Ehsan Jafri galt als überzeugter Verfechter religiöser Toleranz. Bis heute existieren verschiedene Berichte, wie der 72-jährige frühere Parlamentarier, Mitglied von Indiens traditionsreicher Kongress-partei, getötet wurde. Manche sagen, der Mob habe ihn bei lebendigem Leib verbrannt. Andere, man habe ihm erst die Hände abgehackt, den Bauch aufgeschlitzt und dann seine Leiche in Brand gesteckt.
Am Todestag von Jafri steigen über Ahmedabad Rauchsäulen in die Höhe. Tausende von Hindu-Extremisten haben die kleine Muslim-Gemeinde Gulbarg, in der Jafri mit seiner Familie wohnt, umzingelt. Sie tragen gelb-orange Kopfbänder, haben Messer und Macheten und Brennflüssigkeit dabei. In Todesangst flüchten Nachbarn ins Haus der Jafris, hoffend, dass sie bei dem angesehenen Politiker sicher sind. Über Stunden wählt er sich die Finger wund, fleht um Hilfe - beim Polizeichef, beim Bürgermeister, beim Oppositionsführer.
Augenzeugen berichten später, drei Polizeibusse hätten in der Nähe geparkt. Aber die "Ordnungshüter" sehen tatenlos zu, als der Mob in die Kolonie eindringt. Die Hindu-Fanatiker stürmen das Haus der Jafris. Dutzende von Menschen werden brutal abgemetzelt, nicht einmal die Zahl ist sicher, weil sich die verkohlten Leichenteile nicht mehr zuordnen ließen. Von Ehsan Jafri werden später nur noch seine Pantoffeln gefunden.
Das war vor vier Jahren im indischen Bundesstaat Gujarat. Auslöser war ein Brand in einem Zugabteil mit Hindu-Pilgern, dessen Ursache bis heute mysteriös ist. Innerhalb weniger Wochen wurden damals mindestens 2.000 Menschen, die allermeisten Muslime, abgeschlachtet und unzählige Frauen oft von ganzen Hindu-Gangs vergewaltigt. Hunderttausende von Muslimen flohen aus Angst vor Übergriffen aus ihren Häusern in Notcamps. Spätere Untersuchungen lassen keinen Zweifel: Das Massaker war kein spontaner Ausbruch religiöser Gewalt, es war ein Pogrom - von militanten Hindu-Nationalisten geplant und organisiert und von staatlichen Instanzen geduldet.
Es wurde offenbar von höchster Stelle gedeckt und gebilligt - von Gujarats Regierungschef Narendra Modi. Journalisten wie der angesehene Kolumnist Vir Sanghvi titulieren Modi heute in Artikeln offen als Massenmörder. Die USA haben ihm die Einreise verweigert. Dennoch wurde der Hindu-Hardliner kurz nach dem Massaker mit haushoher Mehrheit wiedergewählt, er regiert weiter den Bundesstaat. Die meis-ten Opfer warten dagegen bis heute auf Gerechtigkeit: Kaum einer der Täter wurde verurteilt. Anfang Mai dieses Jahres wurden in Vadodara bei religiösen Unruhen erneut sechs Menschen getötet, nachdem die Stadtoberen einen 200 Jahre alten islamischen Schrein hatten abreißen lassen.
Der Westen pflegt und hegt seine Klischees über Indien. Das Gandhi-Land wird als Beispiel und Vorbild für religiöse Toleranz glorifiziert. Und während mancher Westler seit dem 11. September 2001 Muslime unter Generalverdacht stellt, gelten Hindus seit Mahatma Gandhis gewaltlosem Kampf gegen die britischen Kolonialherren per se als friedfertig. Nur: Die Realität fügt sich nicht in diese Klischees, sie ist komplexer, facettenreicher und - zumal in Indien - widersprüchlicher.
Sicherlich ist Gujarat nicht gleichzusetzen mit ganz Indien. Tatsächlich hat das Indien Mahatma Gandhis eine wohl einzigartige Integrationsleistung vollbracht. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensrichtung nach dem Hinduismus. Auf dem Subkontinent, der gut neun Mal so groß wie Deutschland ist, leben 880 Millionen Hindus und beinahe 150 Millionen Muslime. Doch das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen ist und war nicht ohne Konflikte. Muslime kamen ursprünglich als Eroberer, als islamische Reiterkrieger, nach Indien und unterdrückten die Hindus. Auch im 20. Jahrhundert kam es immer wieder zu Gewalttaten zwischen den beiden großen Religionsgemeinschaften. Die Spannungen waren auch Grund dafür, dass Britisch-Indien 1947 in das islamische Pakistan und das mehrheitlich hinduistische Indien geteilt wurde.
