Reden des
Bundestagspräsidenten
Reden 2004
19.06.2004
Biblischer Impuls im Rahmen des 95. Deutschen Katholikentages in
Ulm am Samstag, den 19. Juni 2004, um 9.00 Uhr im Ulmer
Münster zu "Jesu Ruf zur Nachfolge" (Markus 8, 34-38) von
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
(Musik)
Von der Dialektik des Lebens
Von der Dialektik des Lebens
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Katholikentages!
Vor 6 Tagen war Europa-Wahl, die erste fast gesamteuropäische Wahl zu einem gemeinsamen Parlament. Eigentlich ein historisches Ereignis. Aber das Interesse daran war niederschmetternd gering; bei uns und ringsum in den alten und neuen EU-Ländern eine beschämende Wahlbeteiligung, kein demokratischer Höhepunkt, sondern ein Tiefpunkt.
Was ist los mit uns in Europa, vor allem auch in Deutschland? Wir erleben historisches Glück: Wiedervereinigt in einem alles in allem reichen und wohlhabenden Land; in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn "ja" gesagt haben, gewissermaßen umzingelt von Freunden, in Frieden mit allen unseren Nachbarn - wann hat es das jemals in der deutschen Geschichte gegeben! Das ist - so mein Empfinden - ein historisches Glück. Aber die Stimmung im Lande verrät davon nichts. Enttäuschung, Verärgerung, Klage und Wut dominieren und vor allem Angst, Zukunftsangst. Soziale Verunsicherung und existenzielle Besorgnis sind verbreitet - von den Alten bis zu den Jungen. Ich erlebe das nicht nur bei Wahlkampfveranstaltungen, sondern in vielen Diskussionen und Gesprächen, gerade auch mit jungen Leuten: weniger Zukunftshoffnung und das Erkennen von Chancen in den gegenwärtigen Veränderungen, sondern Verlustängste, Überforderungsängste, das Empfinden von Veränderungen als Bedrohung und weniger als Herausforderung - das ist zu spüren und dass man es auch und gerade bei jungen Menschen spürt, das halte ich für besonders erschreckend.
Ja, wir haben in unserem Land große ökonomische und soziale Probleme zu bewältigen; wir stecken inmitten kräftiger, auch schmerzender Veränderungen; es gibt viel (partei-)politischen Streit darüber; den einen ist alles zu wenig und zu langsam, den anderen ist alles zu schnell und zu viel. Gewiss, das ist so und eigentlich für niemanden ein Quell der Freude. Aber - darf man so fragen? - ist die Angst nicht größer und lähmender, als es die großen und schlimmen Probleme in unserem Lande selbst sind?
Von "German Angst" spricht man im Ausland mit Blick auf unsere kollektive Gefühlslage. Angst wovor? Ist das eine kollektive, eine nationale Lebensangst? Ist es die Angst vor der Politik als solcher? Angst vor den realen Folgen der Politik - einer Politik, die erst falsche Versprechungen von blühenden Landschaften und immerwährendem Wohlstand aufbläst, und dann an der Realität scheitern muss? Angst vor einer Politik, die auch seriöseste und honorabelste Entscheidungen so erscheinen lässt, als ginge es den Beteiligten und Erfolgreichen nur um Macht oder Machtwechsel? Ich will jetzt keinen von uns Politikerinnen und Politikern freisprechen. Dass junge Menschen im Blick auf ihre Zukunft, die Zukunft ihrer beruflichen Chancen, die Zukunft ihrer Umwelt von uns Politikern gegenwärtig offensichtlich wenig Hoffnung und Zuversicht vermittelt bekommen, ist nicht zu leugnen.
Also: Steuern runter, Sozialabgaben runter, Regelungen für den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt, den Export - einfach aufheben, Restriktionen für die Nutzung von Umweltressourcen oder für die Forschung - Genforschung zuerst - ebenfalls weg - und fort ist die Angst? Fort ist die Depression, die Miesmacherei, und der ultimative Aufschwung kommt, die Glücksspirale dreht sich nach oben? Die endlose Regulierungswut unserer Bürokratie gerade gegenüber der Umwelt schaffe ja erst die Angst der notorischen Bedenkenträger - so behauptet man! Also Deregulierung und Flexibilisierung um jeden Preis, als Wunderwaffe?!
