12.11.2001
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der
Jahreskonferenz des Verbandes Berlin-Brandenburgischer
Wohnungsunternehmen am 12. November 2001 in Berlin, Hotel
Steigenberger
Es gilt das gesprochene Wort
"Es hieße,
Eulen nach Athen zu tragen, würde ich Ihnen, den Fachleuten,
einen Vortrag über die prekäre Situation der
Wohnungswirtschaft in den ostdeutschen Ländern halten wollen.
Denn die Probleme, die diese Branche zu bewältigen hat, kennt
niemand besser als Sie.
Ihre Erwartungen an
mich sind sicher andere: Sie wollen etwas hören über die
Perspektiven der neuen Länder, über die Perspektiven der
Menschen, die hier leben. Wie steht es um die Zukunft Ost? Welche
politischen Konzepte sind geeignet, die Struktur- und
Wirtschaftsprobleme dieser Region zu lösen? Und
grundsätzlicher noch: Sind wir in Ostdeutschland –
gemessen an den Herausforderungen des europäischen
Erweiterungsprozesses – überhaupt noch auf dem richtigen
Weg? Oder ist nicht eher eine grundsätzliche Kurskorrektur
angezeigt – ein Umdenken, ein neuer Aufbruch?
Diese Fragen sind
alles andere als abstrakt. Sie zielen auf das politische Konzept,
das dem Aufbau Ost zugrunde liegt, und sie zielen auf das
Selbstverständnis der politischen Akteure – im Bund, in
den Ländern, in den Kommunen.
Die
Wohnungswirtschaft berühren diese Fragen auf dramatische
Weise, da sind wir uns sicher einig. Wie ein Indikator spiegelt der
Zustand des Bau- und Wohnungssektors die wirtschaftliche und
mentale Situation in Ostdeutschland. In diesem Sektor fokussiert
sich vieles von dem, was auf der Habenseite steht, aber auch von
dem, was gesellschaftlich noch immer im Argen liegt.
Unsere
Startbedingungen in die „westliche Welt“ waren gut. Im
Vergleich zu den osteuropäischen Staaten hatten die neuen
Bundesländer einen großen Vorteil: Sie wurden sehr
schnell Teil der EU und Nutznießer großer westdeutscher
Solidarität.
Was bei uns in nur
elf Jahren erreicht wurde, ist nicht wenig: Der Zerfall der
Innenstädte wurde gestoppt und ins Gegenteil verkehrt. Der
Ausbau der Infrastruktur ist heute weit fortgeschritten,
stellenweise hat er den im Westen überholt. Ein neues
Rechtssystem wurde eingeführt, das Bildungswesen reformiert,
die Landwirtschaft umgestaltet, soziale Sicherungssysteme
aufgebaut.
Die Menschen in den
neuen Ländern haben individuell eine hohe Leistung in diesem
ungeheuer schnellen Transformationsprozess erbracht. Das verdient
Anerkennung, darauf darf man stolz sein.
Doch von Erfolgen
sollte niemand sich blenden lassen. Wollen wir eine ehrliche
Bestandsaufnahme, dann dürfen wir uns nicht herum mogeln um
die bitteren Wahrheiten.
Noch immer sind die
politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Ost
und West in einem hohen Maß von Abhängigkeiten
geprägt. Es sind Abhängigkeiten, die in einer gespaltenen
Ökonomie wurzeln. Die Wirtschaftsfakten sprechen eine
deutliche Sprache: Nach einer rasanten Aufholjagd bis Mitte der
neunziger Jahre blieb in den letzten Jahren das wirtschaftliche
Wachstum der ostdeutschen Länder mehr und mehr hinter dem des
Westens zurück. Und vor wenigen Tagen gar meldete das
Hallenser Institut für Wirtschaftsforschung, dass in diesem
Jahr die ostdeutsche Wirtschaftsleistung erstmals seit der Einheit
schrumpft. Während das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2000 noch
wenigstens um 1,1 Prozent zulegte, wird für 2001 ein Minus
erwartet. Der Rückgang wird zwischen einem halben und einem
ganzen Prozent liegen.
