23.11.1999
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang
Thierse anläßlich des Richtfestes für das
Bauprojekt Jakob-Kaiser-Haus am 23. November 1999
Es gilt das gesprochene Wort
"Und wieder ein Richtfest! Ein paar
Wochen nach dem Paul-Löbe-Haus darf ich Sie ganz herzlich
heute zum Richtfest für das größte Neubauprojekt
des Deutschen Bundestages, das Jakob-Kaiser-Haus,
begrüßen.
Als Projektarchitekten zeichnen verantwortlich die Architekten
Busmann und Haberer, Schweger & Partner, de architecten cie.,
von Gerkan, Marg & Partner und Thomas van den Valentyn. Ich
begrüße Sie zugleich mit den Geschäftsführern
der Bundesbaugesellschaft Berlin mbH, Herrn Kretschmer und Herrn
Dr. Rütter, die mit der Projektdurchführung beauftragt
sind, und dem Vorsitzenden der Baukommission des Ältestenrates
des Deutschen Bundestages, meinem Kollegen Dr. Kansy.
Die Leitidee für das Projekt
Jakob-Kaiser-Haus entsprang der Vorstellung, die ehemals an diesem
Ort vorhandene Berliner Stadtstruktur wiederzubeleben. Im
Gefüge der historischen Dorotheenstadt entsteht hier ein
Stadtquartier, das einerseits die typische Berliner Struktur mit
ihrer Blockrandbebauung und Traufhöhe aufnimmt und
andererseits sich zur Spree hin öffnet. Der große
Gesamtkomplex wurde bewusst an verschiedene Architekten vergeben.
In der Abfolge unterschiedlicher Räume und Fassaden mit der
Integration dreier Altbauten - dem ehemaligen
Reichstagspräsidenpalais, der ehemaligen Kammer der Technik an
der Ecke Dorotheenstr. / Ebertstr. und dem Haus
Dorotheenstraße 105 - entsteht ein besonders
eigenständiger Charakter eines Parlamentskomplexes, der sich
gleichwohl nahezu bescheiden in die Berliner Stadtstruktur
einordnet.
In den Gebäuden werden vorwiegend die Fraktionen, sprich
Abgeordnete und Fraktionsmitarbeiter, ihren Arbeitsplatz finden. Im
ehemaligen Reichstagspräsidentenpalais gegenüber dem
Reichstagsgebäude hat die Deutsche Parlamentarische
Gesellschaft bereits ihre neue Unterkunft in Berlin gefunden und
ihren Betrieb aufgenommen.
Nach den Planungen der Bundesbaugesellschaft Berlin mbH wird das
Gebäude im Februar 2001 fertig gestellt. In der
parlamentarischen Sommerpause desselben Jahres werden Abgeordnete
und Mitarbeiter aus den Übergangsquartieren in die neuen
Räume des Jakob-Kaiser-Hauses einziehen können.
Den Architekten ist es gelungen, die Bauaufgabe für das
Parlament angemessen zu lösen, indem sie sich darauf besannen,
dass die Zielsetzung bei der Realisierung von Bauten für eine
parlamentarische Demokratie nicht nur sein kann, lediglich
Unterbringungsmöglichkeiten für Parlamentarier und
Mitarbeiter zu schaffen. Die Gebäude sollen vielmehr auch
augenfällig durch ihre architektonische Gestaltung die
Demokratie als Staatsform sinnbildhaft verdeutlichen. Bei genauer
Betrachtung dieses hier fertig gestellten Rohbaus ist bereits etwas
von dem Geist der Offenheit und Transparenz zu spüren, mit der
sich Demokratie baulich darstellen kann.
Ich glaube, der Politiker, nach dem dieses Gebäude benannt
wurde - Jakob Kaiser - wäre, könnten wir ihn noch fragen,
einverstanden gewesen, dieses Gebäude mit seinem Namen zu
verbinden, um damit an seine Lebensleistung zu erinnern.
Jakob Kaiser hat sich im Laufe seines politischen Wirkens stets
gegen die Bedrohungen der Demokratie gewandt und sich für die
Wiedervereinigung Deutschlands eingesetzt. Bereits in der Krise der
Weimarer Republik setzte er sich unmissverständlich für
den Erhalt des Parlamentarismus ein. Als Reichstagsabgeordneter der
Zentrumspartei entschied er sich 1933 mit wenigen weiteren
Zentrumsabgeordneten gegen das Ermächtigungsgesetz und
verweigerte seine Zustimmung zur Gleichschaltung der
Gewerkschaften. Nachdem er 1938 bereits mehrere Monate wegen des
Verdachtes angeblich hochverräterischer Betätigung in
Haft gewesen war, setzte er seine Widerstandstätigkeit
zusammen mit Karl Goerdeler und führenden Männern der
Opposition fort und wurde 1945 Mitbegründer des FDGB und der
CDU in der sowjetischen Besatzungszone. 1948/49 wirkte er als einer
der Vertreter Berlins im Parlamentarischen Rat an der Ausarbeitung
des Grundgesetzes mit und zog 1949 als Abgeordneter in den
Deutschen Bundestag ein, dem er bis 1957 angehörte.
Als Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen in den Jahren
1949 bis 1957 setzte sich Jakob Kaiser entschieden gegen den
Verfall des gesamtdeutschen Bewusstseins ein und vertrat die von
Konrad Adenauer verfolgte westorientierte Integrations- und
Bündnispolitik nur insoweit, als sie das Hauptziel, die
Wiedervereinigung, nicht blockierte.
Mit diesem Projekt, dem Jakob-Kaiser-Haus, und auch mit dem
Paul-Löbe und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus im Bereich des
Spreebogens, deren Standorte zum Teil bis vor wenigen Jahren noch
durch die (menschenverachtende) Mauer vom Reichstagsgebäude
getrennt waren, vollzieht sich das Zusammenwachsen der ehemals
geteilten Stadt auch an dieser zentralen Stelle - ganz im Sinne
Jakob Kaisers. Die Parlamentarier werden sich gelegentlich daran
erinnern, wenn sie von ihren Büros zum Plenarsaal eilen, dass
sie einen Bereich unbehelligt überqueren, der in der
Vergangenheit viele Opfer gefordert hat. Hier werden zukünftig
frei gewählte Abgeordnete ihren Arbeitsplatz haben, an dem sie
die Voraussetzung täglich dafür zu schaffen haben, dass
das große Werk gelingt, die Einheit Deutschlands zu
vollenden.
Insbesondere freue ich mich darüber, dass an diesem Projekt
unsere europäischen Freunde und Nachbarn als Planer und
Unternehmer mitwirken. Ich danke allen, die bisher am
Zustandekommen dieses Projektes beteiligt waren, den fünf
Architekturbüros und den Fachplanern mit deren Mitarbeitern
sowie den Unternehmen und vor allen den Bauarbeitern und
wünsche allen, die noch an der Vollendung des Bauvorhabens
mitarbeiten, viel Glück und Erfolg.
Ich darf nun den Vorsitzenden der Baukommission, meinen Kollegen
Dr. Kansy, bitten, das Wort an Sie zu richten."