13.08.2001
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse, anlässlich der offiziellen Gedenkveranstaltung des
Berliner Senats zum 40. Jahrestag des Mauerbaus, am 13. August
2001.
Es gilt das gesprochene Wort
Im Gedächtnis unserer Stadt ist die Mauer tiefer verwurzelt als die physische Abwesenheit dieses Bauwerks uns heute mitunter glauben macht. Es gibt Bilder, Worte, Gefühle, die man nie vergißt - die vom 13. August 1961 gehören dazu, sie sind für immer im kollektiven Gedächtnis der Berliner. Die zeitliche Distanz zu den Jahren der Teilung wächst und wächst, doch die Erinnerung vieler Menschen an dieses Kapitel unserer Geschichte, an die schlimmen mentalen, politischen und alltagspraktischen Folgen des Mauerbaus, ist für nicht wenige auf geradezu schmerzliche Weise lebendig. Das gilt besonders für die Berliner und ebenso für die Ostdeutschen. Auf unterschiedliche Weise waren beide fast 30 Jahre eingesperrt. Ich war 17 als die Mauer gebaut wurde und 46 als sie fiel. Wer wird ein so einschneidendes biografisches Datum vergessen können, verdrängen wollen! Nirgendwo sonst also ist die Erinnerung so lebendig wie in Berlin. Deshalb ist die Tatsache nicht überraschend, dass den Menschen das aktuelle Verhalten einzelner Politiker und Parteien zum Mauer-Unrecht nach wie vor als wichtiger Gradmesser für die Bewertung ihrer politischen Glaubwürdigkeit gilt. Und ich denke, dieser Maßstab wird seine Berechtigung auch künftig nicht vollends verlieren. Von einer weit verbreiteten emotionalen Distanz, von zunehmender politischer Gleichgültigkeit kann in dieser Frage wohl kaum gesprochen werden - trotz mancher Umfrage, die das Gegenteil nahelegt.
Dennoch: Es gibt wenig Anlass für Zufriedenheit. Wir haben nach wie vor erheblichen Aufklärungs- und Vermittlungsbedarf. Das fängt damit an, dass wir noch nicht einmal die genauen Zahlen der Opfer des DDR-Grenzregimes kennen. Es sind sehr verschiedene Opferzahlen im Umlauf, doch der polemische Streit über sie trägt eher zur Verwirrung bei denn zur Aufklärung. Dabei ließe sich schon vieles erklären, würden nicht nur die Zahlen in den Raum gestellt, sondern auch die richtigen Bezugsgrößen genannt.
Nach bisherigem Forschungsstand können wir davon ausgehen, dass es an der ganzen innerdeutschen Grenze fast 1000 Opfer waren, dass allein an der Berliner Mauer über 230 Menschen bei der Flucht ums Leben kamen. Über einhundert von ihnen starben infolge direkter Gewaltausübung durch DDR-Grenzsoldaten, andere ertranken, starben an einer Fahrzeugsperre, stürzten aus selbstgebastelten Fluggeräten oder von Dächern in den Tod. Der fast 1000 Toten, ihrer besonders gedenken wir am heutigen Tag.
Wir alle kennen diese unerträglichen Bilder aus dem Jahr des Mauerbaus: Menschen, die sich aus Häusern an der Bernauer Straße abseilen, Menschen, die sich in die Rettungstücher der West-Berliner Feuerwehr fallen lassen, Menschen, die auch ohne jede Sicherung aus dem Fenster springen - sie alle in größter Panik.
Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer untrügliches Symbol für einen politischen Zynismus, der vor keinem menschlichen Leid Halt machte. Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer steingewordene Metapher einer menschenverachtenden Politik. Sie war es fast 30 Jahre lang und ist es bis heute.
Die kommunistischen Ideologen stilisierten die Grenze zum "Antifaschistischen Schutzwall". Dieser sollte einen angeblich drohenden Präventivkrieg der Westmächte vereiteln helfen und den Frieden in Europa retten. Wenn diese Lüge, die uns damals in der DDR immer wieder einzubleuen versucht wurde, wenn diese propagandistische Behauptung heute, 40 Jahre später, wiederholt wird, dann ist das eine dreiste Unverschämtheit.