Es bleibt dabei: Die
stärksten neuen Länder befinden sich weiter hinter den
Schwachen der alten Länder. Die Exportschwäche in den
neuen Ländern hält an, etwa jeder vierte
Erwerbsfähige hat keinen regulären Job. Besonders schlimm
ist die Abwanderung junger Menschen. Sie lässt den Osten
Schritt für Schritt vergreisen. Ein deutlicheres Alarmsignal
ist kaum vorstellbar.
Auf Dauer, das
dürfte klar sein, kann eine wirtschaftlich geteilte Republik
nicht funktionieren. Der Osten kann nicht ewig von Solidarität
und Alimenten leben – ökonomisch nicht und schon gar
nicht mental. Der Osten muss heraus finden aus seiner Rolle als
verlängerte Werkbank und als Absatzmarkt des
Westens.
Es bleibt die Frage:
Was tun? Ich behaupte: Wir brauchen ein neues strategisches Konzept
für einen zweiten Anlauf beim Aufbau Ost. Das bisherige
Konzept, Wirtschaft, Politik und Sozialstruktur so weit wie
möglich den alten Ländern anzunähern, ähnlich
oder gleich zu machen, war in der ersten Hälfte des Weges
unausweichlich. In der nun anstehenden zweiten Aufbauphase wird
allerdings dieses Modell der nachholenden, nachahmenden
Modernisierung nicht mehr weiter helfen. Es gibt nicht mehr viel,
was der Osten vom Westen noch lernen könnte. Das Nachdenken
über die „Zukunft Ost“ muss auf etwas anderes
zielen als auf das Kopieren von Weststandards, auf etwas anderes
als auf eine Verlängerung der Gegenwart.
Aus meiner Sicht
sind es vor allem drei Herausforderungen, die bei der
Zukunftsgestaltung zu meistern sind: Erstens haben wir neu
nachzudenken über die Demokratiegestaltung in Ostdeutschland,
über die wirkliche Aneignung und Nutzung demokratischer
Institutionen. Dann ist dringend die Frage zu diskutieren,
wie in der zweiten Phase des Aufbau Ost eine echte wettbewerbs- und
zukunftsfähige Wirtschaft geschaffen werden kann. Und
drittens ist zu überlegen, wie sich Ostdeutschland auf
seine künftige Funktion als europäische Verbindungsregion
vorbereiten muss.
Erstens, zur
Demokratiefrage. Sie stellt sich auch heute noch mit einiger
Brisanz, weil das bisher dominierende Prinzip des Aufbau Ost
– nämlich Alimentierung statt Selbstorganisation –
überwiegend zur Blockade selbsttragender Prozesse, zu einer
Lähmung von Initiative und Innovation geführt hat. Die
neue Zukunftsdebatte Ost muss nicht nur auf die Reform vorhandener
Institutionen zielen, sondern zugleich auch die Entwicklung von
Verfahren mitbedenken, die Passivität und Lähmung
überwinden helfen. Die Freisetzung blockierter
Selbstorganisation sehe ich als das wichtigste strategische Ziel
für den Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft im
Osten.
Notwendig ist, die
Bürgergesellschaft zu stärken. Deren Basis sind
freiwillige, selbstbestimmte Zusammenarbeit und gesellschaftliche
Mitbestimmung – das so genannte soziale Kapital der
Bevölkerung. Dieses soziale Kapital hat sich im Laufe der
Geschichte immer wieder als der entscheidende politisch-kulturelle
Motor der demokratischen, aber eben auch der wirtschaftlichen
Entwicklung erwiesen.
Und es gibt ja eine
Reihe tradierter Kulturmuster – Formen sozialen Kapitals
–, die in der ostdeutschen Gesellschaft ausgeprägt
wurden, und die sich heute als zukunftsträchtig erweisen
könnten: es sind dies die gemeinschaftsbezogenen Einstellungen
der Menschen, ihr Improvisationstalent (der Soziologe Stefan Hradil
spricht von „Chaosqualifikation“), ihre
tragfähigen – nicht nur ökonomisch geprägten
– Beziehungsnetze.