Man glaube nicht, dass ich hier karikiere. Diese Meinung vertreten wichtige Medien und Kommentatoren auf nationalem wie auf internationalem Parkett. Es gibt ja auch Politiker in unserem Lande, die so argumentieren. Nur - die jungen Leute, die ich vor Augen habe, die werden durch solche schönen Worte nicht mitgerissen. Die Versprechungen eines konsequenten wirtschaftlichen Liberalismus schlagen offenkundig auch und gerade bei denen nicht durch, die doch am heftigsten davon aufgerüttelt und motiviert werden sollen. Junge Menschen im Westen wie auch im Osten unseres Landes spüren sehr genau, dass ein Rechts- und Sozialstaat wie Deutschland nicht durch solch einfache Rezepte reformiert werden kann, wie sie zum Beispiel George W. Bush in den USA seinen Wählern vor vier Jahren versprochen hat.
Was aber ist zu tun gegen die spürbare Angst in unserem Lande? Gegen Wut und Enttäuschung, gegen zunehmende Politik- und Demokratieverachtung? Es sollte durch unser Land ein Ruck gehen, hat schon vor Jahren der damalige Bundespräsident Roman Herzog gefordert. Seitdem hat Professor Herzog nicht erkennen lassen, dass sein damaliger Wunsch Wirklichkeit geworden wäre. Wir sehen: allein durch Hoffen auf wirtschaftliche Erholung, auf ein positives Ansteigen der Marktdaten geschieht noch keine grundsätzliche tiefgreifende Änderung. Korrekturen an Steuersätzen und Abgaben haben nicht den Effekt gehabt, den wir noch vor wenigen Monaten erwartet hatten. Die Arbeitslosigkeit ist nicht beseitigt, die schon gar nicht, aber auch die Lähmung und die tiefsitzende Angst nicht.
In solcher Situation kommen wir zu einem Katholikentag zusammen, dessen Leitwort trotzig und ermunternd heißt: "Leben aus Gottes Kraft". Mitgenommen noch von einem katastrophalen Wahlergebnis für meine Partei, ganz beschäftigt mit den schier überwältigenden, auch mir Ängste einflößenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Landes muss und darf ich mich mit einem Bibeltext befassen, den die Leitung des Katholikentages uns für heute vorgibt. Einen Bibeltext, der Klartext redet, der benennt, was die Angst ausmacht. Und der etwas dagegen auszusagen hat - allerdings etwas recht Radikales.
Hören wir zunächst diesen Bibeltext, der uns heute vorgegeben ist. Er steht im Evangelium des Markus im 8. Kapitel, die Verse 34 - 38.
(Lesung des Textes)
Jesu Ruf zur Nachfolge.
34 Er [Jesus] rief die Volksmenge und seine Jünger zu sich und sagte: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. 35 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten. 36 Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? 37 Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben zurückkaufen? 38 Denn wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommt."
Da wollen junge Menschen einen geraden Weg gehen, einen Weg, der überschaubar ist, der keine Winkelzüge verlangt, keine Abwege, keine trickreichen Umwege. Sie spüren, dass sie so schnell ins Unübersichtliche gelangen, ins Undurchblickbare, dass da so viele Wegweiser stehen, für ein Ziel so ganz komplexe und gegensätzliche Wege vorgeschlagen werden. Und deswegen wollen sie einen eigenen Weg finden, der ihrem eigenen Willen entspricht, ihren eigenen Kräften, ihren eigenen Visionen. Da wollen junge Menschen ganz zu sich selbst stehen können, sich nicht verbiegen lassen, ihre Grundüberzeugung nicht verleugnen müssen, sich keine Lasten oder Belastungen auferlegen lassen, die andere verursacht haben. Da wollen junge Menschen ihr eigenes Leben für sich gewinnen, selbst spüren, was ihr Leben ausmacht, die eigenen Bilder vom Leben entdecken, entwerfen, ausmalen, farbig gestalten, fassbar, fühlbar machen. Leben, das ganze Leben meinen sie.