In Wirklichkeit kam den brutalen Sperranlagen eine andere Funktion zu: Sie sollten nicht das Eindringen eines äußeren Feindes verhindern, nein: Sie sollten die ungebremste Fluchtwelle der DDR-Bürger stoppen. Das Verlassen der DDR galt ja schon vor dem Mauerbau als "Verrat" und wurde strafrechtlich verfolgt.
Zirka 2,7 Millionen Menschen verließen die DDR zwischen Oktober 1949 und August 1961 - für die SED eine vernichtende Abstimmung mit den Füßen. Neben den jungen gingen vor allem die gut ausgebildeten Menschen. Es gingen bis zu 10 Prozent der Abiturienten einzelner Jahrgänge. Es gingen 15.000 Studenten, 2.500 Hochschuldozenten, 40.000 Lehrer, 6.000 Ärzte, Zehntausende weitere Intelligenzler, überwiegend Techniker.
Wer damals ging, ging weg für immer. Mit Wiedereinreise auf Besuch war nicht zu rechnen.
Die SED-Führung wusste die vermeintlich Schuldigen für diese Fluchtwelle zu benennen: Schuld hatte der "Klassenfeind". Die SED machte "Kindesräuber", "Kopfjäger" und "Menschenhändler" im Westen, in der Bundesrepublik für den Massenexodus verantwortlich. An das gründliche Versagen der eigenen Politik, an den politischen Frust der Menschen im eigenen Land mochte und wollte im SED-Apparat niemand glauben.
Die mentalen, lebensweltlichen und politischen Folgen des Mauerbaus für die Menschen in der DDR waren am 13. August 1961 noch kaum abzuschätzen. Viele dachten, der absurde Spuk sei bald vorbei, die "geschlossene Gesellschaft" eine Fiktion. Doch sie sahen sich getäuscht - für 28 lange Jahre.
Der 13. August 1961 bedeutete eine gewaltsame Verhinderung von - zumindest doch denkbaren - historischen Alternativen zur DDR. Die Botschaft dieses Tages war ebenso radikal wie jene des 17. Juni 1953, als sowjetische Panzer den Arbeiteraufstand niederrollten: Jedem aktiven Freiheitsimpuls wurde am 13. August 1961, eine unmissverständliche Kampfansage erteilt. Auch nach außen verfehlte dieser Tag seine Wirkung nicht - er zementierte den Kalten Krieg - auf Kosten der Menschen.
Innenpolitisch nutzte die SED-Führung ihre neu gewonnene "Handlungsfreiheit" für noch stärkere Repressionen. Im Schutz der Mauer inszenierte sie einen offenen Kampf gegen freie Informationsbeschaffung und Meinungsbildung. Unter der Parole "Aktion Blitz - kontra NATO-Sender" stiegen FDJler überall im Land auf die Dächer der Wohnhäuser. Sie zerstörten die zum Empfang westdeutscher Sender ausgerichteten Antennen und denunzierten deren Besitzer öffentlich als "gefährliche Feinde der Republik".
Die Strafjustiz in der DDR verstärkte in der zweiten Hälfte 1961 ihren Kampf gegen sogenannte "Staatsverbrecher". Die Zahl der politischen Prozesse stieg sprunghaft. Den Hauptanteil an politischen Delikten machte von nun an der Straftatbestand "versuchte Republikflucht" aus. Bis 1989 wurden weit über 70.000 Personen wegen ihres Versuchs, die DDR ohne Genehmigung zu verlassen, inhaftiert, verurteilt, ins Zuchthaus gesteckt. Ihr "Verbrechen" bestand im Wunsch nach Autonomie, nach Freizügigkeit, nach Freiheit.
Der so eingängige Begriff "Mauer", "Berliner Mauer" hat sich über die Jahrzehnte in unsere Sprache eingebürgert, und dabei scheint dieser Begriff doch eher geeignet, das Grauen des mit diesem irrsinnigen Bauwerk verbundenen Grenzregimes zu verharmlosen.
Die "Mauer" - das war sehr viel mehr als nur jene Wand aus 3,60 Meter hohen und 2,6 Tonnen schweren Betonplatten, die ältere Berliner noch aus eigener Anschauung, jüngere Menschen doch wenigstens aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung kennen.
