Reden des
Bundestagspräsidenten
Reden 2004
06.05.2004
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse, zur Eröffnung der Konferenz der Bundeszentrale
für politische Bildung "Zukunftsverantwortung. Wirtschaft und
politische Bildung im Dialog" am 6. Mai 2004 in Berlin
Es gilt das gesprochene
Wort
In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind unüberwindlich scheinende Grenzen durchlässig geworden oder gar gefallen: zuerst die Berliner Mauer, dann die Grenze zwischen den beiden Weltsystemen und zuletzt, am 1. Mai, die alte Ostgrenze der Europäischen Union.
Einen – wie soll ich sagen – "Grenzdurchbruch" der besonderen Art gibt es heute im Rathaus Schöneberg zu bestaunen: Was hier, im Willy-Brandt-Saal, bröckelt, sind die Mauern im institutionellen Selbstverständnis von Politischer Bildung und Wirtschaft. Politische Bildung und Wirtschaft beginnen, ihre jahrzehntelang gepflegte Abschottung aufzubrechen. Sie nehmen einander endlich wahr, gehen aufeinander zu, organisieren einen ersten gemeinsamen "Markt der Möglichkeiten". Wer hätte das für möglich gehalten! Diese Konferenz wird von den Veranstaltern zwar noch vorsichtig als "Pilotprojekt" bezeichnet, aber immerhin: Es ist ein Ansatz. Und ich bin gespannt, was sich daraus entwickelt!
Die Berührungsferne, in welcher die Träger der Politischen Bildung und die Interessenvertretungen der Wirtschaft in der Vergangenheit agierten, ist gewiss nicht durch Absichtserklärungen oder Einzelaktionen aus der Welt zu schaffen. Denn wir haben es bei dieser Form von "Abschottung" mit einem strukturellen Problem zu tun, das es verdiente, selbst einmal thematisiert und untersucht zu werden. Dieses Kommunikationsdefizit zwischen wichtigen gesellschaftlichen Funktionsbereichen scheint geradezu ein "Markenzeichen" moderner Gesellschaften zu sein: Die Wirtschaft, die Medien, die Wissenschaften, die Politik, die Politische Bildung – sie wirken allzu häufig wie selbstreferenzielle Systeme, wie "Kommunikationsinseln", die, trotz gegenteiliger Beteuerungen, nur wenig miteinander zu tun haben, die bei der Bearbeitung ähnlicher Fragestellungen parallel agieren, statt sich zu vernetzen, die allzu häufig nur übereinander reden statt miteinander, und die im aktuellen Beschleunigungswettbewerb, dem die Medien, die Wirtschaft, die Politik und auch die Deutungswissenschaften unterliegen, bedenklich weit auseinanderdriften.
Diese Diagnose hat nichts mit Moralisieren zu tun. Es geht um Strukturen: um Strukturen der politischen Kommunikation, aber eben auch um Strukturen des Marktes, der Verwertbarkeit, der Effizienz – letztlich auch um Strukturen des Einflusses und der Macht. Diese Zusammenhänge aufzudecken, transparent zu machen, zu vermitteln, könnte und sollte durchaus eine Aufgabe der Politischen Bildung sein – die heutige Veranstaltung sehe ich als ermutigenden Schritt in diese Richtung. Dass es in diesen Fragen erheblichen Aufklärungsbedarf gibt, lässt sich tagtäglich beobachten – in unseren Debatten über die Zukunft des Sozialstaats, über die Notwendigkeit von Reformen und über die Rolle der gesellschaftlichen Subsysteme in diesem Prozess – der Politik, der Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Bildung. Wie und mit welchen Folgen diese Subsysteme kommunizieren, ist für viele nur schwer durchschaubar. Bisher scheint in der öffentlichen Wahrnehmung derjenige zu überzeugen, der die mediale Klaviatur am besten beherrscht und am schnellsten bedient.
Die argumentative Heftigkeit und Skandalisierung, mit der die Reformpolitik kommuniziert wird, ruft bei vielen Menschen Ärger, Politikverdruss und Politikmüdigkeit hervor. Diese Entwicklung ist besorgniserregend, schließlich kann sie die Substanz des demokratischen Grundkonsenses unserer Gesellschaft beschädigen.
