07.09.2001
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält anlässlich
der Verleihung des "Julius-Rumpf-Preises" am 7. September 2001 in
Hermannswerder folgende Rede:
Es gilt das gesprochene Wort
"Vor wenigen Wochen war die Stadt Guben wieder in aller Munde - diesmal allerdings nicht aus ähnlich schrecklichem Anlass wie 1999, als dort der algerische Asylbewerber Farid Guenduol von Rechtsextremisten zu Tode gehetzt wurde. Nein, diesmal gab es gute Nachrichten aus Guben: Die von der Abschiebung bedrohte, zeitweise im Kirchenasyl lebende vietnamesische Familie Nguyen erhielt letztlich doch die Aufenthaltserlaubnis - vor allem wegen der großen, öffentlichen Unterstützung vieler Gubener Bürgerinnen und Bürger.
Auch wenn die Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis - ausländerrechtlich gesehen - ein Sonderfall ist, kann von dem Beispiel Signalwirkung ausgehen. Schließlich hat sich hier gezeigt, wie viel bürgerschaftliches Engagement bewegen kann, wie angeblich Unmögliches doch möglich wird, wenn die Politik durch Unterschriftensammlungen, durch den Einsatz der Kirche, durch die Berichterstattung der Medien aufgerüttelt wird. Ich hoffe sehr, dass der Fall Nguyen in dieser Hinsicht kein Einzelfall bleibt.
Wäre dieses große und ermutigende bürgerschaftliche Engagement eigentlich auch ohne den Tod von Farid Guenduol, ohne die anderen verabscheuenswürdigen Taten von Rechtsextremisten zustande gekommen? Zwar findet der Rechtsextremismus inzwischen in unserer Gesellschaft endlich mehr Beachtung und Widerstand - ohne damit allein schon besiegt zu sein. Im Gegenteil ist er aggressiver, gefährlicher denn je. Das belegen z.B. die über 1000 rechtsextremistischen Homepages im Internet, auf denen zu Fremdenfeindlichkeit, Hass und Gewalt aufgerufen wird. Dieses mediale Einfallstor in das Denken und Handeln gerade der jungen, internetbegeisterten Generation sollte möglichst schnell geschlossen werden. Aber warum muss in der demokratischen Zivilgesellschaft eigentlich immer erst Schlimmes oder Schlimmstes geschehen, ehe wir wach werden, Probleme und Gefahren erkennen und uns gegen sie engagieren?
Der "Julius Rumpf-Preis" Preis erinnert an das Lebenswerk eines Mannes, der sich unter sehr viel schwierigeren, nämlich lebensgefährlichen Umständen gegen Unrecht, Unterdrückung und Hass zur Wehr gesetzt hat. Der Wiesbadener Theologe Julius Rumpf, der sich auch vom nationalsozialistischen Unrechtsregime nicht verbiegen ließ, war zwischen 1921 und 1940 Pfarrer der Marktkirche in Wiesbaden. Charakteristisch für ihn war sein starker, unbeirrbarer Gerechtigkeitssinn. Nichts erbitterte ihn mehr als Gleichgültigkeit - gegenüber Ungerechtigkeit und gegenüber Menschen in Notlagen. Deshalb setzte er sich in den Jahren der Weltwirtschaftskrise gegen soziale Not in seiner Gemeinde ein, verfolgte er das Aufkommen des Nationalsozialismus mit Schrecken.
Julius Rumpf war sich über den Unrechtscharakter des NS-Regimes keine Sekunde im Unklaren. Aus dieser Überzeugung heraus wollte er nicht hinnehmen, dass die Kirche nach der Machtergreifung gleichgeschaltet wurde, setzte er den Nationalsozialisten gemeinsam mit anderen Widerstand entgegen. So übernahm er 1934 die Geschäftsführung des von Martin Niemöller gegründeten "Pfarrernotbundes" in der Hessisch-Nassauischen Kirche, aus dem die "Bekennende Kirche" hervorging. Julius Rumpf war hier von 1936-1940 Vorsitzender des Landesbruderrates.
