Bei der Berliner Verbraucherzentrale gehen immer mal wieder Anrufe von Bürgern ein, die sich darüber beschweren, von Versandhäusern nur gegen Vorkasse beliefert zu werden. Eine Frau, die bei einem TV-Sender eine Ware bestellt hatte und entgegen der Ankündigung einer Lieferung auf Rechnung erst einmal bezahlen sollte, wohnt im Wedding: Dort leben viele Einkommensschwache und Erwerbslose. Eine Anfrage des Konsumentenverbands bei der Fernsehanstalt über die Gründe für dieses Vorgehen blieb unbeantwortet.
Tatsächlich: Zuweilen dauert es sehr lange, bis man bei Service- und Info-Hotlines durchgestellt wird. Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter in Schleswig-Holstein: "Callcenter nutzen elektronische Programme, über die Telefonnummern einer Adresse zugeordnet und diese nach sozialen Kriterien bewertet werden." Passt die Nummer zu einem "sozialen Brennpunkt", so kann der Anrufer schon mal längere Zeit in der Warteschleife hängen bleiben.
Mit neun Farbschattierungen ist der saarländische Schuldner-Atlas der Auskunftei Creditreform ziemlich bunt geraten: Die Karte zeigt, wo wie viele insolvente Bürger leben. Dunkelrot markiert ist etwa Saarbrück- en, wo über 14 Prozent der Bewohner unter diese Quote fallen. Das dunkelgrün gemalte Mandelbachtal weist mit einem Anteil von unter sechs Prozent die wenigsten überschuldeten Personen auf. Dieser Atlas könnte unangenehme Konsequenzen haben: Sollte sich bei Banken, Leasingfirmen, Mobilfunkunternehmen, Versandhäusern oder Assekuranzen für die Bewohner der dunkelroten Zonen der Score wegen der negativen Bewertung des hohen Schuldnerstands verschlechtern, könnten Bürgern dieser Regionen wegen ihres niedrigen Punktestands möglicherweise Schwierigkeiten bekommen - etwa bei der Kreditgewährung oder dem Abschluss eines Handy-Vertrags. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Gabriele Koebnick, Anwältin und Rechtsberaterin der saarländischen Verbraucherzentrale: "Wir wissen es nicht, weil wir nicht wissen, welche wie gewichteten Daten in den Score eingehen." Das sei eine "geheimnisvolle" Sache.
All diese Beispiele haben mit dem Phänomen des Scorings zu tun. Score heißt Punktestand, der zwischen eins und 1.000 pendelt. Dessen Ermittlung beruht auf einem mathematisch-statistischen Verfahren, bei dem über "gescorte" Leute bestimmte Daten gesammelt und benotet werden: Das können der Wohnort, häufige Umzüge, der Beruf, das Einkommen, Scheidungen, die Zahl der Bankkonten, die Häufigkeit von Versandhausbestellungen, Kredite, die Marke des Autos und manches mehr sein.
Diese Merkmale sind anders als geplatzte Kredite oder nicht beglichene Ratenzahlungen, die seit jeher von Auskunfteien wie der Schufa erfasst werden, etwas "Überindividuelles", so Koebnick, "sie sagen konkret über eine bewertete Person sowie über deren Verhalten nichts aus". Gleichwohl wird aus solchen Angaben mittels hoher oder niedriger Punktestände die Bonität einzelner Bürger beurteilt. Und es werden aus diesen Daten Prognosen abgeleitet über die Wahrscheinlichkeit, dass Zahlungsverpflichtungen nicht eingehalten werden: eine Rasterfahndung nach Risikokunden, eine Art statistische Sippenhaft. Je nach ausdifferenzierter Berechnung liefert ein Score Unternehmen auch Hinweise, ob ein Kunde bestimmte Produkte erwerben könnte oder ob eine gezielte Werbeansprache Erfolg verspricht.
In der nicht mehr auf den einzelnen Kunden zugeschnittenen, sondern anonym-mathematischen Form des Scorings sieht Thilo Weichert die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen. In der Tat kann sich bei solventen Kreditnehmern oder bei Leuten, die ein Auto über Leasing erwerben wollen, der Score verschlechtern, wenn sie in einer Gegend leben, die als "sozialer Brennpunkt" mit vielen einkommensschwachen Menschen oder als "schlecht beleumundet" gilt. Weicherts Vize Johann Bizer: "Die Reduktion des Verbrauchers auf eine Nummer lässt außer Acht, dass die bloße statistische Ähnlichkeit mit einer anderen Person keinen tauglichen Hinweis auf seine zukünftige Zahlungsfähigkeit geben kann."