Schon im August 61 begann ein tief gestaffelter Ausbau der Grenzanlagen. Die provisorischen Hindernisse wurden schnell durch breite Schneisen, Betonblöcke und Panzergräben ersetzt. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte kamen elektrische Signalzäune, Stolperdrähte und an der Westgrenze auch Minenfelder und Selbstschussanlagen hinzu. Es wurden Beobachtungstürme, Bunker, Hunde-Laufanlagen, Kolonnenwege errichtet. An dieser Grenze wurde nicht gespart.
Das Sicherungssystem erreichte eine perverse Perfektion - vor Ort, aber nicht weniger auch im "Hinterland". Spätestens in den 70er Jahren war die Praxis der staatlichen Grenzsicherung auf das gesamte Territorium der DDR ausgedehnt. Die Mehrheit der potentiell Flüchtigen wurde bereits im Hinterland durch ein Netzwerk von Überwachungsorganen erfasst und festgenommen. Zu diesen Überwachungsorganen zählten neben den Grenztruppen auch die Staatssicherheit mit ihrem Spitzelapparat, die Transportpolizei, die Kriminalpolizei mit einer eigenen Unterabteilung "Staatsgrenze", die unzähligen freiwilligen Polizeihelfer - unter ihnen manche Nachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetzte und sogar Freunde. Ein perfides, nur aus Sicht der Mauerbauer "effektives" System: Von hundert Fluchtwilligen waren maximal fünf erfolgreich. Viele sind gar nicht erst in die Nähe der Grenze gekommen.
Schon am 20. September 1961 verständigte sich das SED-Politbüro über den Einsatz von Waffen an der innerdeutschen Grenze. Seine Forderung war eindeutig: "Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden." Wer schoss und traf, der wurde belobigt.
Hier in Berlin, in Ost wie West, konnte jeder wissen, was an der Grenze los war, wann geschossen und wann gestorben wurde. Dafür sorgten Rias und SFB.
Das Leben an der Mauer hatte allerdings auch eine zweite, eher unspektakuläre Seite: Schon kurz nach 1961 passierte etwas, was heute nur schwer zu vermitteln ist. Ein merkwürdiges Phänomen: Das Alltagsleben in der Stadt, in beiden Teilen, geriet durch den Mauerbau nur für eine relativ kurze Zeit ins Trudeln. Schon bald begann ein langsamer, schleichender Gewöhnungsprozess, der wohl auch in der demonstrativen Gelassenheit gründet, mit der die westlichen Alliierten auf den Mauerbau reagierten. Das Leben - wie man so sagt - "normalisierte" sich: Die Berlinerinnen und Berliner, hier wie da, arrangierten sich mit der Grenze - Schritt für Schritt. Und irgendwann, vor allem für die Jüngeren, war sie eben einfach da, gehörte sie zum gewohnten Bild der geteilten Stadt.
Die Mauer warf Schatten, doch in diesen Schatten richteten viele sich ein, so gut es eben ging. Und später guckten sie, um diese Mauer ertragen zu können, einfach nicht mehr hin. Alltag, Beruf, Familie, Freunde - all das nahm einen ja genug in Anspruch.
Dieses Arrangement war kein fröhliches Arrangement, im Gegenteil, aber es funktionierte halbwegs. Es funktionierte, obwohl die Grenze doch immer präsent war - im Stadtbild, in den Köpfen, in den Herzen. Die Mauer sah man aus der S-Bahn, vom Fernsehturm, vom Riesenrad im Plänterwald. Man spürte sie schmerzlich, weil die Familie in zwei Welten lebte, in Ost und West. Man wurde an sie erinnert, wenn wieder ein Freund, ein Kollege, ein Verwandter sich verabschiedete - "in den Westen" ging, "rübermachte", "abhaute". Wenn der Kreis jener, mit denen man auch seine politischen Positionen teilte, immer kleiner und kleiner wurde. Wenn die Unangepassten gingen und mit ihnen ein weiteres Stück der eigenen Hoffnung. Der Hoffnung auf Änderung dessen, was einschränkte, begrenzte, was die eigenen Ansprüche ans Leben zu dominieren suchte, eben all dessen, was einem politisch im Nacken saß.
Das Weggehen, das Wegbleiben der Freunde - das zählte zu den kaum erträglichen Herausforderungen in den Zeiten der Mauer, und es entmutigte.