Für seine Widerständigkeit wurde er gleich von zwei Seiten unter Druck gesetzt: von der regimehörigen Landeskirchenregierung, die ihm erst Geldstrafen erteilte, ihn dann als Pfarrer absetzte und zwangspensionierte. Die Gestapo stellte ihn unter Polizeiaufsicht, lud ihn immer wieder zu stundenlangen Verhören vor und wies ihn schließlich 1940 aus Nassau aus. Der Pfarrer, dem die Predigt-Erlaubnis entzogen worden war, lebte danach in Heidelberg. Von dort aus hat er die "Bekennende Kirche" weiter unterstützt. Auch am Wiederaufbau der Kirche nach 1945 beteiligte er sich, so lange es seine Kräfte zuließen. Im Jahr 1948 endete sein sozial engagiertes, unangepasstes, widerständiges Leben - aber nicht sein Lebenswerk.
Das ist das Verdienst seines Sohnes Dr. Jürgen Rumpf und seiner Schwiegertochter Ingrid. Das Gefühl, "etwas von diesem Lebenswerk des Vaters bzw. Schwiegervaters weiterführen zu müssen", hat sie motiviert, den "Julius-Rumpf-Preis" zu stiften. Er soll das Nachdenken über die Wege und Irrwege der Kirche in der NS-Zeit anregen und "innerhalb wie außerhalb kirchlicher Strukturen der Förderung von Frieden, Mitmenschlichkeit und Gewaltlosigkeit" dienen. Mit ihrer Stiftung will die Familie Rumpf bewusst machen, dass auch heute "christliche Wohltätigkeit und bürgerschaftliches Engagement nicht in verschiedenen Welten angesiedelt werden dürfen". Dieses zivilgesellschaftliche Engagement aus christlicher Grundhaltung verbindet sich nahtlos mit der Arbeit der "Martin-Niemöller-Stiftung", die den "Julius-Rumpf-Preis" treuhänderisch verwaltet und in einer gemeinsamen Jury den oder die Preisträger auswählt.
Dieser Preis soll - so hat es Prof. Stöhr formuliert - "ein Stachel im Fleisch der Gleichgültigkeit sein". Und Gleichgültigkeit gegenüber Menschen in schwierigen Lebenslagen ist auch heute - noch oder wieder - ein Problem. Das glückliche Ende des Streites um die Familie Nguyen hat hoffentlich den Blick geschärft für die schwierige Situation von Ausländern in unserer Gesellschaft - gerade von Flüchtlingen. Allzu oft wird ihrem Schicksal mit Gleichmut begegnet, wird vergessen, dass Menschen nicht als Flüchtlinge geboren, sondern dazu gemacht werden. Willkür und Unterdrückung, Folter, Terror und Kriege sind nach wie vor in verschiedenen Teilen der Welt an der Tagesordnung. Oppositionelle und Minderheiten werden gewaltsam unterdrückt oder manipuliert. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Demonstrationsrecht sind in vielen Regionen dieser Welt zerbrechliche, oft nur scheinbare Rechte. Entweder stehen sie nur auf dem Papier oder sind nicht von dauerhaftem Bestand. Existenzielle Nöte, kriegerische Auseinandersetzungen, Vertreibung aus der Heimat, Auseinanderreißen von Familien - all dies gehört zu den alltäglichen Berichten in unseren Medien.
Und doch rütteln uns die Nachrichten über die Flüchtlingsströme nur hin und wieder aus unserer Gleichgültigkeit auf, lösen Betroffenheit und zweifellos auch große Spendenbereitschaft aus. In erster Linie aber werden die Gefahren und Einschränkungen gesehen, die durch den Zuzug von Flüchtlingen drohen. Es ist bemerkenswert, dass das Aussprechen solcher Ängste stets darauf verzichtet, einzelne Schicksale zu nennen. Flüchtlinge, Einwanderer werden zu einer abstrakten Größe damit die nationalen Scheuklappen den Blick auch beengt halten.