Das einzige, was in den aktuellen Reformdebatten wirklich verlässlich funktioniert, ist der Vorwurfsreflex: Es ist immer der jeweils Andere, der verhindert, der beschädigt, der bremst, der versagt. Die Diskussion um die Ausbildungsplatzumlage liefert hierfür ein bezeichnendes Beispiel: Die Wirtschaft stellt zu wenig Ausbildungsplätze zur Verfügung, den Schwarzen Peter dafür bekommt aber die Politik zugeschoben. Darüber, dass wir mehr Ausbildungsplätze brauchen, sind sich zwar alle einig. Aber daraus Konsequenzen ziehen will scheinbar kaum jemand. Die Vorschläge aus der Politik werden von Teilen der Wirtschaft heftig kritisiert, ja torpediert, weil sie mögliche materielle Nachteile befürchten. Ich denke, aus dieser Widerspruchsspirale – Bekenntnis zu Reformen: Ja, Umsetzung: Nein – müssen wir endlich herauskommen, es ist höchste Zeit! Bekenntnisse sind wichtig. Aber wir brauchen keine Bekenntniskultur, sondern die Bereitschaft zum Handeln, und zwar in allen Bereichen. Der Maßstab dafür, wie ernst wir es mit unserer so häufig beschworenen Zukunftsverantwortung meinen, darf nicht das Lippenbekenntnis sein, sondern allein die Handlung!
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel zum Thema Vorwurfsreflexe nennen: Als der "Spiegel" vor einigen Wochen über das Mautdebakel und andere so genannte Pannen berichtete, stand auf der Titelseite in fetten Lettern: "Lachnummer Deutschland". Und welche Personen waren neben der Titelzeile abgebildet? Ausschließlich Politiker. Die Wirtschaftselite, die Chefs der verantwortlichen Firmen – blieben außen vor. Politiker als Buhmänner der Nation – derlei Häme verkauft sich offenbar gut. Dass hier zugleich demokratieskeptische Stimmungen befördert werden, scheint die Redakteure nicht zu stören.
Ein von Medien- und Wirtschaftsleuten häufig strapazierter Vorwurf an die Politik lautet, sie sei zu zögerlich, zu langsam, zu ängstlich, ja schlichtweg handlungsunfähig. Politik, so die Forderung, solle sich endlich an der Schnelligkeit und Reichweite ökonomischer Entscheidungen und Prozesse orientieren und die eigene Langatmigkeit und Langsamkeit überwinden. Sie solle den Staat so umorganisieren und führen, wie erfolgreiche Unternehmer ihre Firmen – das Stichwort dafür ist die "Deutschland AG": Werde nur erst die Gesellschaft nach ökonomischen Kriterien ausgestaltet, sprich: der Sozialstaat ordentlich zurückgebaut, hätten wir schon bald wieder wirtschaftliches Wachstum, könnte der Staat seine Schulden abbauen, würde sich alles irgendwie regeln lassen.
Forderungen dieser Art sind schnell kommuniziert. Sie lassen sich gut auf Schlagzeilenformat reduzieren und viel leichter transportieren als komplexe sozialpolitische Zusammenhänge oder Sachverhalte aus dem parlamentarischen Entscheidungsprozess. Doch Vorsicht: Die Kritik an der Langsamkeit demokratischer Verfahren ist problematisch, schließlich stellt sie nicht weniger als die Legitimität demokratischer Verfahren selbst in Frage. Das Tempo demokratischer Entscheidungsprozesse ergibt sich nicht aus der Unfähigkeit oder Entscheidungsscheu von Parteien oder Politikern. Das gibt es zwar auch, aber ist nicht die Regel. Das Tempo ergibt sich vielmehr aus der Gewaltenteilung, aus dem Föderalismus, aus dem Mehrheitsprinzip, das dem Minderheitenschutz verpflichtet ist, aus der Gleichheit vor dem Gesetz und den Regeln des Rechtsstaats, die nicht zuletzt deshalb so kompliziert sind, weil sie der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso gerecht werden wollen wie der Spezifität jedes Einzelfalls.
Der Vorwurf der Langsamkeit greift an die Wurzeln der Demokratie, wenn nicht mehr vermittelbar ist, dass der Ausgleich von Interessen und das Aushandeln von Entscheidungen notwendig für den Zusammenhalt der Gesellschaft sind. Während die Horizonte der wirtschaftlichen Planung in den vergangenen Jahren immer kürzer geworden sind, hat es Politik vor allem auch mit der Entwicklung langfristiger Perspektiven zu tun. Die Schnelligkeit, ja Atemlosigkeit, mit welcher beispielsweise Vodafone und Mannesmann ihren milliardenschweren Pakt geschlossen haben, kann demokratische Politik sich nicht leisten. Der Preis, den sie zu zahlen hätte, hieße Verzicht auf die Grundregeln der Demokratie. Genau darin besteht der feine, doch folgenschwere Unterschied zwischen den Reichweiten und Geschwindigkeiten des wirtschaftlichen Handelns einerseits und des Handelns in der Politik andererseits.