Viele Menschen gingen weg aus der DDR, weil sie mit ihrer politischen oder ihrer christlichen Überzeugung keine Zukunftschancen sahen für das Land, weil sie keine Hoffnung hatten, die Verhältnisse politisch ändern zu können.
Nicht wenige gingen, weil sie den Schikanen der Staatssicherheit, den andauernden Verleumdungen und Demütigungen entkommen wollten. Andere "wurden gegangen" - ausgewiesen, ausgebürgert, ihrer letzten Rechte beraubt.
Und viele blieben, weil sie das Geflecht menschlicher Beziehungen, in das sie biographisch und beruflich hineingewachsen waren, nicht noch weiter zerreißen wollten, weil sie auf Familie, Gleichgesinnte, Freunde keinesfalls verzichten mochten. Viele lebten ein anständiges Leben, gingen ihrer Arbeit nach, engagierten sich, auch politisch, so gut es eben ging oder soviel sie sich zutrauten, in der Kirche oder in informellen Gruppen.
Und so wiederhole ich: Es ist notwendig, einen Unterschied zu machen zwischen dem Urteil über das System, das die Mauer errichtete, und dem Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben, leben mussten, und die nicht alle gescheitert sind. Auch wenn es manch einer nicht hören will: Es gab das wirklich - das richtige Leben im falschen System.
Wenn wir uns heute an den 40. Jahrestag des Mauerbaus erinnern, dann haben wir auch gute Gründe, an jene historischen Augenblicke zurückzudenken, in denen dieses monströse Bauwerk mit einer Gesamtlänge von 155 Kilometern zu bröckeln begann und schließlich zum Einsturz gebracht wurde - im Herbst 1989.
Noch im Januar 1989 hatte der greise, wirklichkeitsblinde SED-Chef damit gedroht, dass diese Mauer auch in fünfzig und in hundert Jahren stehen würde - mit all ihren Konsequenzen. Und dann? Nur zehn Monate später lagen sich Ost- und West-Berliner überglücklich in den Armen, ohne dass ein Schuss gefallen, ohne dass Blut geflossen war. Statt einer chinesischen Lösung gab es Sekt und Freudenfeste.
Das Unfassbare dieses Ereignisses fand Ausdruck in dem am häufigsten verwendeten Wort jener Tage: Wahnsinn. "Wahnsinn" war die sprachliche Metapher für jenes überschäumende Glücksgefühl und für das Unerhörte dieses geschichtlichen Moments, in dem Individuelles und Welthistorisches miteinander verschmolzen, in dem sich Ende und Neubeginn, biographische Chancen und historisches Glück miteinander verbanden.
Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen, der Fall der Mauer, der Aufbruch zur Einheit - das war eine euphorische, eine herrliche Zeit. Heute wissen wir: Für manch einen war es auch eine Zeit neuer Illusionen, unrealistischer Erwartungen, nicht einlösbarer Hoffnungen. Nicht alle Träume reiften, nicht alle Träume konnten reifen.
Dennoch: Für Millionen von Menschen, auch für mich, zählt das Erleben des Mauerfalls zu den schönsten, zu den wichtigsten Momenten ihrer Biographie. So wie 28 Jahre zuvor - allerdings in genauer Umkehrung der Gefühlslage - der Mauerbau für Millionen Deutsche einen schmerzhaften biographischen Einschnitt bedeutete, einen Bruch in ihrer Lebensplanung, eine schwere Belastung für ihre familiären und freundschaftlichen Bindungen.
Die Revolution in der DDR, die '89/90 zum Fall der Mauer und in die Einheit führte, hatte viele Väter und Mütter, denen unser Herzensdank gebührt - und zwar nicht nur an den üblichen Gedenk- und Feiertagen: Zur Erosion des Staatssozialismus und damit auch zum Fall der Mauer trugen bei: die Charta '77 im heutigen Tschechien, die Gewerkschaft Solidarnosc, die den Runden Tisch erfand, Michael Gorbatschow, der dem Kalten Krieg den Rücken kehrte, die Ungarn, denen wir die ersten Löcher im Grenzzaun verdanken, und natürlich die Oppositionsgruppen, die Bürgerrechtler in Berlin, Leipzig, Jena und anderen Städten.