Die Bürger wissen in der Regel nicht, auf der Basis welcher Daten sie benotet werden und ob dies beim Abschluss von Geschäften eine Rolle spielt. Wegen der Intransparenz des Scorings weiß man auch nicht, wie verbreitet diese Methode ist. Doch kann kein Zweifel an deren massiver Ausweitung bestehen, zumal Auskunfteien mit dem Verkauf von Scores über Konsumenten gutes Geld verdienen. Diese Entwicklung hat auch das Bundesverbraucherministerium auf den Plan gerufen, für das Weicherts Kieler Datenschutzzentrum eine kritische Studie über das Scoring erstellt hat.
Ressortchef Horst Seehofer fordert von Banken, Versicherungen, Versandhäusern und Mobilfunkfirmen, für mehr Durchschaubarkeit beim Scoring zu sorgen. Andernfalls müsse man gesetzliche Regelungen erwägen. Der Minister: "Der Kunde hat ein Recht zu erfahren, welche Daten über ihn erhoben, gespeichert oder verarbeitet werden." Die bisherige Bewertung der Kreditwürdigkeit eines Bürgers verzerre oft die tatsächliche Situation.
Die Studie für das Ministerium kommt zu dem Ergebnis, dass das Kredit-Scoring gegen Rechtsnormen und die Interessen der Verbraucher verstoße. Nach Untersuchungen der Stiftung Warentest erkundigen sich viele Banken ohne Zustimmung der Kunden über deren Score-Einstufung bei der Schufa. Laut Kieler Datenschutzzentrum werden die Betroffenen in 90 Prozent der Fälle nicht unterrichtet. Die Score-Benotung hat handfeste Konsequenzen: Bei guten und bei schlechten Kunden mit einem als hoch eingeschätzten Ausfallrisiko können nach Weicherts Recherchen die Zinssätze zwischen fünf und 15 Prozent variieren. Schon mancher hat sich gewundert, warum ein Kredit für einen Autokauf oder eine Urlaubsreise teurer wurde als in der Werbung in Aussicht gestellt.
Allerdings werden konkrete Fälle einer Benachteiligung durch Score-Beurteilungen selten publik: Diese Praxis spielt sich weitgehend intransparent ab. Als die Kieler Datenschützer bei rund 500 Kreditinstituten Informationen über deren Scoring-Methoden einholen wollten, antworteten gerade mal 30. Undurchschaubarkeit kennzeichnet nicht nur das Scoring, sondern auch die Warndateien, die von der Versicherungswirtschaft betrieben werden: In diesen "schwarzen Listen" können einzelne Versicherer nach "Risikokunden" fahnden, die Betroffenen erfahren in der Regel nicht, wer was warum über sie speichert.
Die Daten zur Score-Berechnung werden zum einen von den Unternehmen selbst gesammelt: Die Angaben können aus eigenen Kundenkontakten, aus Gewinnspielen, aus telefonischen Marketingumfragen, von Adressenhändlern oder aus diversen statistischen Quellen wie etwa Schuldner-Atlanten oder Erwerbslosenquoten stammen. Eine zentrale Rolle in diesem Informationsgeflecht spielen natürlich diverse Auskunfteien, von denen die Schufa die Wichtigste ist. Die Schufa teilt jedem Bürger gegen Gebühr dessen aktuellen Punktestand mit - wobei freilich offen bleibt, warum sich ein hoher oder niedriger Wert ergibt. Immerhin fließen bei der Schufa mittlerweile nicht mehr häufig eingeholte Eigenauskünfte als Minusfaktor in die Score-Kalkulation ein. Künftig will man auch nicht mehr negativ bewerten, wenn sich ein Kunde bei mehreren Banken nach Kreditkonditionen erkundigt.
Für die Banken sind die Kriterien für Kreditgewährung und Zinsberechnung Geschäftsgeheimnis. Klaus Möller vom Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken sagt, das sei sozusagen "die Coca-Cola-Formel der Finanzinstitute". Theophil Graband, Vorstandschef der Norisbank, bezeichnete bei einem vom Verbraucherministerium ausgerichteten Symposium die systematisierte Methodik des Scorings als "Verfahren zu mehr Gerechtigkeit": Risiken würden früh erkannt, Vorlieben von Bankmitarbeitern würden ausgeblendet. Bei dieser Debatte erklärte ein Banker, Seehofers Forderung nach Transparenz sei vergleichbar mit der Überlegung, bei einem Panzerschrank den Code zur Öffnung zu präsentieren.