Politische Bildung, so meine ich, muss diese Differenz erklären, denn sie ist vielen nicht bewusst. Und sie darf darüber hinaus durchaus auch als Beförderer der politischen Debatten unserer Zeit wirken. Der Bedarf an einem solchen Katalysator ist doch vorhanden: Noch immer reden und streiten wir vor allem über die Veränderung einzelner Instrumente, über neue Teil- und Zwischenlösungen, über Stellschrauben und Kurskorrekturen. Das ist ja auch alles wichtig. Aber die politische Perspektiven- und Zieldebatte, die unsere Gesellschaft so dringend braucht, die hat nach meiner Einschätzung noch gar nicht richtig begonnen.
Dabei brennen uns viele grundsätzliche Fragen unter den Nägeln: Welche Art von Gesellschaft wollen wir haben – in zehn, zwanzig Jahren? Auf welche Risiken müssen wir uns einstellen? Hat Gerechtigkeitspolitik auf lange Sicht überhaupt eine Chance? Ist es realistisch, am Sozialstaatsmodell festzuhalten, oder gehört der Sozialstaat nicht eher entsorgt – als linke Träumerei, als Utopie des 20. Jahrhunderts?
Einige Überlegungen dazu, insbesondere zur Gerechtigkeitsfrage, will ich beisteuern: Ich sage sehr pathetisch, weil es meine tiefe Überzeugung ist, dass der Sozialstaat die größte europäische Kulturleistung ist, dass dieser Sozialstaat unseren Kontinent mehr als alles andere von anderen Kontinenten in dieser Welt unterscheidet. Er ist in Deutschland in einer sehr langen, hundertzwanzigjährigen Geschichte entstanden, an der viele mitgewirkt haben: die Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften, die Kirchen ganz wesentlich, auch Konservative, man erinnere sich an Bismarck, viele aufgeklärte Unternehmer, die CDU nach dem Kriege, – er ist sozusagen eine raison d'être unseres Staates geworden. Die soziale Einhegung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen und der deutschen Demokratien beigetragen, die aktuellen Krise des Sozialstaats gefährdet deshalb auch die Grundlagen unserer Gesellschaft.
Für die Stabilität einer Demokratie ist soziale Gerechtigkeit eine wesentliche Bedingung, weil davon abhängt, ob diese von allen und insbesondere den schlechter gestellten Bürgerinnen und Bürgern als für ihr Leben dienlich und sinnvoll angesehen wird. Wenn das Gerechtigkeitsempfinden durch die Politik oder die wirtschaftlichen Verhältnisse systematisch verletzt wird, kann nicht erwartet werden, dass die demokratischen Regeln gestützt werden.
Insofern ist Gerechtigkeit eine wesentliche Legitimationsgrundlage des demokratischen Staates und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die politische Gemeinschaft einer Demokratie wird bei allen kulturellen Differenzen erst durch eine Übereinstimmung in Fragen der Gerechtigkeit gestiftet, das heißt durch eine wechselseitige Anerkennung von Rechten, die es den Menschen ermöglicht, neben ihrer Rolle als konkurrierender Marktteilnehmer die Rolle des kooperierenden Bürgers einzunehmen und den Standpunkt des Eigeninteresses hinter sich zu lassen.
Lange Zeit war die Gerechtigkeitsfrage vor allem eine Frage der gerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum durch Arbeit. Inzwischen wird diese "alte" Gerechtigkeitsfrage überlagert von der Frage der Teilhabe an Arbeit überhaupt. Die Massenarbeitslosigkeit ist insofern das größte Gerechtigkeitsproblem. Übrigens auch deshalb, weil durch sie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung, die am Arbeitseinkommen festgemacht sind, ebenfalls Not leiden. Nun sind wir mitten in einer Phase des Streits über Sozialstaatsrefomen und deren Verwirklichung. Wenn man so will, ist es ein Paradigmenwechsel. Weniger für die Ostdeutschen, die haben das in bestimmter Weise schon hinter sich, sondern für die Westdeutschen. Ich erinnere mich, dass ich früher gelegentlich mit neidvollem Staunen nach dem Westen geschaut habe und die Beobachtung gemacht habe, dass die sozialen Konflikte in der alten Bundesrepublik unter anderem deshalb so friedlich gelöst werden konnten, weil am Schluss immer irgendwie Zuwächse zu verteilen waren. Vielleicht nicht immer ganz gerecht, aber es waren Zuwächse zu verteilen.
