ENERGIEPOLITISCHE DEBATTE IM BUNDESTAG Koalition und Opposition streiten über Ausstieg aus der Kernenergie(wi) Die gesellschaftliche Kontroverse um die Kernenergie hat nach den Worten von Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) die Formulierung einer praktikablen und von den Bürgern akzeptierten Energiepolitik verhindert. Müller sagte am 16. Dezember in der Bundestagsdebatte zur Energiepolitik, es habe am politischen Willen gefehlt, die Diskussion um die Kernenergie als "wirkliche Debatte im Volk" aufzugreifen und zu befrieden (siehe auch S. 34 und 39). Wenn es nicht am Willen gefehlt habe, dann habe es am Mut gefehlt zu sagen, dass der Gesellschaft auf Dauer nicht eine Energieform gegen deren Willen übergestülpt werden könne, sagte Müller. Er könne kein westeuropäisches Land nennen, das den Aufbau oder Neubau von Kernkraftwerken in Planung hätte. Die Frage nach der Zukunft der Kernenergie sei längst keine energiepolitische Frage mehr, sondern nur noch die Frage nach der betriebswirtschaftlich vernünftigen Restnutzung vormals investierten Kapitals. Es bleibe die Aufgabe, bei der Entsorgung auf der Basis eines vernünftigen Konzepts zu Fortschritten zu kommen. Der Einstieg in ein nachhaltig klimaverträgliches Energiekonzept in Verbindung mit einem Kernenergieausstieg sei nicht nur eine für die nächsten Jahrzehnte lösbare programmatische, sondern auch eine Schritt für Schritt realisierbare Aufgabe. Im nächsten Jahr werde der Ausstieg aus der Kernenergie möglichst so gesetzlich geregelt, dass diese Regelungen im Einvernehmen mit den Eigentümern festgelegt werden, sagte der Minister. Höhere KostenKurtDieter Grill (CDU/CSU) kritisierte, Müller habe auf die Frage nach der Energieversorgung weder mit KraftWärmeKopplung noch mit anderen Dingen eine zuverlässige, glaubwürdige Antwort für das 21. Jahrhundert gegeben. Der klimaneutrale Ausstieg aus der Kernenergie erhöhe die Energiekosten auf 20 Milliarden DM pro Jahr, bezogen auf das Jahr 2020. Es gehe also um Kosten von 350 bis 450 Milliarden DM. Die Frage der Kosten werde genauso wenig beantwortet wie die Frage nach den Konsequenzen des Kernenergieausstiegs. Unbeantwortet sei auch die Frage der Arbeitsplatzbilanz. Nicht beantworten könne der Minister auch die Frage nach dem Erhalt des Stromproduktionsstandorts Deutschland. Die Regierung überlasse die Frage der Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke dem Zufall und mache die sichere Nutzung der Kernenergie nicht zu einer zentralen Aufgabe dieses Landes, warf Grill dem Minister vor. Michaele Hustedt (Bündnis 90/Die Grünen) kündigte eine Atomgesetznovelle der Bundesregierung an, die "wir im Zweifelsfall auch im Dissens mit den Stromkonzernen durchsetzen werden". Dennoch hoffe man, dass es zu einem Kompromiss kommt. Nach spätestens 18 Jahren werde das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz gehen. Darüber hinaus werde die Haftungspflicht erhöht, Sicherheitschecks würden eingeführt, ein solides Entsorgungskonzept entwickelt und ein Moratorium für Gorleben beschlossen. Man werde den Stromkonzernen anbieten, dass sie flexibel mit Laufzeiten umgehen können. Für sie würde es sich rechnen, wenn unrentable Atomkraftwerke vom Netz genommen und andere dafür länger laufen würden. Ein Drittel kompensierenFür die F.D.P. betonte Ulrike Flach, wenn 2018 das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet werden soll, müsse etwa ein Drittel der deutschen Stromversorgung bis 2018 kompensiert werden. Das vorliegende Stromeinspeisungsgesetz suggeriere, so die F.D.P.Abgeordnete, dass dies mit erneuerbaren Energien, mit Wasserkraft, Windkraft, Solar und Geothermie zu schaffen sei. Gleichzeitig würden die deutschen Kohlekraftwerke durch die Ökosteuer belastet und Gasproduzenten würden mit dem erklärten Ziel einer Umstrukturierung des Strommarktes — weg von der Kohle und hin zu Gas — bevorzugt. Die Koalition führe Deutschland nicht in eine grünrote Energiewende, so Flach, sondern sie taumele "haltlos in den Verlust eines Drittels unserer Energieversorgung". Erforderlich sei ein geschlossenes Konzept für eine sichere, preisgünstige und ökologisch nachhaltige Energieversorgung. Eva BullingSchröter (PDS) prognostizierte, dass deutscher und ausländischer Billigstrom den ökologischen Umbau behindern werde. Viele Stadtwerke sähen sich gezwungen, wegen des Strompreisverfalls massiv Stellen abzubauen. Neben Arbeitslosigkeit und Sozialabbau in den Stadtwerken drohten den Kommunen massive Einnahmeverluste. In Deutschland betrage die Liberalisierung 100 Prozent minus Stromeinspeisegesetz minus Schutz der ostdeutschen Braunkohleverstromung. Damit würde schon mehr als die Hälfte seiner Stromerzeugung dem Wettbewerb ausgesetzt sein. Dies sei umweltpolitischer Irrsinn und nütze nur den großen Energieversorgungsunternehmen. Für Ernst Schwanhold (SPD) ist der Ausstieg aus der Kernenergie im Konsens absehbar. Der Ausstieg verlange langfristig ein Konzept über Einsparen, über alternative Produktionen, über regenerative Energieträger und über die Stärkung der heimischen Energieträger im Energiemix. Schwanhold lud die Opposition zu einer Diskussion über diesen Energiemix ein. Je breiter er von den Menschen und den Parteien getragen werde, desto sicherer seien die Planungsdaten für die Wirtschaft. Der SPDPolitiker kündigte an, über eine Quote oder andere geeignete Maßnahmen werde die Förderung und der Absatz der ostdeutschen Braunkohle gesichert, sodass diese Kraftwerke in Zukunft im Wettbewerb bestehen könnten. Man werde dafür sorgen, dass die ostdeutschen Braunkohlestandorte erhalten bleiben. Entscheidende ZukunftsfrageNach Auffassung von Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) ist die friedliche Nutzung der Kernenergie eine "wirklich entscheidende Zukunftsfrage" in diesem Land. Es reiche nicht, einen Atomausstieg zu predigen, ohne überzeugende Alternativen zu nennen, die umweltverträglicher, preiswerter und arbeitsplatzerhaltend sind. Die Unionsabgeordnete warnte davor, künftig Atomstrom aus osteuropäischen Kernkraftwerken zu beziehen. Durch deutsche Kernkraftwerke würden 160 Millionen Tonnen an KohlendioxidEmissionen im Jahr eingespart. Dies entspreche dem Abgasausstoß des gesamten deutschen Straßenverkehrs. |