Diese jungen Menschen haben nun Angst, dass man ihre eigenen Wege abschneiden möchte, ihnen Lasten auferlegen will, die ihnen nicht zugehören, dass man ihnen Bilder, Überzeugungen, Visionen aufdrücken will, die nicht ihre eigenen sind. Junge Menschen gehen mit viel offeneren Augen durch ihren Alltag, als wir Ältere. Welches Bild vom Leben präsentiert ihnen z.B. die Werbung für Zigaretten? Welche Vision von Leben sitzt am Lenkrad des neuen Sportcabrios? Welche Grundüberzeugung vermittelt die Werbung einer Bank: "Mein Auto, mein Haus, mein Boot"? Und welche Tugend vermittelt der grelle Reklame-Slogan "Geiz ist geil"? Welchen Weg ins Leben vermittelt die Stellenanzeige von McKinsey? Das ganze schöne Leben soll dann noch kreditfinanziert werden - so die Werbung einer Direktbank. Welche Lasten lädt man da jungen Menschen auf? Ist es da nicht eine sehr gesunde Reaktion, dass junge Menschen sich zurückziehen, dem Anspruch von außen Abwehr gegenübersetzen, der massiven und aggressiven Werbung gegenüber schlicht Angst entwickeln?
Müsste nicht Jesus, müsste nicht seine Kirche der Anwalt all derer sein, die mit Recht Angst haben vor den psychologisch durchrationalisierten Werbestrategien der Moderne? Trifft es wieder einmal die Opfer der eigensüchtigen, aggressiven Indifferenz der Postmoderne und nicht die Täter? Und nun unser Bibeltext. Ich sagte schon - starke Worte, Worte, die man von Jesus so nicht erwartet hätte. "Verleugnen", "Kreuz tragen", "Leben verlieren" wird da verlangt.
In der Tat - es wird etwas Anstößiges gesagt. Sehr klar und verständlich, wenn auch der Beginn und das Ende unseres Textes zuerst schockieren. Da sagt Jesus in der Mitte seiner Rede ganz schlicht in Vers 36 und 37:
"36 Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? 37 Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben zurückkaufen?"
Das erste Zentrum steht also fest: das Leben des Menschen als solches. Der Evangelist Markus hat in seinem Griechisch das Wort "Psycháe" gebraucht. Jesus hat im Aramäischen sicherlich den Begriff "Näfäsch" verwendet - Seele und Leib zusammen, das Leben des Menschen in seinem Kern! Dieses Leben gilt es wertzuschätzen, zu gewichten als den höchsten Wert dieser Welt. Keine Geldsumme, kein Goldschatz, kein Kunstwerk, kein Land dieser Erde wiegt das Leben eines Menschen auf. Nichts kann als Gegenwert für ein Menschenleben gerechnet werden. Nicht die Werte, die ein Mensch schaffen kann, nicht die Rendite, die Lebensversicherung, die Karriere, die guten Werke, die Reichtümer, die Patente, die einer oder eine sammelt. Man kann einen Menschen nicht aufwiegen mit Gold, man kann ihn nicht einkaufen für einen noch so hohen Preis. Der Wert des Menschen ist für uns Menschen unschätzbar und uneinholbar.