Zum Fall der Mauer trug wesentlich auch die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik von Willy Brandt und Egon Bahr über Helmut Schmidt und Dietrich Genscher bis Helmut Kohl bei - auch ihnen gilt besonderer Dank.
Willy Brandt, der den Mauerbau als Regierender
Bürgermeister von Berlin erlebte, und Egon Bahr entwickelten
in den 60er Jahren - vom politischen Gegner verkannt - die
Grundlagen einer neuen Ostpolitik. Dieser lag die Einsicht
zugrunde, dass mit der "Politik der Stärke" die deutsche Frage
nicht zu lösen sei. "Wandel durch Annäherung" - Klaus
Wowereit nannte den Begriff schon - meinte nicht Solidarisierung
mit dem ostdeutschen System, zielte nicht auf ein "sich Abfinden"
mit der Teilung, sondern setzte auf humanitäre
Erleichterungen, auf mehr Freizügigkeit, auf das Abtrotzen
immer neuer Zugeständnisse, konkrete Politik für
Menschen, die für sich selbst nicht Politik machen
konnten.
Brandts Entspannungspolitik wurde durch den KSZE-Prozess
europäisiert. Sie leitete langfristig eine Entwicklung ein,
die zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas
führte. Sie ebnete der Wiedervereinigung den Weg. Wir wissen:
Es war ein kurvenreicher, ein komplizierter, letztlich aber ein
überaus erfolgreicher Weg.
Die im Herbst 1989 gebotene historische Chance ergreifen, die starren Verhältnisse im Lande aufbrechen, politische Änderungen herbei demonstrieren - das allerdings mussten die DDR-Bürger selbst. Ihr eigener Protest, ihr eigenes Tun waren elementare Voraussetzung dafür, dass die Mauer fallen konnte, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die Nachbarn in Europa den deutschdeutschen Wunsch nach Herstellung der staatlichen Einheit akzeptierten.
Der Fall der Mauer war nicht nur ein symbolisches Ereignis ersten Ranges, das beispielhaft für Zivilcourage und für die Macht des Volkswillens steht. Der Fall der Mauer und die Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 veränderten das Nachkriegseuropa gründlich. Wir dürfen nicht vergessen: Erst mit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland in die volle völkerrechtliche Gleichberechtigung entlassen worden. Erst mit dem 3. Oktober 1990 und dem Ende der deutschen Teilung konnte der völkerrechtliche Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen werden. Mehr noch: Alle Grenzen um Deutschland herum sind heute wechselseitig anerkannt. Und das gab es in der deutschen Geschichte nie zuvor!
Deutschland ist heute eingebunden in die europäische und atlantische Gemeinschaft, zu denen auch unsere östlichen Partner gehören werden. Sie haben uns 1989/90 geholfen, und jetzt ist es an uns, ihnen zu helfen auf ihrem Weg in das europäische Bündnis.
Deutschland ist heute umzingelt von Freunden - auch das ein Novum in unserer Geschichte! Die Mauer hat Geschichte geprägt und sie ist heute selbst Teil der Geschichte, Teil persönlicher Erinnerungen, auf immer bewahrt im kollektiven Gedächtnis.
In den letzten zehn, elf Jahren hat sich das Erscheinungsbild Berlins, des vereinten Berlins, stark gewandelt. Die Stadt ist zusammen gewachsen, räumlich und baulich; kulturell und mental wächst sie, unter Schmerzen und Widerborstigkeiten, zusammen. Der brutale Schnitt durch die Stadt, der einst ihren Alltag bestimmte - vom Verkehrsfluss bis zu den täglichen Gewohnheiten der Menschen -, ist für Touristen und für junge Leute nur noch schwer rekonstruierbar, der Geist jener Jahre nur schwer nachfühlbar.
Die verständliche Freude über den Mauerfall hat dazu geführt, dass heute die Spuren dieser Grenze weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden sind. Das Abräumen, das Einebnen dieser DDR-Hinterlassenschaft erfolgte überaus gründlich. Und das ist nur aus einem Grund bedauerlich: Es erschwert die Vermittlung eines authentischen Geschichtsbildes.