Heute hängt
für den Osten vieles davon ab, dass sich wirksame
Interessenvertreter und Netzwerke der Kooperation entwickeln und
profilieren. Das ist eine Aufgabe der Verbände, Parteien,
Gewerkschaften, Kulturträger.
Die Politik, die
Medien und natürlich die Bevölkerung selbst müssen
für ein aufgeklärtes Handeln, eine neue Mündigkeit
sorgen, aus der dann gesellschaftliche Verantwortung und Teilhabe
wachsen können. Die Kreativität, die Phantasie der
Ostdeutschen darf nicht weiter brach liegen. Die Menschen
müssen sich viel stärker in ihre ureigenen
Angelegenheiten einmischen, auch außerhalb von Wahlterminen.
Sie dürfen nicht darauf warten, dass alles von oben und von
anderen geregelt wird. Nicht Resignation oder Larmoyanz, sondern
Selbstbehauptung, Mut, demokratisches Engagement sind in den neuen
Ländern gefragt – mehr denn je.
Zur zweiten
Herausforderung, dem Aufbau einer wettbewerbsfähigen
Wirtschaft: Wie kann die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands derart
wachsen, dass Subventionen überflüssig werden? Dies ist,
denke ich, die entscheidende Zukunftsfrage.
Wenn auch
künftig ein beträchtlicher Teil der ostdeutschen
Märkte vom Westen aus beliefert wird, ist dieses Problem nicht
zu lösen. Die staatlichen Zuschüsse, mit denen im Osten
die Haushalte von Ländern und Kommunen aufgestockt und die
Einkommen und Renten stabilisiert werden, stützen nämlich
gleichzeitig den Umsatz westdeutscher Firmen. Subventionen für
Ostdeutschland und zusätzliches Wachstum, zusätzliche
Arbeitsplätze und Gewinne für Westdeutschland sind also
nur Kehrseiten einer Medaille. Wenn allmählich die Produktion
dorthin wandern würde, wo der Markt ist, wäre dieser
Kreislauf von Subvention Ost und Produktion West nur eine
vorübergehende Erscheinung. Doch dafür müssen die
Weichen erst noch gestellt werden.
Die
überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen –
Männer wie Frauen – will ohne Abstriche am Erwerbsleben
teilnehmen. Denn geregelte Arbeit ist nicht nur ein Stück
sozialer Sicherheit, sondern auch wichtiger Teil der
Identitätsbildung. Was heute vielfach als rückbezogen und
als real sozialistisches Erbe gesehen wird, nämlich der Wille
und die Fähigkeit, Familie mit Beruf zu vereinbaren, sollte
endlich als ein großes, auch wirtschaftlich wichtiges
Potential anerkannt werden. Dass die Teilhabe der Frauen am
Erwerbsleben auch in entwickelten Volkswirtschaften gut und
erfolgreich funktionieren kann, zeigen Beispiele wie Schweden,
Dänemark und die Niederlande. Von den arbeitsmarktpolitischen
Erfolgsgeschichten dieser Länder können wir so manches
lernen, allerdings nur, wenn wir uns in unseren Vergleichen und
Zukunftsentwürfen nicht ausschließlich an
Westdeutschland orientieren.