Es ist entscheidend wichtig, dass Jesus im Zentrum seiner Rede dies unverbrüchlich klarmacht: Der Mensch kann sich selbst an Wert nicht überholen, nicht überbieten. Er selbst, Jesus steht dafür ein. Es kann keinen Gegenwert für das Leben geben: Sicherheit, Freiheit, Aufschwung, Konkurrenz, Zuwachsrate, Profit, Image, Beliebtheit, Wählergunst. Bei Gott hat jeder Mensch den Wert der ganzen Welt. Ist das nicht ein erster Markstein gegen die Angst? Ist das nicht ein fester Halt in allen Wertediskursen, in allen postmodernen Begründungsproblemen? Wert hat der Mensch an sich - ob er nun Arbeit hat oder nicht, ob er nun Priester ist oder Laie, ob pflegebedürftig, minderjährig, unvermögend. Es gibt keine Bedingungen, keine Maßstäbe, keine Relativierungen für Leben. Der Wert des Lebens ist nicht den Gesetzen von Macht und Gewalt unterworfen, auch nicht den Gesetzen von Markt und Marktwert, nicht den Gesetzen von Schönheit und Attraktion. Der Mensch ist mehr und anderes als Arbeitskraft und Konsument - das sind die beiden Rollen, die er auf dem Markt "spielt", "spielen" muss. Er darf aber nicht darauf reduziert werden, nicht nur und allein an seiner Leistungsfähigkeit als Arbeitskraft und Konsument gemessen werden. Das gehört zum Kern des biblischen, des christlichen Menschenbildes: Menschliches Leben ist Wert in sich und darf deswegen auch nicht zu einem Mittel gemacht werden. Es darf auch keinen Zweck geben, der über diesem absoluten Wert des menschlichen Lebens stünde.
Ganz apodiktisch ist Jesus an dieser Stelle. Sätze wie in Stein gemeißelt. Da gibt es keine philosophische oder theologische Herleitung, da gibt es keine Begründung, die später zu einer Bedingung umgedeutet werden könnte, die zu Relativierungen genutzt werden könnte. Der Mensch ist vor Gott nicht erst dann etwas wert, wenn er etwas tut oder sagt, bewirkt oder schafft, wirkt oder unterlässt.
Aber was heißt das, wenn Jesus so apodiktisch erklärt, wenn er etwas so unvermittelt setzt - ist es nicht so, dass in der Welt und in der Geschichte noch ganz andere Kräfte und Wahrheiten walten? Kann ein solches Jesuswort vom unbedingten Wert des Menschen ein letztes Wort über uns sein? Gilt es nicht, auch dieses Jesuswort vor der Wahrheit als solcher, vor der Geschichte als solcher zu verantworten?
Liebe Freunde, ich will hier nicht philosophisch reden, obwohl es verführerisch wäre, weit auszuholen und über die Bedingung der Ermöglichung von Wahrheit zu sprechen. Etwa über die Schwierigkeit, eine solche Grundaussage unter den geistigen Bedingungen der Postmoderne verifizieren zu können. Und glaube niemand, dass eine solche Aufgabe trivial oder überholt wäre. Ich erinnere nur an die Debatte um die Forschung am menschlichen Genom. Wann ist Samenzelle und Eizelle menschliches Leben? Gibt es ein potentielles, noch nicht als solches zu wertendes Leben, gibt es einen klar zu definierenden Zeitpunkt für Leben? Es scheint so zu sein, dass ein kategorisch geltender Satz allgemeiner Gültigkeit über alle Denkschulen hinweg z.B. zur Definition des Begriffes Leben gegenwärtig nicht zu formulieren ist.
Auch Jesus scheint gespürt zu haben, dass seine Worte über das Leben und seinen uneinholbaren Wert so klar und apodiktisch sind, dass sie nach eine Autorisierung verlangen. So fährt er fort in Vers 38:
"38 Denn wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommt."
Eine apokalyptische Rede, rabiat und radikal, gekleidet in hochtheologische Bilder und Visionen. Aber eine klare Aussage: Jesus ist der Menschensohn, der Gesandte Gottes, der erscheinen wird in der Herrlichkeit Gottes, seines Vaters. An der Stellung zu diesem Menschensohn und seinen Worten entscheidet sich die Stellung des Einzelnen in der Zukunft Gottes. Konkret: wer das Wort Jesu vom uneinholbaren Wert des Menschen entkräften will, wer Jesu radikales Wort vom Wert des Menschen in Zweifel zieht, der muss sich vor Gott selbst verantworten.
