27.01.1999
Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am
27. Januar 1999 im Deutschen Bundestag
Es gilt das gesprochene Wort
Wir gedenken heute, am Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 54 Jahren, aller Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der 27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Sie, sehr verehrter Herr Bundespräsident, haben ihn 1996 proklamiert und damals betont, daß gerade dieses Gedenken nicht in Ritualen erstarren darf. Vielmehr gilt es immer wieder aufs neue, nach Formen des Erinnerns zu suchen, die uns eine Annäherung an das Geschehene ermöglichen.
Der 27. Januar ist für uns Deutsche Anlaß, öffentlich, aber auch jeweils persönlich zurückzublicken auf eine Phase unserer jüngeren Geschichte, auf ein Geschehen, das noch immer alle Vorstellungskraft sprengt. Gerade deshalb ist es unverzichtbar, im Erinnern zugleich die Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ins Auge zu fassen. Adornos bekannte Feststellung, die erste Aufgabe an jede Erziehung sei, dafür Sorge zu tragen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne, richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen von uns. Deshalb ist dieser Gedenktag eine nachdrückliche Forderung zur Wachsamkeit. Die Erinnerung an das millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit ihrem menschenverachtenden Rassenwahn über Europa und andere Teile der Welt gebracht hat, verlangt, schon den Anfängen jeder Wiederholungsgefahr des Holocaust entgegenzutreten.
Um das gemeinsame Erinnern an das Geschehene hat es in den vergangenen Wochen in der deutschen Öffentlichkeit eine intensive Debatte gegeben. Ich will auf die Art und Weise dieser Auseinandersetzungen nicht eingehen, insbesondere nicht über Stilfragen urteilen. Wichtiger und zukunftsweisender ist die Feststellung, daß diese Debatte notwendig und nützlich ist. Wenn ich sie richtig wahrgenommen habe - hat diese Debatte deutlich gemacht, daß wir derzeit in Politik und Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen. Vieles von dem, was zuletzt kontrovers erörtert wurde, hängt wohl zusammen mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen: Zur Generation derer, die die Schrecken des Nationalsozialismus aus eigenem Erleben, aus schlimmsten Erfahrungen kennen, und der Generation der Töchter und Söhne der Opfer und Täter, treten die jüngeren Generationen, denen das ganze Ausmaß des Grauens, die Mechanismen der Ausgrenzung, die menschenverachtende Brutalität der Täter, die Ignoranz oder Gleichgültigkeit der Masse und vor allem das unermeßliche Leid der Opfer nur über historisches, also vermitteltes Wissen zugänglich gemacht werden kann. Die Frage dieser Vermittlung müssen wir deshalb über fünf Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz neu diskutieren. Die genannte Debatte hat gezeigt, daß veränderte und erweitere Zugänge zum Geschehenen notwendig sind. Wir brauchen den gesellschaftlichen Diskurs über das richtige Maß, die angemessenen Formen des Erinnerns, wie Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede am 9. November letzten Jahres in Berlin festgestellt haben.
Das richtige Maß, die angemessene Form zu finden, verlangt nach einer Prüfung in zweierlei Richtung: Was ist dem entsetzlich Geschehenen angemessen? Was ist für Gegenwart und Zukunft richtig? Ein Zuviel kann ebenso problematisch sein wie erst recht ein Zuwenig. "Darf man nicht wissen wollen?" - So hat Thomas Mann gefragt und nach 1945 mit einem entschiedenen Nein geantwortet. Und dieses Nein gilt bis heute für alle Demokraten und - so hoffe ich - auch mit gleicher Entschiedenheit! Halten wir daran fest: Verpflichtende Erinnerung, Ein Gedenken der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen Verantwortung - das war das moralische Fundament, das gehörte zur raison d'être der neubegründeten deutschen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt keine kollektive Schuld, gewiß, aber das heißt nicht, daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. In ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein, nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher Form auch immer, zuzulassen. Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie der künftigen Generationen, durch die Übernahme der politischen Haftung Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem deutschen Staat begangene Unmenschlichkeit wachzuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formeller Ritualisierung erstarren, so wenig Erinnerung gänzlich ohne Riten auskommt.