Was aber passiert mit einer Gesellschaft und in einer Zeit, in der wir jetzt sind, wo Zuwächse nicht zu verteilen sind, weil es sie nicht gibt? Das ist ein fundamentaler Wechsel. Auch deshalb ist die Laune so schlecht und die Stimmung so mies im Lande. Das ist etwas, was ein Gutteil der Menschen in Deutschland nicht gewohnt ist. Man könnte das erläutern am Beispiel der Arbeitslosenversicherung, am Beispiel des Gesundheitswesens und so weiter und so fort. Ich will hier nicht die aktuelle Debatte führen: Aber die Frage steht doch im Raum und sie ist nicht nur von der Politik zu beantworten: Wie buchstabieren wir Gerechtigkeit, die so fundamental ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn diese Gerechtigkeit nicht mehr erreicht werden kann durch Verteilung von Zuwächsen, sondern auch durch das Verteilen von Risiken, von Chancen, von Verzicht? Also müssen wir die Kriterien für Gerechtigkeitspolitik reformulieren im Sinne einer fairen Verteilung von Rechten und Pflichten, von Chancen und Lasten.
Ich wünschte mir, dass diese Zusammenhänge sehr viel stärker öffentlich diskutiert und vermittelt würden – von den Anbietern politischer Bildungsarbeit, von den politischen Stiftungen, aber eben auch von den Interessenvertretern der Wirtschaft und von den Medien. Der Bedarf an Wertevermittlung, an Orientierung wird in Zeiten der Globalisierung und der ihnen eigenen neuen Unübersichtlichkeit noch erheblich steigen. Für die politische Bildung wird es künftig eher mehr zu tun geben als weniger. Da ist es wirklich ein Gewinn, wenn verschiedene Träger politischer Bildungsarbeit ihre Kräfte bündeln, wenn sie Partnerschaften in der Wirtschaft suchen, wenn sie alte Vorurteile aufgeben und bestimmte Fragestellungen gemeinsam angehen.
Die traditionellen Präsentations- und Diskursformen werden allerdings kaum ausreichen. Politische Bildung darf ruhig offener, moderner, attraktiver werden als bisher. Und sie darf vor allem jenen abstrakt belehrenden Charakter ablegen, der ihr in der Vergangenheit nicht immer ganz zu Unrecht nachgesagt worden ist. Diese Konferenz verstehe ich als Beispiel dafür, was heute möglich ist – nicht zuerst, weil das Erscheinungsbild dieser Veranstaltung mit all ihren "Event"-Elementen an Kongresse der großen Wirtschaftsverbände erinnert. Sondern vor allem, weil sie neue Wege geht und Chancen eröffnet – Chancen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und den klassischen Anbietern politischer Bildung, mithin Chancen dafür, dass die Einsicht befördert wird, dass Politik aufgrund ihrer Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl nach anderen Kriterien entscheidet und funktioniert als Wirtschaft.
Es muss Raum bleiben für eine demokratische Politik, die als gesellschaftliches Korrektiv für sozialen Ausgleich sorgt, die sich um eine gerechte Verteilung der öffentlichen Güter kümmert, die Mindeststandards in der Bildung definiert, die eine funktionierende Infrastruktur vorhält. Auch die Unternehmen profitieren davon, sie sind aber nicht in der Lage, diese Rahmenbedingungen zu organisieren und zu garantieren.
Deutschland ist mehr als ein Wirtschaftstandort und der Mensch ist mehr als bloß Produzent und Konsument. Wenn dieser wichtige Lehrsatz politischer Bildung auch Eingang in die Handlungsmaximen der Unternehmen findet, kann ich das nur begrüßen. Zukunftsverantwortung zu übernehmen heißt doch nichts anderes, als bei wirtschaftlichen Entscheidungen immer auch das Gemeinwohl im Blick zu haben, den sozialen Zusammenhalt zu befördern, Mitverantwortung für den sozialen Frieden zu übernehmen. Sollte diese Perspektive, diese Orientierung allerdings verloren gehen, kann auch nicht auf Dauer erfolgreich und in globalem Maßstab gewirtschaftet werden. Für die Vermittlung all dieser Zusammenhänge ist und bleibt politische Bildung von zentraler Bedeutung. Ich wünsche allen Teilnehmern dieser Tagung gute Gespräche, produktive Einsichten – und viele weitere ähnliche Begegnungen. Möge aus dem "Markt der Möglichkeiten", den ich hiermit eröffne, bald schon ein selbstverständlicher Ort der Kommunikation und des gemeinsamen Handelns werden.