Das ist es vor allem: Von Gott selbst ist beglaubigt, dass es jetzt und in alle Zukunft keinen höheren Wert gibt als den Menschen als solchen. Keinen höheren Wert als den konkreten gegenwärtigen Menschen. Als Dich und mich, als Mann und Frau, als Säugling oder Sterbender, als Geliebter oder Verlassener. Ist das nicht das stärkste Argument gegen die Angst? Jeder Mensch - gleicher Würde und unendlich gleichen Wertes vor Gott? Ich muss weder mir noch Gott erst noch etwas beweisen, ich muss nicht erst noch etwas werden, etwas haben. Ich bin schon im Sein, wie es der große Philosoph Erich Fromm formuliert hat. Es muss keine Angst mehr geben, zu versagen - gegenüber dem Anspruch meiner Begabung, meiner Geschichte, meiner Familie. Kein Vater, keine Mutter kann mir mehr geben, kann mir etwas nehmen, kann mehr von mir verlangen, als ich bereits von und vor Gott habe und bin. Keine Karriere, keine Leistung kann mir mehr verdienen, als ich bereits vor Gott besitze.
"The german Angst" - im Ausland vielfach analysiert, auf seine mythischen Wurzeln hin befragt, nie ganz erklärt. Wir Deutschen sind uns ja stets selbst ein Rätsel, ob unserer irrationalen Ängste, unseres Umgetriebenseins, unserer Unruhe mit uns selbst. Auch gegenwärtig ist es irritierend, warum junge Menschen in dieser Vielzahl von Selbstzweifel, Versagensfurcht, Zukunftsangst geplagt sind. Ein schlichtes und probates Mittel dagegen gibt es nicht. Aber versuchen wir es einmal mit diesen alten Sätzen aus der Bibel, mit diesem Wort Jesu vom Wert des Menschen, des Einzelnen, vom unendlichen Wert, der dir zukommt und mir. Lassen wir dieses Wort jetzt wirken, umkreisen wir es in Gedanken, versuchen wir ein inneres Bild zu finden für diesen Zuspruch. Wir werden dann in den nächsten beiden Schritten sehen, dass Jesus noch zwei gewichtige Überraschungen hat - für uns als Menschen schlechthin und dann für uns als Christinnen und Christen.
(Musik)
Es ist nun von der Mitte des Jesuswortes und seiner apokalyptischen, endzeitlichen Begründung her klar: entscheidend ist der Zuspruch Jesu vom uneinholbaren Wert des Menschen. Gegen alle Angst, unterzugehen im Strudel der Wertdefinitionen, der Wahrheitsdiskurse, der uneinlösbaren Qualitätsansprüche, der Erfolgsvorgaben, der Leistungsanforderungen, der Einkommensvorstellungen, der Konsumzwänge, der Profitnormen - die einfache Botschaft vom gleichen Wert des Menschen! Weil dies nun unverrückbar in der Mitte steht, können wir uns dem Beginn des Jesuswortes zuwenden.
"34 Er [Jesus] rief die Volksmenge und seine Jünger zu sich und sagte: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.
35 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten."
Auf den ersten Blick in der Tat eine herbe Überraschung: wo Jesus doch im Zentrum seines Wortes den einzigartigen Wert des Menschenlebens gewürdigt hat, nun auf einmal das schiere Gegenteil. Das, was das Menschenleben ausmacht, soll auf ein Mal verleugnet werden, verloren gegeben werden, es soll statt des Lebens das Kreuz auf sich genommen werden. Wer dies Wort so unvermittelt hört, muss mit Recht erschrecken. Er muss an alles glauben - nur nicht daran, dass Jesus das Leben ja gerade herausheben will, stärken und ins Recht setzen will, helfen will, dass Leben ergriffen und genossen - ja zuallererst gelebt werden will. Leider hat unsere Kirche nicht immer und intensiv genug mitgeholfen, diesen Jesusglauben an das Leben zu stärken und zu fördern. Im Gegenteil: man hat bewirkt, dass die Menschen glaubten, Jesus wolle schlichtweg die reine Selbstverleugnung, Jesus wolle Leben als Leiden, für Jesus sei nur der Lebensverlust das wahre Leben. Man hat die Verse, die gerade gelesen wurden, aus dem Zusammenhang gerissen, einzeln gestellt, nicht von ihrem Zentrum in der klaren Lebensbejahung Jesu her erklärt. Man hat in den Kirchen nicht das Leben gezeigt, sondern den Tod. Nicht das schöne katholische Gold-Gelb der Auferstehung und des Lebens, sondern Tod, Kreuz, Leid in den Mittelpunkt gerückt. In der Kunst unserer Kirchen, in der Architektur, der Farbgebung, der Musik, den Priestergewändern, den Liturgien - es herrschte häufig Dunkel, Leid und Kreuz. Statt Feier, Tanz, Begeisterung, Lachen dominierte nicht selten der strenge Ernst einer Begräbnismesse. Statt katholischer Lebensfreude herrschte eine Düsternis vor, die protestantischer ist als bei den Protestanten.