Ostdeutschland
braucht ein umfassendes Programm wirtschafts- und
beschäftigungspolitischer Initiativen. Zunächst gilt es,
den Stagnations- und Rückfallprozess umzukehren. Geld- und
Währungspolitik, Haushalts- und Steuerpolitik des Staates und
Lohnpolitik der Tarifpartner müssen so aufeinander abgestimmt
werden, dass eine Trendwende überhaupt möglich wird. Wir
stehen vor der Entscheidung, entweder nochmals kräftig mit
neuen Ideen in die Zukunft zu investieren, damit sich
Ostdeutschland im Wettbewerb der Regionen behaupten kann. Oder wir
richten uns darauf ein, sehr lange Subventionen dafür zu
zahlen, dass die schlimmsten sozialen und politischen Verwerfungen
eingedämmt werden. Doch ob die jungen Menschen sich damit auch
zufrieden geben? Ich bezweifle das. Sie kehren dem Osten weiter den
Rücken, wenn ihnen die Perspektive fehlt, wenn sie keinen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden. Sie kennen die Zahl: Eine
Million Wohnungen stehen leer zwischen Ostsee und Erzgebirge
– das ist eine schmerzliche Botschaft.
Die Finanzen der
neuen Länder und der meisten Kommunen sind einfach zu schwach,
um den Stand der erforderlichen öffentlichen Investitionen zu
halten. Trotzdem plädiere ich dafür, das von
Wirtschaftsforschern festgestellte Infrastrukturdefizit des Ostens
schneller als geplant zu beheben. Der Solidarpakt II ist das
Fundament dafür. Aber ich würde die 300 Milliarden nicht
gleichmäßig über 15 Jahre verteilen, sondern
möglichst früh eine konzentrierte Anstrengung empfehlen,
die später niedrigere Förderung zur Folge hat. Das setzt
vor allem eine planerische Anstrengung auf der Empfängerseite,
bei den Ländern, Kommunen und privaten Investoren voraus.
Diese planerische Leistung wird die Höhe der einsetzbaren
Mittel entscheidend beeinflussen. Auf diese Weise entstehen neue
Anreize für einen selbsttragenden Aufschwung. Dazu
gehören so schnell wie möglich Investitionen in die
Infrastruktur und in den regionalen Ausbau von Forschung und
Entwicklung.
Der enorme
Rückstand in Wissenschaft und Forschung ist langfristig
gesehen der wichtigste Konkurrenznachteil. Soll dieser
Rückstand aufgeholt werden, braucht Ostdeutschland eine voll
ausgebildete, leistungsfähige Hochschul- und
Forschungslandschaft. Denn sie bildet den unverzichtbaren Kern
einer technologie- und wissensbasierten Wirtschaftsstruktur in
Wachstumszentren.
Forschung muss
endlich als Schlüsselkategorie beim Aufbau Ost anerkannt
werden. Erforderlich ist, die Benachteiligung der ostdeutschen
Wissenschaftszentren bei der Ausstattung mit
Forschungskapazitäten abzubauen. Wir brauchen eine
Wissenschaftspolitik, die der Abwanderung von gut qualifizierten
und motivierten Fachleuten Einhalt gebietet und die Zuwanderung von
Spezialisten fördert. Der Osten blutet wissenschaftlich aus,
wenn die hier tätigen hochqualifizierten Fachkräfte nicht
genauso gut bezahlt werden wie ihre Kollegen im Westen.
Wenn Wissenschaft
und Entwicklung durch zielgerichtete Strukturpolitik gefördert
werden, greifen im übrigen auch die staatlichen
wettbewerbsorientierten Programme – wie InnoNet und ProInno
zur Förderung des Zusammengehens von Forschung und
mittelständischer Wirtschaft. Auch sie motivieren externe
Investoren zu eigenem Engagement in attraktiven
Entwicklungszentren. Sie wollen dort von der Kompetenzhäufung,
der Dynamik und dem kreativen Flair profitieren.
Das vielfach noch zu
niedrige Produktivitätsniveau in der ostdeutschen Wirtschaft
hat weitere handfeste Gründe, die kaum allein von politischer
Seite zu regulieren sind. Neben der noch immer unzureichenden
technischen Ausstattung und dem geringen Anteil hochproduktiver
Großserienfertigung sind es vor allem die so genannten
weichen Faktoren, die unzureichend zur Geltung kommen. Erhebliche
Mängel gibt es bei der Motivation und Aktivierung der
Mitarbeiter, bei der Arbeitsorganisation, beim Management und
hinsichtlich der Unternehmensstrategie.