Wir reden seit Jahrzehnten von einer europäischen Wertegemeinschaft, wir erleben die Fusionen großer Wirtschaftsunternehmen, leben im Zeitalter der Globalisierung. Es ist doch zwangsläufig, dass diese intensive globale Verflechtung nicht auf den Austausch von Waren beschränkt bleiben kann, sondern dass Menschen mobil werden, ihre Qualifikationen suchen, wo sie zu finden sind und ihr Können anbieten, wo es gefragt wird.
Lange, zu lange haben wir uns vor diesen Motiven für Einwanderung gesperrt: das eine ist die Flucht vor Unterdrückung und Not, das andere steht im Einklang mit der immer weltumspannenderen Informationsgesellschaft. Die Globalisierung lässt zwar die Waren- und Kapitalströme ungehindert fließen. Davon profitieren aber nur wenige, und vor allem nicht die Bedürftigen. Die Kluft zwischen Arm und Reich auf der Welt wird eher größer. Die Motive, sich auf den Weg nach Europa und nach Deutschland zu machen, werden also eher stärker als schwächer. Deshalb kann in Europa die Zuwanderung längst nicht mehr Angelegenheit einzelner Länder sein. Wir müssen zu einer europäischen Migrationspolitik kommen, damit die Menschen, die ein Leben ohne Angst und die, die ihre persönliche Chance nur außerhalb ihrer Heimatländer zu finden glauben, auf würdige und vernünftige Weise behandelt werden, statt im Dickicht unabgestimmter Regelungen zwischen die bürokratischen Mühlsteine zu geraten. Ich bin sicher, dass dieser Aspekt in den kommenden Monaten bei der parlamentarischen Beratung des Zuwanderungsgesetzes eine Rolle spielt. Und ich bin froh, dass wir uns vor der Einsicht, ein Einwanderungsland zu sein, nicht länger drücken.
Im übrigen ist die rechtliche Dimension ohnehin nur die eine Seite. Längst nicht alles kann über Gesetze geregelt werden. Ebenso wichtig ist, wie wir im Alltag mit den Menschen umgehen, die zu uns kommen, egal, ob wir sie gerufen haben oder ob sie bei uns Zuflucht, Asyl suchen. Diese Männer, Frauen und Kinder haben oft schlimmste Erfahrungen gemacht: politische Verfolgung, Gefängnis, Folter, Leid. Sie hoffen auf jenen Schutz, den unser Grundgesetz politisch Verfolgten garantiert, vor allem aber auch auf Mitmenschlichkeit und Wärme. Leider müssen sie oft gegenteilige Erfahrungen machen: Berührungsängste, Ab- und Ausgrenzung, Konfrontation mit fremdenfeindlichem Denken, rechtsextremistischen Parolen und Angriffen. Wenn Flüchtlinge und jeder andere, der ausländisch aussieht, bei uns gesellschaftlich ausgegrenzt, an den Rand gedrängt werden, wenn sie vor rechtsextremistischer Gewalt nicht nachhaltig geschützt werden - übrigens keineswegs nur von Polizei und Justiz, sondern ebenso von ihren Nachbarn und Mitbürgern - dann hat sich wieder ein Stück weit jene Gleichgültigkeit breitgemacht, mit der sich Julius Rumpf niemals abfinden wollte.