Das schlägt sich dann auch in den Ansprachen und Predigten nieder, die wir zu hören bekommen. Wie steht es mit der frohen Botschaft der Lebensbejahung in unserer Kirche, mit der Liturgie als Ausdruck der Lebens- und Gottes-Freude? Dass man oftmals rein politisch und meist nur noch ethisch begründend predigt, verzeihe ich den meisten ja noch. Aber - lassen Sie mich hoffnungsvoll in der Vergangenheitsform reden - dass man Lebensfreude verdammte, dass man nur von Verleugnung redete, dass man jungen Menschen die sich anbahnenden Lebenskräfte verdächtigte, dass man die aufkeimende Sexualität als solche unter das Verdikt der Sünde stellte, dass man die Freude der Eheleute aneinander nur zum Zwecke der Kinderzeugung dulden mochte, das kann doch nicht wirklich katholisch, nicht wirklich christlich, nicht wirklich jesusgemäß sein! Folge sind dann junge Menschen, die mit dunklem, angsterfülltem Blick das Leben sehen, die Zukunft gar nicht mehr anschauen wollen. Angst vor der Religion und religiöse Neurosen sind unter jungen Menschen auch und gerade in der Kirche leider gar nicht so selten!
Nicht Unheil, nicht Sünde, sondern etwas völlig anderes ist es aber, wenn ein junger Mensch entdeckt, dass die plötzlich in ihm aufblühenden Energien nicht für sich selbst bleiben können, sondern andere anzustecken beginnen, in ihren Bann zu ziehen beginnen. Wenn eine junge heranwachsende Frau plötzlich entdeckt, dass ihre sich entwickelnde Schönheit einen anderen Menschen berührt, wenn da Gefühle wachsen, wenn Gespräche sich entwickeln, wenn man nicht nur das Äußere sehen kann, sondern auf einmal Briefe schreibt, lange Telefonate führt, über Distanzen sich verbunden fühlen kann, wird dies zu einer ganz tiefen Erfahrung ihrer selbst - aber gerade darin zu einer Erfahrung des anderen. Gerade weil sich diese junge Frau, dieser junge Mann sich im gegenseitigen Ansehen schön finden können, aber auch ernst genommen, angenommen, später hoffentlich geliebt - deswegen können sie nun auch absehen allein von sich selbst. Sie - und hoffentlich auch er! - sie beide können sich ein Leben vorstellen, dass nicht mehr nur sich selbst gewidmet ist, sondern das Liebe wird und Hingabe des Selbst an den anderen.
Eine solche Hingabe und ein solches Liebesopfer kann nicht befohlen werden, kann nicht durch äußere Tricks oder Methoden erzwungen werden. Es ist das Geheimnis der Liebe als solcher, es ist die Wirkung eines geheimnisvollen Funkens, der Leben verwandelt und völlig verändert. Freiwillig, ohne Zwang, ohne Druck, und: ohne Angst! Wer wirklich liebt, hat keine Angst mehr vor der Zukunft, trägt keine Bedenken mehr, braucht keine Sicherungen und Normen mehr. In der Liebe herrscht nicht das Gesetz! Der Funke der Liebe führt Menschen dazu, sich selbst zu verlieren, sich in ihrem bisherigen Selbst schier zu verleugnen, um sich und den anderen umso schöner wieder zu finden. Dieser Funke der Liebe kann jeden Menschen entzünden, und ich wünsche es auch jedem!