Die Teilung mündete in einer der größten Völkerwanderungen der Neuzeit - und in einer schreck-lichen Blutorgie. 7,5 Millionen Muslime flohen bis 1963 aus Indien nach Pakistan, und 5,5 Millionen Hindus in die Gegenrichtung. Bis zu 750.000 Menschen - manche Quellen sprechen von bis zu zwei Millionen - wurden bei Massakern umgebracht. Die Teilung ist bis heute eine traumatische Erfahrung. Auch der Streit um Kaschmir, das Indien einverleibt wurde, obwohl es mehrheitlich muslimisch ist, sät Misstrauen.
Das junge Indien folgte allerdings dem Geiste Gandhis, der apostrophiert hatte: Die indische Kultur sei weder hinduistisch noch islamisch noch etwas gänzlich anderes. Vielmehr sei sie "die Fusion, die Verschmelzung von allem". Unter Führung der Kongresspartei wurde Indien als säkularer Staat definiert und die Religionsfreiheit in der Verfassung verbrieft. Und tatsächlich nehmen Muslime in der Gesellschaft heute wichtige Positionen ein und haben Erfolge vorzuweisen. Der Chef der großen Softwarefirma Wipro, Azim Premji, ist Muslim, ebenso der Künstler MF Husain. Auch in den Filmstudios von Bollywood sind Muslime weit über ihren Bevölkerungsanteil erfolgreich - von Shah Rukh Khan über Amir Khan und Saif Ali Khan bis hin zu Salman Khan. Auch die in Indien zum Star hochgejubelte Tennisspielerin Sania Mirza ist Muslimin.
Doch den Erfolgsstorys stehen tausende von Gegenbeispielen gegenüber. Muslime werden von der Polizei belästigt und diskriminiert, sie werden oft in muslimische Ghettos abgedrängt und haben sozial weniger Aufstiegschancen. Sie sind im Durchschnitt schlechter gebildet, ärmer und leben kürzer als Hindus. Sie laufen eher Gefahr, Opfer von religiöser Gewalt zu werden. Und dem Staat ist ihr Leben weniger wert. Nach den Massakern in Gujarat lobte die Regierung eine Entschädigung für Familien von Getöteten aus. Demnach gab es für einen Hindu 200.000 Rupien, für einen toten Muslim mit 100.000 Rupien nur die Hälfte.
In den 90er-Jahren schlug vor allem die Hindu-Partei BJP aus den schwelenden anti-muslimischen Ressentiments politisches Kapital. Ein neuer aggressiver Hindu-Chauvinismus erstarkte, der die Hinduisierung des Landes zum Ziel hatte und auch Teile der Mittel- und Oberschichten ergriff. Zum Symbol des Religionskrieges wurde die Moschee von Ayodhya, einer Stadt am Ganges, die den Hindus als heilig gilt. Unter Führung namhafter BJP-Politiker machten dort am 6. Dezember 1992 entfesselte Hindu-Fanatiker die jahrhundertealte Babri-Moschee dem Erdboden gleich - sie reklamierten, die Moschee stünde auf den Resten eines Hindu-Tempels.
Besonders die verunsicherten Mittelschichten scheinen für die Botschaften der hindu-nationalistischen Rattenfänger empfänglich. Nicht zuletzt wirtschaftliche Zukunftsängste schüren Neid gegen andere. In die großen Städte strömen immer mehr Armutsmigranten, darunter auch viele Muslime. Einige haben als Geschäftsleute Erfolg, andere machen auch in der Unterwelt ihr Geld. Aber auch die traditionelle indische "Wählerbank"-Politik hat dem Hindu-Nationalismus in die Hände gespielt. Vor allem die Kongresspartei bevorzugt seit Jahrzehnten gezielt Minderheiten wie Muslime oder Angehörige unterer Kasten, um ihre Stimmen zu erkaufen. Die große Mehrheit fühlt sich politisch oft ungehört.
