Selbst im betulichen Metz im fernen Lothringen marschieren an die 10.000 meist junge Leute durch die Straßen und wünschen in Sprechchören den CPE zum Teufel. CPE steht für "Contrat Première Embauche", den Regierungschef Dominique de Villepin in Frankreich einführen will: Dieser "Erstanstellungsvertrag" treibt seit Wochen Studenten und Schüler zu Protesten, weil laut CPE Berufsanfänger bis zum Alter von 26 Jahren in den ersten 24 Monaten ihrer Tätigkeit vom Unternehmer jederzeit ohne Begründung gekündigt werden können.
Nicht nur in Paris, auch überall in der Provinz finden Massendemonstrationen statt. An zwei Aktionstagen, die am Rande von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet wurden, waren es zwischen Rhein und Atlantik jeweils mehr als eine Million Teilnehmer. Rund drei Viertel der Universitäten sind geschlossen. Am 27. März legten zudem Streiks, von den Gewerkschaften zur Unterstützung der jungen Leute organisiert, das Land zum Teil lahm: Vielerorts fuhren Züge und Metro nicht, Postämter machten dicht, Flüge fielen aus, selbst Zeitungen erschienen nicht. Und die Kampfmaßnahmen sollen noch ausgeweitet werden.
Ob die Konflikte nun erst recht eskalieren, dürfte vor allem von der für Freitagabend nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe erwarteten Entscheidung von Jacques Chirac abhängen: Der Präsident kann allen Widerständen zum Trotz das CPE-Gesetz in Kraft setzen oder zur erneuten Beratung ins Parlament zurück-verweisen, nachdem am vergangenen Donnerstag das Verfassungsgericht die Neuregelung für rechtskonform erklärt hat. Bernard Thibault, Chef der Gewerkschaft CGT, warnte Chirac bereits vor "sehr schweren Konsequenzen", sollte er auf dem Gesetz beharren.
Die Demonstranten wollen jedenfalls nicht klein beigeben. Studentenführer Bruno Julliard, binnen kurzer Zeit zu de Villepins populärem Gegenspieler avanciert, attackiert den CPE als "Müllvertrag". Jederzeit rausgeworfen werden können? Als Manövriermasse der Patrons fungieren? "Wegwerfjugendliche billig abzugeben", "Willkür", "Beleidigung der Jugend": Solche und ähnliche Parolen sind auf Transparenten zu lesen. In Sprechchören bei ihren Märschen wie bei Interviews auf TV-Bildschirmen und in Zeitungen lassen die jungen Leute ihrem Zorn freien Lauf. "Wir sind keine Verschiebemasse", erklärt eine Studentin. Künftig sei man "auf die Gnade der Chefs angewiesen", empört sich ein Kommilitone. Eine junge Frau beklagt sich bitter, Air France habe ihr ein dreimonatiges Praktikum nur ermöglicht, weil sie auf eine Bezahlung verzichtet habe: "Und so sollen wir alle in Zukunft arbeiten?"
Die Protestler und Gewerkschaften fordern kategorisch die Rücknahme des CPE, während der Premier hart bleiben und allenfalls über Details reden will. Verkompliziert wird die Lage, weil sich parallel zum Aufruhr auf der Straße ein politischer Machtkampf abspielt: Der Premier muss sich auch seines Innenministers Nicolas Sarkozy erwehren - der Rivale beim Ringen um die Präsidentschaftskandidatur der Konservativen im nächsten Jahr geht beim Streit um den CPE auf Distanz zu seinem Chef. Und im Elysée-Palast vermittelte Präsident Chirac wochenlang den Eindruck von Tatenlosigkeit.