In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind unüberwindlich scheinende Grenzen durchlässig geworden oder gar gefallen: zuerst die Berliner Mauer, dann die Grenze zwischen den beiden Weltsystemen und zuletzt, am 1. Mai, die alte Ostgrenze der Europäischen Union.
Einen – wie soll ich sagen – "Grenzdurchbruch" der besonderen Art gibt es heute im Rathaus Schöneberg zu bestaunen: Was hier, im Willy-Brandt-Saal, bröckelt, sind die Mauern im institutionellen Selbstverständnis von Politischer Bildung und Wirtschaft. Politische Bildung und Wirtschaft beginnen, ihre jahrzehntelang gepflegte Abschottung aufzubrechen. Sie nehmen einander endlich wahr, gehen aufeinander zu, organisieren einen ersten gemeinsamen "Markt der Möglichkeiten". Wer hätte das für möglich gehalten! Diese Konferenz wird von den Veranstaltern zwar noch vorsichtig als "Pilotprojekt" bezeichnet, aber immerhin: Es ist ein Ansatz. Und ich bin gespannt, was sich daraus entwickelt!
Die Berührungsferne, in welcher die Träger der Politischen Bildung und die Interessenvertretungen der Wirtschaft in der Vergangenheit agierten, ist gewiss nicht durch Absichtserklärungen oder Einzelaktionen aus der Welt zu schaffen. Denn wir haben es bei dieser Form von "Abschottung" mit einem strukturellen Problem zu tun, das es verdiente, selbst einmal thematisiert und untersucht zu werden. Dieses Kommunikationsdefizit zwischen wichtigen gesellschaftlichen Funktionsbereichen scheint geradezu ein "Markenzeichen" moderner Gesellschaften zu sein: Die Wirtschaft, die Medien, die Wissenschaften, die Politik, die Politische Bildung – sie wirken allzu häufig wie selbstreferenzielle Systeme, wie "Kommunikationsinseln", die, trotz gegenteiliger Beteuerungen, nur wenig miteinander zu tun haben, die bei der Bearbeitung ähnlicher Fragestellungen parallel agieren, statt sich zu vernetzen, die allzu häufig nur übereinander reden statt miteinander, und die im aktuellen Beschleunigungswettbewerb, dem die Medien, die Wirtschaft, die Politik und auch die Deutungswissenschaften unterliegen, bedenklich weit auseinanderdriften.
Diese Diagnose hat nichts mit Moralisieren zu tun. Es geht um Strukturen: um Strukturen der politischen Kommunikation, aber eben auch um Strukturen des Marktes, der Verwertbarkeit, der Effizienz – letztlich auch um Strukturen des Einflusses und der Macht. Diese Zusammenhänge aufzudecken, transparent zu machen, zu vermitteln, könnte und sollte durchaus eine Aufgabe der Politischen Bildung sein – die heutige Veranstaltung sehe ich als ermutigenden Schritt in diese Richtung. Dass es in diesen Fragen erheblichen Aufklärungsbedarf gibt, lässt sich tagtäglich beobachten – in unseren Debatten über die Zukunft des Sozialstaats, über die Notwendigkeit von Reformen und über die Rolle der gesellschaftlichen Subsysteme in diesem Prozess – der Politik, der Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Bildung. Wie und mit welchen Folgen diese Subsysteme kommunizieren, ist für viele nur schwer durchschaubar. Bisher scheint in der öffentlichen Wahrnehmung derjenige zu überzeugen, der die mediale Klaviatur am besten beherrscht und am schnellsten bedient.
Die argumentative Heftigkeit und Skandalisierung, mit der die Reformpolitik kommuniziert wird, ruft bei vielen Menschen Ärger, Politikverdruss und Politikmüdigkeit hervor. Diese Entwicklung ist besorgniserregend, schließlich kann sie die Substanz des demokratischen Grundkonsenses unserer Gesellschaft beschädigen.