Auch im Recht spiegelt sich eine Sonderbehandlung. Die großen Religionsgemeinschaften dürfen in Indien ihr eigenes Heirats-, Scheidungs- oder Erbschaftsrecht praktizieren. Für Muslime ist der Ausschuss für muslimisches Familienrecht maßgeblich. So kann sich ein Muslim von seiner Frau kurzerhand scheiden lassen, indem er einfach drei Mal laut "Talaq" ("Ich lasse mich scheiden") sagt. Er muss keinen Unterhalt zahlen. Und ihm sind zum Neid vieler Hindus vier Frauen erlaubt. Einerseits befriedet dies zwar die Religionsgemeinschaften, andererseits zementiert es aber auch die Kluft zwischen ihnen.
Mit ihrer polarisierenden und prohinduistischen Politik konnte die BJP von daher Ende der 90er-Jahre nach mehr als 50 Jahren die eherne Vorherrschaft der Kongresspartei brechen und die Macht erobern. Während Gujarats BJP-Landesfürst Narendra Modi weiter seinen antimuslimischen Kampagne fuhr, schlug die BJP auf Bundesebene unter Premierminister Atal Behari Vajpayee jedoch weniger scharfe Töne an. Bei den Wahlen 2004 setzten Vajpayee und seine Gefolgsleute mehr auf wirtschaftliche Themen als auf offene anti-muslimische Hetze. Die Wahlstrategie zahlte sich aber nicht aus: Die BJP verlor massiv an Stimmen und musste die Macht wieder an die Kongresspartei abgeben.
Inzwischen hat der aggressive Hindu-Nationalismus - so scheint es - in der breiteren Bevölkerung an Rückhalt verloren, auch der Tempelkrieg um Ayodhya sorgt nur noch selten für Schlagzeilen. Trotzdem bleibt die Harmonie zwischen den Religionsgemeinschaften eine oberflächliche, trügerische. Hindus und Muslime leben zwar oft Tür an Tür, aber sie sind sich vielfach fremd geblieben. Sie haben ein unterschiedliches Alltagsleben, tragen andere Kleider, essen andere Speisen und haben andere soziale und religiöse Regeln. Vielen Muslimen erscheinen die üppigen Göttinnen und halbnackten Götter in den Hindu-Tempeln frivol. Umgekehrt betrachten es viele Hindus als Frevel, dass Muslime Büffel- oder gar Kuhfleisch essen.
Viele Hindus misstrauen Muslimen oder blicken auf sie herab. Zwar gibt es Heiraten über die Religionsgrenzen hinweg. So ist Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan mit der Hinduistin Gauri verheiratet. Doch solche Verbindungen bleiben die Ausnahme, werden ungern gesehen oder von beiden Seiten verhindert. Eine Hinduistin, die eine Beziehung mit einem Muslim hat, gilt vielen als beschmutzt.
Im Dezember 2005 riefen Aktivisten des fundamentalistischen Welt-Hindu-Rates VHP in Vadodara einen Streik aus, nachdem ein Muslim und ein Hindu-Mädchen geheiratet hatten. VHP-Schergen bedrohten die Eltern des Bräutigams. In den Medien erklärte der VHP-Sekretär von Süd-Gujarat, Gopal Chavda: "In den vergangenen drei Monaten gab es vier solcher Heiraten. Wir betrachten dies als Bedrohung unserer Kultur."
Trotz allem genießt das Gandhi-Land seinen Ruf als Beispiel religiöser Toleranz zu Recht. Wohl kein anderer Staat ist solchen inneren Gegensätzen ausgesetzt und bietet so vielen Religionen, Ethnien und Kulturen eine Heimat. Dennoch leben seine fast 1,1 Milliarden Bürger in engster Nachbarschaft und oft in bitterer Armut meist friedlich zusammen. Die Toleranz und der Freigeist Indiens lassen sich jeden Tag im Alltag besichtigen. In meiner Straße stehen ein Hindu-Tempel und ein Sikh-Tempel Mauer an Mauer, während nur einige Straßen weiter am Freitag Muslime mit Käppchen zum Gebet in die Moschee strömen.
Christine Möllhoff ist Korrespondentin der "Frankfurter Rundschau" in Delhi.