Gerade wegen dieser gemeinsamen Grundüberzeugung gilt es, uns in Gesellschaft und Politik über die Art und Weise des Erinnerns und Gedenkens immer neu zu verständigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei problematische Erfahrungen hinweisen. Zum einen: Historische Aufklärung soll und kann politisches Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung rufen. Daß sie auch zur Trauer um die Toten, zur Empathie mit den Opfern führt, dessen können wir nicht mehr so sicher sein. Zur Dialektik der Aufklärung - das wissen wir inzwischen - gehört eben auch, das sie als einseitige, gar bloß rationale ihr Gegenteil bewirken kann, nämlich die Kälte der Verdrängung. Insofern darf gerade in der Annäherung an die nationalsozialistischen Verbrechen nicht versäumt werden, das Entsetzliche so zu vermitteln, daß es auch mit dem Herzen erfahren und begriffen wird. Insofern auch ist Gedenken immer mehr als aufgeklärtes Wissen, so sehr dieses Gedenken immer auch und neu des Anstoßes durch historische, bestimmte Erinnerung bedarf.
Zugleich aber gilt es, den jungen Menschen historisches Wissen und emotionale Betroffenheit so zu vermitteln, daß sie eine Beziehung zur Gegenwart, also gegenwärtige moralische Sensibilität und politische Verantwortung ermöglichen. Betroffenheit, die bloß ratlos macht, Wissen, das folgenlos bleibt - solcherart Ergebnisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß und sind gesellschaftlich wirkungslos. Die Gefährdungen der Demokratie, die Mechanismen von Stigmatisierung und Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen, und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart beobachten und in ihr zu handeln, darum geht es. Was damals Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, politische Gegner waren, das können heute andere Personen und Gruppen sein, die durch Stigmatisierungsprozesse ausgegrenzt werden.
Eine zweite problematische Erfahrung bringe ich aus der DDR mit: Gedenken darf niemals verordnetes, gar zwanghaftes Erinnern sein. Dies hat der staatlich angeordnete Antifaschismus uns nachdrücklich vor Augen geführt. Aus einem ehedem authentischen und glaubwürdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herrschaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der SED-Diktatur. So wurden Gedenken und Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen von vielen zunehmend als autoritär und formelhaft empfunden und waren von problematischer Wirkung. Die Erfolge der Rechtsextremisten gerade in ostdeutschen Ländern sind ein spätes Echo solch unfreier Erinnerung.
Wenn wir diese widersprüchlichen Erfahrungen ernst nehmen, dann können wir mit aufmerksamer Gelassenheit feststellen: Jede Generation hat das Recht und die Pflicht, ihre eigene Form des Gedenkens zu entwickeln. Sie muß sich dem Geschehen auf ihre Art und Weise stellen, ihren eigenen Zugang suchen und finden. Nur so halten wir unser kollektives Gedächtnis in einer Weise lebendig, die für jüngere und ältere, für Angehörige der Erlebnisgeneration wie ihre Kinder und Kindeskinder einen gemeinsamen Horizont des Verstehens und zugleich eine Basis des Gesprächs über das Geschehene bietet. Ich halte es im übrigen für ein Zeichen der Stärke unserer parlamentarischen Demokratie, daß wir über diese Fragen gegenwärtig so intensiv debattieren. Es ist ein Stück Selbstaufklärung der Gesellschaft, wenn sie öffentlich darüber diskutiert, wie sie mit der Vergangenheit, mit der Erinnerung an die Zeiten der Inhumanität und Menschenverachtung, der Diskriminierung und des Genozids, umgehen kann und will. Gerade deswegen ist die Kontroverse um ein Holocaust-Denkmal in Berlin von solchem Gewicht und gerade deshalb gehört diese Debatte auch in unser Parlament. Der Deutsche Bundestag wird sich in den nächsten Wochen und Monaten diesem Thema auf verantwortliche Weise widmen und hoffentlich zu einer tragfähigen und überzeugenden Entscheidung kommen.
Meine Damen und Herren, neue Ansätze des Erinnerns - das bedeutet auch andere Formen des Gedenkens im Deutschen Bundestag. Wir hören nun drei Stücke aus dem "Requiem für einen polnischen Jungen" - einem Werk, das der Heidelberger Komponist Dietrich Lohff nach Texten von Opfern der Nationalsozialisten verfaßt hat. Die Kunst ist ein wichtiges Medium der Erinnerung, ein anderes ist - gerade in unserem Parlament - die Sprache. Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, haben das öffentliche Wort stets in ganz besonderer, unverwechselbarer Weise zu nutzen gewußt - zu kritischen und differenzierten Stellungnahmen, aber ebenso zu Aussagen, die verbinden und Gemeinschaft schaffen, Worte, in denen die gemeinsamen Aufgaben, Ziele und Überzeugungen unserer parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kommen. Diese Übereinstimmung deutlich zu machen, ist an keinem Tag wichtiger als an unserem nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Ich möchte Sie deshalb bitten, nach dem "Requiem" das Wort zu ergreifen und zu uns zu sprechen.