Das einzige, was in den aktuellen Reformdebatten wirklich verlässlich funktioniert, ist der Vorwurfsreflex: Es ist immer der jeweils Andere, der verhindert, der beschädigt, der bremst, der versagt. Die Diskussion um die Ausbildungsplatzumlage liefert hierfür ein bezeichnendes Beispiel: Die Wirtschaft stellt zu wenig Ausbildungsplätze zur Verfügung, den Schwarzen Peter dafür bekommt aber die Politik zugeschoben. Darüber, dass wir mehr Ausbildungsplätze brauchen, sind sich zwar alle einig. Aber daraus Konsequenzen ziehen will scheinbar kaum jemand. Die Vorschläge aus der Politik werden von Teilen der Wirtschaft heftig kritisiert, ja torpediert, weil sie mögliche materielle Nachteile befürchten. Ich denke, aus dieser Widerspruchsspirale – Bekenntnis zu Reformen: Ja, Umsetzung: Nein – müssen wir endlich herauskommen, es ist höchste Zeit! Bekenntnisse sind wichtig. Aber wir brauchen keine Bekenntniskultur, sondern die Bereitschaft zum Handeln, und zwar in allen Bereichen. Der Maßstab dafür, wie ernst wir es mit unserer so häufig beschworenen Zukunftsverantwortung meinen, darf nicht das Lippenbekenntnis sein, sondern allein die Handlung!
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel zum Thema Vorwurfsreflexe nennen: Als der "Spiegel" vor einigen Wochen über das Mautdebakel und andere so genannte Pannen berichtete, stand auf der Titelseite in fetten Lettern: "Lachnummer Deutschland". Und welche Personen waren neben der Titelzeile abgebildet? Ausschließlich Politiker. Die Wirtschaftselite, die Chefs der verantwortlichen Firmen – blieben außen vor. Politiker als Buhmänner der Nation – derlei Häme verkauft sich offenbar gut. Dass hier zugleich demokratieskeptische Stimmungen befördert werden, scheint die Redakteure nicht zu stören.
Ein von Medien- und Wirtschaftsleuten häufig strapazierter Vorwurf an die Politik lautet, sie sei zu zögerlich, zu langsam, zu ängstlich, ja schlichtweg handlungsunfähig. Politik, so die Forderung, solle sich endlich an der Schnelligkeit und Reichweite ökonomischer Entscheidungen und Prozesse orientieren und die eigene Langatmigkeit und Langsamkeit überwinden. Sie solle den Staat so umorganisieren und führen, wie erfolgreiche Unternehmer ihre Firmen – das Stichwort dafür ist die "Deutschland AG": Werde nur erst die Gesellschaft nach ökonomischen Kriterien ausgestaltet, sprich: der Sozialstaat ordentlich zurückgebaut, hätten wir schon bald wieder wirtschaftliches Wachstum, könnte der Staat seine Schulden abbauen, würde sich alles irgendwie regeln lassen.
Forderungen dieser Art sind schnell kommuniziert. Sie lassen sich gut auf Schlagzeilenformat reduzieren und viel leichter transportieren als komplexe sozialpolitische Zusammenhänge oder Sachverhalte aus dem parlamentarischen Entscheidungsprozess. Doch Vorsicht: Die Kritik an der Langsamkeit demokratischer Verfahren ist problematisch, schließlich stellt sie nicht weniger als die Legitimität demokratischer Verfahren selbst in Frage. Das Tempo demokratischer Entscheidungsprozesse ergibt sich nicht aus der Unfähigkeit oder Entscheidungsscheu von Parteien oder Politikern. Das gibt es zwar auch, aber ist nicht die Regel. Das Tempo ergibt sich vielmehr aus der Gewaltenteilung, aus dem Föderalismus, aus dem Mehrheitsprinzip, das dem Minderheitenschutz verpflichtet ist, aus der Gleichheit vor dem Gesetz und den Regeln des Rechtsstaats, die nicht zuletzt deshalb so kompliziert sind, weil sie der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso gerecht werden wollen wie der Spezifität jedes Einzelfalls.
Der Vorwurf der Langsamkeit greift an die Wurzeln der Demokratie, wenn nicht mehr vermittelbar ist, dass der Ausgleich von Interessen und das Aushandeln von Entscheidungen notwendig für den Zusammenhalt der Gesellschaft sind. Während die Horizonte der wirtschaftlichen Planung in den vergangenen Jahren immer kürzer geworden sind, hat es Politik vor allem auch mit der Entwicklung langfristiger Perspektiven zu tun. Die Schnelligkeit, ja Atemlosigkeit, mit welcher beispielsweise Vodafone und Mannesmann ihren milliardenschweren Pakt geschlossen haben, kann demokratische Politik sich nicht leisten. Der Preis, den sie zu zahlen hätte, hieße Verzicht auf die Grundregeln der Demokratie. Genau darin besteht der feine, doch folgenschwere Unterschied zwischen den Reichweiten und Geschwindigkeiten des wirtschaftlichen Handelns einerseits und des Handelns in der Politik andererseits.