So wie der Funke der Liebe, so kann aber auch eine besondere Begabung Menschen in ihren Bann ziehen, so stark, dass Menschen sich schier aufgeben, sich dieser Gabe hingeben, sich völlig verleugnen und den Dienst dieser Begabung freiwillig und begeistert auf sich nehmen. Musikerinnen und Musiker, Künstler als solche, die von ihrer Kunst gepackt werden. Literaten, Wissenschaftler, Ärzte, die völlig aufgehen in ihrer Aufgabe, die Stunden und Tage nicht mehr zählen, die sie durchgehend am Schreibtisch, im Labor, am Krankenbett verbringen. Und die spüren, dass sie andere Menschen werden: Menschen, die sich ganz hingeben. Menschen, die aber gerade darin so viel bekommen: Begeisterung, Erfolg, Dank, Glück. Auch wenn sich das in Euro und Cent nicht ausdrückt. Es ist ein lebensumwälzendes Gefühl, eine Aufgabe und Begabung so leben zu können, dass anderes seinen Wert verliert, allein dieser Funke des Wesentlichen das Leben wärmt und bescheint.
Johann Wolfgang von Goethe hat das, was ich hier meine, einmal unvergleichlich in Verse gefasst - ich zitiere aus seinem "West-Östlichen Divan" - dort aus dem Gedicht "Selige Sehnsucht":
"Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast.
Auf der dunklen Erde."
So aber, liebe Freunde, ist das mit Jesus. Stellen wir uns doch in Gedanken diesen Jesus vor: aber bitte den Jesus vor Beginn all dieser Jesusfilme - denn ich kann nicht glauben, dass ein Film über Jesus umso besser oder katholischer ist, je mehr Blut fließt oder je mehr Brutalität herrscht! Stellen wir uns also Jesus vor als den Menschen, dem eine tiefe Zuneigung in den Augen wohnt, den Menschen, der in seiner Haltung Hoheit, aber Zuwendung zeigt, der Mensch, dessen Stimme in mir Saiten zum Schwingen bringt, die ich noch gar nicht kannte. Der Mensch, der die Frauen nicht zurückstößt oder an sich reißt, sondern sie in ihrer Berufung würdigt, wie dies mit Maria von Magdala an Ostern geschah. Stellen wir uns Jesus vor als den Menschen, der dem Bettler aufhilft, der den Kranken fragt, ob er wirklich gesund werden will. Wer diesem Jesus begegnet ist, und wer ihm heute begegnet, der wird auch selbst ein anderer Mensch. Der wird verwandelt in ein anderes Bild, als er je von sich hatte. Wie viele Geschichten des Neuen Testaments sind Begegnungs- und Verwandlungsgeschichten!
Begegnung und Verwandlung - das sind die Wunder Jesu in ihrem Kern, den die Evangelisten uns bezeugen! Wem Jesus begegnet, den erfasst ein Funke, wie in der Liebe Menschen plötzlich von einem Funken entfacht werden. Oder, wie in der Kunst ein Funke den Künstler, die Musikerin erfasst. Wer Jesus begegnet, der wird nachfolgen wollen, der wird auch sehr Schweres, ja sogar einen Kreuzesbalken auf sich nehmen können, der wird sich selbst verleugnen. Und: Wer Jesus begegnet, der wird sich verlieren - aber er wird sich gerade darin neu finden! Er kann sich hingeben, er kann Dinge tun, die er nie von sich geglaubt hätte - aber er wird sich selbst neu spüren dürfen. Welch' entschiedene, welch' überzeugende Absage an den grassierenden Egoismus, der so viel Unheil und eben auch Angst erzeugt!