Aktuelle
Untersuchungen belegen, dass die Produktivität vieler
ostdeutscher Betriebe aufgrund schlechter Organisation und nicht
vorhandener Leistungsanreize am unteren Ende der Möglichkeiten
bleibt. Die Intelligenz der Belegschaften und deren Interesse an
vernünftigen wie befriedigenden Arbeitsbedingungen wird
schlecht genutzt. Statt hier anzusetzen, begeben sich
Betriebsleitungen in die Sackgasse untertariflicher Bezahlung. Doch
Lohndumping ist einfach kein Erfolgsrezept, auch wenn kurzfristig
der Ertrag steigen mag. Wirklich erfolgreiche Unternehmer
konkurrieren über Produkt und Qualität und über die
Motivation ihrer Mitarbeiter. Betriebliche Mitbestimmung und
kooperative Formen der Arbeitsorganisation sind der institutionelle
Ausdruck dieser Erkenntnis.
Jedes Nachdenken
über die wirtschaftlichen Perspektiven der neuen Länder
kommt natürlich nicht an der europäischen Frage vorbei,
meinem dritten Schwerpunkt: Zu fragen ist: Worin liegen die
historischen Chancen der neuen Länder im Prozess der
EU-Osterweiterung? Und worin besteht die besondere europäische
Verantwortung?
Die Verantwortung
der Ostdeutschen gegenüber den Menschen in Osteuropa und dem
Prozess der europäischen Einheit ergibt sich beinah
zwangsläufig aus der jüngeren Geschichte. Die friedliche
Revolution vom Herbst 1989 ist ohne den KSZE-Prozess, ohne die
Schlussakte von Helsinki, ohne den in Europa geborenen Gedanken der
Entspannungspolitik schlichtweg undenkbar. Die Wende 1989 wurde
nicht nur von Gorbatschow ermöglicht. Sie hatte ihre Vorbilder
und Vorläufer gerade auch in den Ländern
Mittelosteuropas: in der polnischen Solidarnosc-Bewegung, die den
Runden Tisch erfand, den Ungarn, die Löcher in ihren
westlichen Grenzzaun schnitten, und den Protagonisten der sanften
Prager Revolution.
Wir müssen die
EU-Osterweiterung als das begreifen und befördern, was sie
ist: die Überwindung der Teilung Europas in Folge eines
Weltkrieges, der von deutschem Boden ausging. Sie ist eine
historische Chance für das wieder vereinigte Deutschland, sich
als Stabilitäts- und Wachstumspool in der Mitte eines geeinten
Europas zu etablieren.
Wirtschaftlich
gesehen birgt die Osterweiterung einige Risiken, aber sehr viel
mehr Chancen: Es fallen die Barrieren für den freien Verkehr
von Dienstleistungen und Arbeit zwischen Regionen, die sich
ökonomisch dramatisch voneinander unterscheiden, mit allen
Konsequenzen. Auf diese Entwicklung müssen wir uns
vorbereiten, sonst geht möglicherweise die wirtschaftliche
Dynamik des Erweiterungsprozesses über Ostdeutschland
hinweg.
Beim Übergang
zur völligen EU-Dienstleistungsfreiheit besteht sicher auch
ein Handlungs- und Schutzbedarf, etwa für die verwundbare
Bauwirtschaft und die ihr vorgelagerten Bereiche, damit es nicht zu
einem Verdrängungswettbewerb mit osteuropäischen
Anbietern kommt. So wichtig eine solche Schutzmaßnahme
angesichts der dramatischen Arbeitsmarktsituation auch sein mag:
Eine zukunftsfähige Strategie ist das nicht. Die kann nur
darin bestehen, die Strukturschwäche der regionalen Industrie
durch gezielte Investitionen zu überwinden.