Politische Bildung, so meine ich, muss diese Differenz erklären, denn sie ist vielen nicht bewusst. Und sie darf darüber hinaus durchaus auch als Beförderer der politischen Debatten unserer Zeit wirken. Der Bedarf an einem solchen Katalysator ist doch vorhanden: Noch immer reden und streiten wir vor allem über die Veränderung einzelner Instrumente, über neue Teil- und Zwischenlösungen, über Stellschrauben und Kurskorrekturen. Das ist ja auch alles wichtig. Aber die politische Perspektiven- und Zieldebatte, die unsere Gesellschaft so dringend braucht, die hat nach meiner Einschätzung noch gar nicht richtig begonnen.
Dabei brennen uns viele grundsätzliche Fragen unter den Nägeln: Welche Art von Gesellschaft wollen wir haben – in zehn, zwanzig Jahren? Auf welche Risiken müssen wir uns einstellen? Hat Gerechtigkeitspolitik auf lange Sicht überhaupt eine Chance? Ist es realistisch, am Sozialstaatsmodell festzuhalten, oder gehört der Sozialstaat nicht eher entsorgt – als linke Träumerei, als Utopie des 20. Jahrhunderts?
Einige Überlegungen dazu, insbesondere zur Gerechtigkeitsfrage, will ich beisteuern: Ich sage sehr pathetisch, weil es meine tiefe Überzeugung ist, dass der Sozialstaat die größte europäische Kulturleistung ist, dass dieser Sozialstaat unseren Kontinent mehr als alles andere von anderen Kontinenten in dieser Welt unterscheidet. Er ist in Deutschland in einer sehr langen, hundertzwanzigjährigen Geschichte entstanden, an der viele mitgewirkt haben: die Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften, die Kirchen ganz wesentlich, auch Konservative, man erinnere sich an Bismarck, viele aufgeklärte Unternehmer, die CDU nach dem Kriege, – er ist sozusagen eine raison d'être unseres Staates geworden. Die soziale Einhegung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen und der deutschen Demokratien beigetragen, die aktuellen Krise des Sozialstaats gefährdet deshalb auch die Grundlagen unserer Gesellschaft.
Für die Stabilität einer Demokratie ist soziale Gerechtigkeit eine wesentliche Bedingung, weil davon abhängt, ob diese von allen und insbesondere den schlechter gestellten Bürgerinnen und Bürgern als für ihr Leben dienlich und sinnvoll angesehen wird. Wenn das Gerechtigkeitsempfinden durch die Politik oder die wirtschaftlichen Verhältnisse systematisch verletzt wird, kann nicht erwartet werden, dass die demokratischen Regeln gestützt werden.
Insofern ist Gerechtigkeit eine wesentliche Legitimationsgrundlage des demokratischen Staates und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die politische Gemeinschaft einer Demokratie wird bei allen kulturellen Differenzen erst durch eine Übereinstimmung in Fragen der Gerechtigkeit gestiftet, das heißt durch eine wechselseitige Anerkennung von Rechten, die es den Menschen ermöglicht, neben ihrer Rolle als konkurrierender Marktteilnehmer die Rolle des kooperierenden Bürgers einzunehmen und den Standpunkt des Eigeninteresses hinter sich zu lassen.
Lange Zeit war die Gerechtigkeitsfrage vor allem eine Frage der gerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum durch Arbeit. Inzwischen wird diese "alte" Gerechtigkeitsfrage überlagert von der Frage der Teilhabe an Arbeit überhaupt. Die Massenarbeitslosigkeit ist insofern das größte Gerechtigkeitsproblem. Übrigens auch deshalb, weil durch sie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung, die am Arbeitseinkommen festgemacht sind, ebenfalls Not leiden. Nun sind wir mitten in einer Phase des Streits über Sozialstaatsrefomen und deren Verwirklichung. Wenn man so will, ist es ein Paradigmenwechsel. Weniger für die Ostdeutschen, die haben das in bestimmter Weise schon hinter sich, sondern für die Westdeutschen. Ich erinnere mich, dass ich früher gelegentlich mit neidvollem Staunen nach dem Westen geschaut habe und die Beobachtung gemacht habe, dass die sozialen Konflikte in der alten Bundesrepublik unter anderem deshalb so friedlich gelöst werden konnten, weil am Schluss immer irgendwie Zuwächse zu verteilen waren. Vielleicht nicht immer ganz gerecht, aber es waren Zuwächse zu verteilen.
