfunk (Jerusalem), die Finanz und
Wirtschaftszeitung Globes (Tel Aviv) sowie die jüdische
Nachrichtenagentur JTA (New York) tätig.