Wir brauchen einen
Perspektivenwechsel, der unsere Region nicht länger als
„Beitrittsgebiet“, sondern als „historische
Verbindungsregion“ begreift. Die veränderte Perspektive
verheißt Gewinn, weil Ostdeutschland Erfahrungen einbringen
kann, über die andere Regionen in Deutschland oder in
Westeuropa nicht verfügen: Erfahrungen aus Zeiten des rasanten
Umbruchs und Kompetenzen im Umgang mit schwierigen
Herausforderungen. Zur Verdeutlichung doch noch einmal ein Blick
nach Westen: NRW-Ministerpräsident Clement betont immer
wieder, dass der größte Teil des Wohlstands in diesem
größten Land im wirtschaftlichen Austausch mit seinen
unmittelbaren Nachbarn, den Bundesländern und mit Frankreich
geschaffen wird. Das sind für Ostdeutschland Polen, Tschechien
und die Ostsee-Anrainer.
Wer einen
Perspektivenwechsel wählt, der wird auch andere
Prioritäten setzen, etwa in der regionalen und
überregionalen Verkehrs- und Raumplanung, in der
Förderung von Dienstleistern, die ihre Kunden und Märkte
in der neuen gesamteuropäischen Arbeitsteilung suchen und
natürlich auch bei der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit in Sachen Forschung und Entwicklung. Regionale
Lösungen, allemal in europäischer Perspektive, brauchen
wissenschaftlichen Vorlauf und wissenschaftliche Begleitung. Wer
auf den Märkten bestehen will, muss die vorhandenen Potentiale
mit den Innovationsträgern verknüpfen, zum Vorteil aller
Beteiligten.
Es geht darum,
Zentren zu vernetzen und gezielt Regionen zu entwickeln, die durch
ihre veränderte geographische und wirtschaftliche Lage gute
Entwicklungschancen haben.
All dies wird aber
nur möglich, wenn in den Jahren bis zur Aufnahme der ersten
mittelosteuropäischen Staaten in die EU eine deutsche
Transferpolitik von West nach Ost greift, die auf die Herstellung
europäischer Wettbewerbsfähigkeit gerichtet ist –
weg vom Gießkannenprinzip, hin zu zielgenauen Investitionen.
Dann kann die EU-Erweiterung tatsächlich zur zweiten Chance
für Ostdeutschland werden. Diese Kurskorrektur wird sicher
kostspielig sein. Sie zu unterlassen kommt uns aber mit Sicherheit
noch teurer. Sparen kann man im Fall Ostdeutschlands nur, wenn man
zuvor in die wirtschaftliche Entwicklung investiert. Das ist eine
Lehre des letzten Jahrzehnts.
Jetzt ist an der
Zeit, Weichen zu stellen – Weg vom „Weiter so“
und hin zu neuer, innovativer Politik für Ostdeutschland. Das
heißt auch, Abschied nehmen vom „Leitbild West“,
von verfestigten Strukturen, vom Nachbau der Vergangenheit.
Wir haben die Wahl:
Entweder der Osten fällt zurück, vergreist, erstarrt und
wird strukturell zukunftsunfähig. Oder wir nutzen und
reaktivieren die Potentiale im Osten und skizzieren einen
Zukunftsentwurf, der den Menschen zwar keine blühenden
Landschaften verspricht, dafür aber Lebensperspektiven
eröffnet.
Das Programm Stadtumbau Ost der Bundesregierung, das Investitionsprogramm Verkehr, die Konzentration auf innovatives verarbeitendes Gewerbe sind Schritte in die richtige Richtung, aus denen auch die Wohnungswirtschaft und das Baugewerbe Nutzen ziehen können.
Die neuen Länder können auch heute noch nicht ökonomisch auf eigenen Beinen stehen. Sie brauchen weiterhin die Solidarität des Westens. Aber nicht als Alimente, die den Status quo verfestigen, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe in Gestalt einer neuen Politik, die Investitionen stärkt, Beschäftigung schafft und Ostdeutschland auf die Herausforderung durch die EU-Osterweiterung vorbereitet. Hierin liegen die Chancen für die gemeinsame Zukunft, und das heißt auch – für die „Zukunft Ost“."