Was aber passiert mit einer Gesellschaft und in einer Zeit, in der wir jetzt sind, wo Zuwächse nicht zu verteilen sind, weil es sie nicht gibt? Das ist ein fundamentaler Wechsel. Auch deshalb ist die Laune so schlecht und die Stimmung so mies im Lande. Das ist etwas, was ein Gutteil der Menschen in Deutschland nicht gewohnt ist. Man könnte das erläutern am Beispiel der Arbeitslosenversicherung, am Beispiel des Gesundheitswesens und so weiter und so fort. Ich will hier nicht die aktuelle Debatte führen: Aber die Frage steht doch im Raum und sie ist nicht nur von der Politik zu beantworten: Wie buchstabieren wir Gerechtigkeit, die so fundamental ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn diese Gerechtigkeit nicht mehr erreicht werden kann durch Verteilung von Zuwächsen, sondern auch durch das Verteilen von Risiken, von Chancen, von Verzicht? Also müssen wir die Kriterien für Gerechtigkeitspolitik reformulieren im Sinne einer fairen Verteilung von Rechten und Pflichten, von Chancen und Lasten.
Ich wünschte mir, dass diese Zusammenhänge sehr viel stärker öffentlich diskutiert und vermittelt würden – von den Anbietern politischer Bildungsarbeit, von den politischen Stiftungen, aber eben auch von den Interessenvertretern der Wirtschaft und von den Medien. Der Bedarf an Wertevermittlung, an Orientierung wird in Zeiten der Globalisierung und der ihnen eigenen neuen Unübersichtlichkeit noch erheblich steigen. Für die politische Bildung wird es künftig eher mehr zu tun geben als weniger. Da ist es wirklich ein Gewinn, wenn verschiedene Träger politischer Bildungsarbeit ihre Kräfte bündeln, wenn sie Partnerschaften in der Wirtschaft suchen, wenn sie alte Vorurteile aufgeben und bestimmte Fragestellungen gemeinsam angehen.
Die traditionellen Präsentations- und Diskursformen werden allerdings kaum ausreichen. Politische Bildung darf ruhig offener, moderner, attraktiver werden als bisher. Und sie darf vor allem jenen abstrakt belehrenden Charakter ablegen, der ihr in der Vergangenheit nicht immer ganz zu Unrecht nachgesagt worden ist. Diese Konferenz verstehe ich als Beispiel dafür, was heute möglich ist – nicht zuerst, weil das Erscheinungsbild dieser Veranstaltung mit all ihren "Event"-Elementen an Kongresse der großen Wirtschaftsverbände erinnert. Sondern vor allem, weil sie neue Wege geht und Chancen eröffnet – Chancen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und den klassischen Anbietern politischer Bildung, mithin Chancen dafür, dass die Einsicht befördert wird, dass Politik aufgrund ihrer Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl nach anderen Kriterien entscheidet und funktioniert als Wirtschaft.
Es muss Raum bleiben für eine demokratische Politik, die als gesellschaftliches Korrektiv für sozialen Ausgleich sorgt, die sich um eine gerechte Verteilung der öffentlichen Güter kümmert, die Mindeststandards in der Bildung definiert, die eine funktionierende Infrastruktur vorhält. Auch die Unternehmen profitieren davon, sie sind aber nicht in der Lage, diese Rahmenbedingungen zu organisieren und zu garantieren.
Deutschland ist mehr als ein Wirtschaftstandort und der Mensch ist mehr als bloß Produzent und Konsument. Wenn dieser wichtige Lehrsatz politischer Bildung auch Eingang in die Handlungsmaximen der Unternehmen findet, kann ich das nur begrüßen. Zukunftsverantwortung zu übernehmen heißt doch nichts anderes, als bei wirtschaftlichen Entscheidungen immer auch das Gemeinwohl im Blick zu haben, den sozialen Zusammenhalt zu befördern, Mitverantwortung für den sozialen Frieden zu übernehmen. Sollte diese Perspektive, diese Orientierung allerdings verloren gehen, kann auch nicht auf Dauer erfolgreich und in globalem Maßstab gewirtschaftet werden. Für die Vermittlung all dieser Zusammenhänge ist und bleibt politische Bildung von zentraler Bedeutung. Ich wünsche allen Teilnehmern dieser Tagung gute Gespräche, produktive Einsichten – und viele weitere ähnliche Begegnungen. Möge aus dem "Markt der Möglichkeiten", den ich hiermit eröffne, bald schon ein selbstverständlicher Ort der Kommunikation und des gemeinsamen Handelns werden.
Quelle:
http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2004/009a