Eine solche Gemengelage ist einer Lösung der dramatischen Krise auf dem Arbeitsmarkt natürlich nicht förderlich. Bei den unter 25-Jährigen nimmt Frankreich mit einer Erwerbslosenquote von 23 Prozent einen der vorderen Plätze in Europa ein. In den sozial deklassierten Vorstädten sind es sogar an die 50 Prozent. Und jene, die eine Arbeit finden, sind oft mit gewaltigen Schwierigkeiten beim Berufseinstieg konfrontiert: Schlecht oder gar nicht entlohnte Praktika, Verträge für Jobs über höchstens sechs Monate und Phasen der Erwerbslosigkeit wechseln sich nicht selten jahrelang ab, bis vielleicht eine längerfristige Beschäftigung winkt.
Als Therapie präsentiert de Villepin den CPE: Dieser Vertrag, der im Kern an die Stelle der Sechs-Monats-Jobs die Möglichkeit des fristlosen Rauswurfs innerhalb von zwei Jahren setzt, soll Arbeitgeber dazu animieren, überhaupt Stellen für junge Erwachsene anzubieten. Allerdings vermochte der Premier weder bei seinen TV-Auftritten noch im Parlament das zentrale Gegenargument zu entkräften, das Studenten, Schüler und Gewerkschafter zu ihren Protesten treibt: Die Eliminierung des Kündigungsschutzes schaffe keine neuen Arbeitsplätze, und an denen fehle es.
Die Demonstranten, in deren Gefolge auch viele Eltern mitmarschieren, werfen de Villepin vor, mit dem CPE die prekäre Unsicherheit zahlreicher Berufsanfänger nun einfach auf alle Jobeinsteiger auszuweiten. Und die Gewerkschaften fürchten, dass der Wegfall des Kündigungsschutzes künftig alle Arbeitnehmer treffen könnte.
Aufgeheizt wird die Atmosphäre durch die Überrumpelungstaktik de Villepins. Der Premier, geradezu ein Sinnbild der abgehobenen Technokraten-Elite in der Politik, ließ den CPE im stillen Kämmerlein seines persönlichen Umfelds aushecken und dann im Schnelldurchgang durchs Parlament bugsieren. Freund und Feind standen vor vollendeten Tatsachen, Verhandlungen mit den Gewerkschaften im Vorfeld standen schon gar nicht zur Debatte. Diese Kaltschnäuzigkeit sollte sich rächen. Auf einem Demo-Transparent war ein Plakat zu sichten, das unter dem Slogan "Besoffen von der Macht" Chirac als absolutistischen Sonnenkönig und de Villepin als Napoleon karikiert. Versuche des Premiers, nachträglich bei Gesprächen Gewerkschaften und Studentenverbände zu besänftigen, blieben ohne Ergebnis. "Man löscht einen Waldbrand nicht mit einem Glas Wasser", meint Bruno Julliard dazu.
Diese offene Flanke de Villepins sucht Sarkozy, die Präsidentschaftswahlen fest im Visier und geübt in der Ranküne, geschickt zu nutzen. Der Innenminister fordert einen "wirklichen Kompromiss" und eine "Suspendierung" des CPE, solange mit den Gewerkschaften verhandelt werde: ohne Zweifel ein Affront gegen den Rivalen beim Kampf um den Einzug in den Elysée. Die Demonstrantenmassen auf der Straße vor sich, Sarkozy im Rücken: Für de Villepin geht es ums Ganze, nämlich um seine politische Zukunft. Der Premier soll Chirac sogar mit Rücktritt gedroht haben, falls sich der Präsident in diesem Konflikt nicht auf seine Seite stellt.
In dem aufgeladenen Klima geht inzwischen die Sorge um, dass der Funke des Protests von den Manifestationen auf die Vorstädte überspringen und dort wie im Herbst Ausschreitungen mit brennenden Autos provozieren könnte. Gewalttätige Krawalle sind bislang bei den Aktionen gegen den CPE eher Randerscheinungen geblieben. Allerdings tauchen hier und da Jugendbanden aus der Banlieue auf, werfen Fensterscheiben ein, demolieren Autos oder verprügeln sogar Demonstranten.