Ein Bestseller, rotweiß gestreift
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Er war Geheimrat, der Herr Kürschner. Doch seine Sache war nicht die Geheimniskrämerei: Joseph Kürschner, der Mann, der fast unzählig viele Lexika schrieb, wunderte sich vor über 100 Jahren einfach nur, daß es Bücher und Verzeichnisse selbst über fernste Länder gab, aber kein einziges Büchlein über die Mitglieder des Reichstages. Also machte sich der erfolgreiche Lexikograph auf den Weg zum Reichstag, sammelte die Biographien aller Abgeordneten, bat höflichst um eine Photographie und legte 1890 den ersten "Kürschner" vor: 4,7 Zentimeter breit, 7,4 Zentimeter hoch, alle Abgeordneten inklusive. Ein Büchlein für die Hosentasche, das sich zum Verkaufsschlager entwickelte. 109 Jahre später ist "Kürschner Volkshandbuch" in der 82. Auflage erschienen - wie damals ein Bestseller und rotweiß gestreift.
Rotweiß gestreift war der Kürschner von Anfang an", erzählt der heutige Herausgeber Klaus J. Holzapfel. In seinem Büro im kleinen Rheinbreitbach wenige Kilometer vor Bonn sind alle Kürschners aufgereiht. "Kürschner suchte einen Umschlag, der sich von allen anderen Büchern unterscheiden sollte." Und das tut er bis heute. Kein Buch auf dem deutschen Markt gleicht dem auffälligen Volkshandbuch, das in jedem Pressebüro, jeder Pressestelle, in jedem Lobbyverband zu finden ist. Über 60.000 Exemplare kann der 1949 gegründete NDVVerlag, Rechtsnachfolger des HermannHilgerVerlages, der den Kürschner vor dem Krieg herausbrachte, von jeder Auflage absetzen. Dabei übernimmt der Bundestag einen wesentlichen Teil für seine Öffentlichkeitsarbeit.
Es war nicht immer selbstverständlich, daß die Mitglieder des Parlamentes in einem Handbuch für jedermann zugänglich gemacht wurden. Als Kürschner sein erstes Handbuch für wenige Pfennige herausgab, war die Parlamentsverwaltung an einem Kauf für die eigene Verbreitung nicht interessiert. Das Buch wurde allein über den Buchhandel vertrieben. Den Nazis war das Verzeichnis gar suspekt. Sie verboten den Kürschner schon 1933. Das Parlament hatte ausgedient.
Nach dem Krieg erschien der Kürschner erst zur zweiten Wahlperiode 1953 - 20 Jahre nach seinem Verbot. Für 2,85 Mark kam der Kürschner damals in den Buchhandel. Zwar hatte der NDVVerlag auch für den ersten Bundestag eine Veröffentlichung vorbereitet und alle Biographien bereits zusammengestellt. Doch ließ die Genehmigung durch die Bundestagsverwaltung so lange auf sich warten, erinnert sich KlausJ. Holzapfel, daß der damalige Chefredakteur der Deutschen PresseAgentur, Fritz Sänger, ein eigenes Verzeichnis vorlegte. Mit einem offiziellen Vorwort von Bundespräsident Theodor Heuss.
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Nach dem Krieg erschien der Kürschner erst zur zweiten Wahlperiode 1953 - 20 Jahre nach seinem Verbot. |
Schon im ersten Satz erinnerte Heuss an das alte Volkshandbuch Kürschners: "Wir haben es fleißig gebraucht, wenn bei der Lektüre der Parlamentsdebatten ein neuer Name auftauchte. Denn man wollte doch eine bestimmte Vorstellung gewinnen, woher der Mann kam, der da gesprochen hatte." Heuss hatte dabei auf vielfältige Weise recht. Da erfuhr man zum Beispiel einiges über das Verhältnis der Abgeordneten zur Photographie. Einige mögen aus Schusseligkeit kein Bild bei Joseph Kürschner abgegeben haben, andere dagegen verzichteten ganz bewußt und ließen das im 1890er Kürschner auch vermerken. Wie der Berliner Abgeordnete und Schriftsteller Alexander Meyer. Der schrieb anstelle einer Photographie: "Ich bin eine wehleidige Natur. Es würde mir unerträglichen Kummer verursachen, mir auch nur ein Bein abnehmen zu lassen und nun gar das Gesicht. Ich führe seit Jahren einen Verzweiflungskampf gegen die Zumutung, mich litho, photo, xylo oder sonst irgendwie phieren zu lassen."