Deshalb ist es wichtig, dass es auch heute Menschen und Initiativen gibt, die gegen gesellschaftliche Gleichgültigkeit angehen, die uns aufrütteln - wie der "Flüchtlingsrat des Landes Brandenburg e.V.". Vor sieben Jahren von sieben Frauen gegründet, hat sich diese kleine Gruppe engagierter Frauen und Männer große Verdienste um die Verbesserung der Situation von Flüchtlingen in Brandenburg erworben. Der "Flüchtlingsrat Brandenburg" ist eine Lobby für die, die sonst keine Lobby haben. Er unterstützt und berät Asylsuchende in allen Lebenslagen. Ebenso tritt er in Medien und Öffentlichkeit nachdrücklich für ihre Belange ein. Der Verein tritt für unabhängige Verfahrensberatungen zum Asyl ein. Seit langem kritisiert der "Flüchtlingsrat", dass Unterstützung für Asylbewerber in Sachleistungen statt in Geld geleistet wird. Die Unterbringung von Flüchtlingen in isoliert gelegenen Unterkünften ist ein weiterer Gegenstand der Kritik. Die soziale Isolation der Flüchtlinge an diesen Orten ist schon beklemmend genug; dramatisch ist, dass sie dort auch durch rechtsextremistische Überfälle besonders gefährdet sind. Wo es keine Zeugen gibt, wo keine Nachbarn die Polizei rufen oder selbst Hilfe leisten können, haben die rechten Gewalttäter oft leichtes Spiel. Und warum müssen Asylbewerber eigentlich in abgelegenen Heimen in den brandenburgischen Wäldern wohnen, wenn in der nächsten Stadt Häuser leer stehen? Man will keine sog. Ghettobildung in den Städten - aber ist die Isolation und Verdrängung an den Rand der Gesellschaft die einzige Alternative dazu?
Der "Flüchtlingsrat Brandenburg" verteilt öffentliche "Denkzettel" an Ämter, Behörden und Politiker. Damit macht er sich natürlich nicht überall beliebt. Ich finde jedoch , dass neben dem sozialen Engagement gerade das Widerständige und Unangepasste an dem neuen Preisträger gut zu Julius Rumpf passt. Einer Pressemitteilung des Vereins ist zu entnehmen (ich zitiere):
"Der Flüchtlingsrat soll ein unabhängiges Gremium sein und keine Kompromisse eingehen müssen. Wir können die Dinge beim Namen nennen. Dies ist ein unermesslicher Vorteil gegenüber den Menschen, die in ihren parteipolitischen oder anderen Strukturen arbeiten müssen."
Man wird am Ende auch bei dem Ausländer- und dem sog. Zuwanderungsgesetz Kompromisse machen müssen. Das gehört zur Demokratie. Aber solange viele in unserer Gesellschaft vor den existenziellen Nöten, den alltäglichen Diskriminierungen und sogar vor der Gefahr für Leib und Leben fremder, ausländisch erscheinender, asylsuchender Mitmenschen die Augen verschließen, müssen uns einige kompromisslos auf die Nerven gehen, Bescheid sagen, Verbesserung einklagen, politisches Bewusstsein anstreben. Es geht dem "Flüchtlingsrat" doch um etwas eigentlich Selbstverständliches: dass die Werte und Normen unseres Grundgesetzes, die Menschenrechte zumal, in der Lebenswirklichkeit auch praktiziert werden.
Genau darin liegt die zivilgesellschaftliche Unverzichtbarkeit solcher Nicht-Regierungs-Organisationen. Deshalb lautet meine Bitte an den "Flüchtlingsrat des Landes Brandenburg": machen Sie sich weiter unbeliebt, nennen Sie auch weiterhin die Probleme von Flüchtlingen beim Namen, bleiben Sie kritisch, unbequem, unangepasst - wie Julius Rumpf.
An sein widerständiges Lebenswerk erinnert seit dem vergangenen Jahr der "Julius-Rumpf-Preis". Preisträger werden gesucht, die bewusst oder unbewusst an der Haltung Julius Rumpfs anknüpfen, und sie auf unsere heutige Zeit anwenden. Mit dem "Flüchtlingsrat des Landes Brandenburg" ist ein solcher würdiger Preisträger gefunden worden."