Gleichwohl: Wer sich heute über die doppelte Vergangenheit der Stadt Berlin, über die Schrecken und Folgen der jahrzehntelangen Teilung informieren will, findet Anhaltspunkte, Informationsstellen, kleinere Gedenkorte. Die Narbe im Stadtkörper ist nicht verschwunden, und sie darf nicht verschwinden: Sie gehört zum Gesicht dieser Stadt. Sie erinnert an menschliches Leid, ausgelöst durch ein unmenschliches System.
Dass diese Erinnerung wachgehalten wird, verdanken wir wesentlich dem Engagement von Opferverbänden, freien Trägern, öffentlichen Institutionen, Kirchen, Stiftungen und einzelnen Persönlichkeiten. Sie alle leisten eine sehr verantwortliche, zumeist ehrenamtliche Arbeit, die politische Anerkennung verdient.
Ihnen wird nichts geschenkt, oft nicht einmal die gebotene Aufmerksamkeit. Sie haben zu kämpfen gegen mancherlei handfeste Widerstände, gegen die Ignoranz und Gleichgültigkeit mancher Menschen, die nichts mehr hören wollen "von gestern", und sie haben zu kämpfen um finanzielle Unterstützung. Um so ermutigender sind die Ergebnisse ihrer Sisyphus-Arbeit.
Ein sehr anschaulicher und hart erkämpfter Ort der Erinnerung ist die Gedenkstätte Bernauer Straße, die auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen den Bezirken Mitte und Wedding einen räumlichen Eindruck von den Grenzanlagen vermittelt. Ich bin sehr froh, dass Manfred Fischer heute hier ist und zu uns sprechen wird: Was Pfarrer Fischer, was seine Gemeinde, was die Mitarbeiter der Gedenkstätte "Bernauer Straße" in den letzten Jahren geleistet haben, verdient ungeteilten Respekt.
Spuren des Grenzregimes lassen sich an vielen Ecken Berlins
entdecken: An der Oberbaumbrücke, am ehemaligen Übergang
Bornholmer Straße, am baulich und ästhetisch
verfremdeten "Checkpoint Charlie", am Potsdamer Platz und am
Friedrich-Ebert-Platz wird die Erinnerung wach gehalten. Ich
begrüße die Entscheidung des Berliner Senats, eine Reihe
von Erinnerungsorten an die Mauer unter Denkmalschutz zu
stellen.
Wir brauchen diese authentischen Gedenkorte. Von ihnen darf und
soll Irritation ausgehen, und sie dürfen im heute schicken
Stadtraum ruhig wie eine Deformation oder wie eine Wunde wirken.
Gedenkorte bedürfen nicht der Ästhetisierung, der
Unterordnung unter andere Zwecke.
Die Aufgabe von Gedenkorten und von Gedenkveranstaltungen ist es, gedankliche Anstöße zu geben. Den Schrecken in all seinen Dimensionen können sie nicht reproduzieren. Sie können Denkprozesse auslösen. Sie können die Erinnerung an Geschichte wach halten und an die Opfer. Sie können auf eine subtile Weise vermitteln, welche historischen Verwerfungen das Leben von Generationen geprägt hat, das Leben der Eltern und, vermittelt über sie, auch das Leben der Kinder. Die Kinder können verstehen lernen, warum ihre Vorfahren so oder so handelten. Und sie können noch gezieltere Fragen stellen: Warum hast Du dich so oder so verhalten? Warum hast Du dieses getan und jenes unterlassen? Und wenn dies geschieht, dann kann Erinnerungsarbeit auch Gründe für heutiges Verhalten liefern. Dann ist Erinnerungsarbeit ein lebendiger, ein kommunikativer, ein heilsamer Prozess, aus dem Verantwortung für die Zukunft erwachsen kann. Denn das ist die verpflichtende Erbschaft des Mauerbaus: Nie wieder dürfen wir in Deutschland eine Diktatur zulassen, niemals wieder Unfreiheit und Unterdrückung der elementaren Menschenrechte. Die Erinnerung an das kommunistische Regime und sein bösestes Bauwerk läßt uns, so hoffe ich, die Kostbarkeit von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat umso stärker empfinden, da wir an ihre Verletzlichkeit, ihre Zerstörbarkeit erinnert werden. Diese Werte zu verteidigen, zu pflegen, zu leben, je besser uns das gelingt, umso besser wird uns die Einheit gelingen, die wir durch die Überwindung der Mauer wiedergewonnen haben.