Wilhelm Freiherr von Gültlingen aus Calw nutzte den Kürschner gar zu einem Protest gegen den Wahlkampfstil seines politischen Gegners. "Wegen der ihm unsympathischen Art und Weise, wie ein anderer Abgeordneter seine Wahl gemacht habe", verweigerte der Kammerherr und Stuttgarter Landesgerichtsrat ein Bild und ermächtigte Herausgeber Kürschner, den Lesern davon Kenntnis zu geben. "Was dieser andere Abgeordnete getan hat, wissen wir leider nicht", sagt der heutige Herausgeber KlausJ. Holzapfel.
Heuss' Erinnerung an den alten Kürschner im Vorwort zu Sängers "Handbuch des Deutschen Bundestags" stieß auf fruchtbaren Boden. 1953 kam der erste NachkriegsKürschner in gewohnter Aufmachung heraus, an dem der heutige Herausgeber als 22jähriger schon mitwirkte. Ein Geschäft, das heute sein Sohn Andreas übernommen hat. "Inzwischen erscheint der Kürschner vier bis fünfmal pro Legislaturperiode", sagt Andreas Holzapfel. "Aufgrund von Nachrückern, Rücktritten und Veränderungen in den Ausschußbesetzungen ist ein Neudruck manchmal schon nach neun Monaten notwendig." In der 13. Wahlperiode erschienen fünf Auflagen. Der neue Kürschner ist gerade Ende Februar in 82. Auflage herausgekommen.
Dabei macht auch vor dem Kürschner der Zeitgeist nicht halt. So haben sich die Biographien mit Einzug der Grünen verändert. "Erstmals tauchten schwule und lesbische Lebensgemeinschaften auf. Auch der Stil ist lockerer geworden", so Andreas Holzapfel. Zeitweise waren in den 50er Jahren militärische Angaben in den Lebensläufen verpönt, nach Gründung der Bundeswehr änderte sich das. Selbst Ritterkreuze wurden im Kürschner wieder genannt. Dabei sind solche Veränderungen nicht zufällig, sondern ganz bewußt. Denn jede Biographie und jedes abgedruckte Foto stammt vom Abgeordneten selbst. "Das ist eine Menge Arbeit", sagt Andreas Holzapfel, der heute immerhin auf Computer und Datenbank zurückgreifen kann. Früher entstand der Kürschner an der Schreibmaschine.
Den kürzesten Eintrag der neuen Auflage lieferte mit vier Zeilen die SPDAbgeordnete Margot von Renesse. Auch für den Verlag überraschend füllte die Biographie in der 13. Wahlperiode doch noch 13 Zeilen und verriet Wissenwertes über ihre Nebentätigkeiten in der Friedensbewegung, der evangelischen Kirche und im Verwaltungsrat des WDR. Andere sind dagegen so mitteilsam, daß der Verlag kürzen muß. Doch selbst das geschieht in Abstimmung mit den Abgeordneten. Eine zeitraubende Arbeit.
Aufregend dagegen war die Arbeit des KürschnerVerlages für die Volkskammer 1989. "Schon zwei Wochen nach der Maueröffnung sprachen wir mit dem Staatsverlag der DDR über eine Zusammenarbeit", erinnert sich Andreas Holzapfel. Der Staatsverlag gab das Abgeordnetenbuch der Volkskammer heraus, in dem die Länge der Biographien streng von Amt und Parteihierarchie abhingen. Selbstverständlich, daß Regierungschef Erich Honecker mit sechs Seiten die längste Biographie hatte.
Doch die Zusammenarbeit währte nur kurz. Im Mai 1990 legten Staatsverlag und NDV zwar einen Vorabdruck des Abgeordnetenverzeichnisses der freigewählten Volkskammer vor. Der geplante Buchdruck à la Kürschner fiel jedoch wegen der sich überschlagende Ereignisse aus, die am 3. Oktober mit der Wiedervereinigung ihren Höhepunkt fanden. Nur ein halbes Jahr nach ihrer Wahl löste sich die Volkskammer wieder auf, ihre 144 Abgeordneten wurden Mitglieder des Bundestages. Und damit Teil einer Neuauflage des Kürschners...
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Der jüngste Kürschner, der erste der 14. Wahlperiode. 320 Seiten stark, in der 82. Auflage insgesamt seit 1890 |