Aber: Ohne die engste Zuordnung auf Jesus, ohne diese ganz konkrete Bindung an seine Gestalt der Liebe, der Zuwendung, der Annahme sind die Sentenzen von der Selbstverleugnung, vom Kreuztragen, von der Selbsthingabe nicht nur sinnlos, sondern auch hochgefährlich. Ohne die Bindung an den zentralen Zuspruch Jesu, an seine Lebensbejahung, an seine Hochwertung jedes menschlichen Lebens, können diese Sentenzen völlig falsch verstanden werden und zu einer inneren Abwendung und Abwehr von Religion und Glauben führen.
In der Bindung an Jesus aber wird ein Menschenleben natürlich nicht automatisch und einfach Glück und äußeren Erfolg erlangen. Jesus ist Realist genug, um schon zu dieser Zeit zu wissen, dass nicht nur ihm, sondern später auch manchen seiner Nachfolger das Tragen des Kreuzesbalkens nicht erspart werden wird. Aber er ist fest und gewiss, dass dieses Verlieren auch des Lebens nicht endgültiges Verlieren sein wird. Denn dieses bewusste Verlieren um Jesu willen wird nicht das Ende sein. Es wird ein neues Finden des Lebens geschenkt und ein Finden des Menschensohnes, der kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters.
So führt dieses Wort Jesu vom unendlichen Wert des Menschenlebens in die Tiefe der Religion, der Religion Jesu. Weil der Mensch, jeder Mensch, einen solche uneinholbaren Wert für sich hat, kann der Mensch, und nur der Mensch selbst sich hingeben, sich verlieren, sich verleugnen. Für einen anderen Menschen, für eine bedeutende Aufgabe, für Jesus und für das Evangelium. Nur der Mensch also, der sich dieses unendlichen Wertes bewusst ist, kann eine solche weitreichende Entscheidung in voller Freiheit treffen.
Sollte ein junger Mensch den Eindruck gewonnen haben, er sei ja doch nichts wert, er sei völlig unbegabt, unattraktiv, lebensuntüchtig, und er fühle sich nun aufgefordert, das Schlechte und Unerträgliche, das er darstellt, auch noch wegzuwerfen, um dann etwas religiös Besseres zu finden - dies wäre fatal! Fatal für den jungen Menschen, fatal für die, die er in dieser Weise falsch verstanden hat, und fatal für die Religion! Ein Mensch kann eine solche Entscheidung zur Hingabe nur treffen im Vollbewusstsein seines Wertes vor Gott, und er kann diese Entscheidung natürlich nur für sich selbst treffen. Aber er darf wissen, dass er dabei sich nicht dem ewigen Verlieren preisgibt. Er wird sich neu finden in einer Weise, die er oder sie nie zu hoffen gewagt hat.
Das ist mir wichtig: Wir lesen diesen biblischen Text von der Nachfolge in einer Zeit, wo aus mißbrauchter, missverstandener Religion, aus religiösem Fanatismus blutiger Terrorismus entstanden ist. Die Nachfolge, die Jesus einfordert, aber gründet eben auf Lebensbejahung, auf einem radikalen Ja zum Menschen, nicht auf einer Kultur des Todes, der Lebensverneinung und Menschenverachtung!
Lassen wir diese Weisheit vom Verlieren und Finden noch in uns nachwirken, wenn wir jetzt die Musik wahrnehmen. Wir müssen abschließend aber noch einen Schritt weitergehen.
(Musik)
Um ein Wort der Bibel, ein Wort Jesu recht zu verstehen, können wir nicht vom ersten Augenschein her urteilen. Wir müssen versuchen, klarer zu erfassen, um Missverständnisse abzuwehren und Gefahren zu umgehen. So war es sicherlich richtig, dass wir das Jesuswort, das uns heute zur Bibelarbeit vorgegeben wurde, von seiner Mitte her, von seinem inneren Zentrum her ausgelegt haben. Entscheidend wichtig ist aber auch, ein Wort Jesu vom weiteren Zusammenhang her zu bedenken, in den es das Evangelium gestellt hat. In unserem Fall ist der Blick auf den Zusammenhang des Markusevangeliums noch aus einem weiteren Grund notwendig. Das Wort Jesu von der Hingabe, vom Kreuztragen, vom Verlieren und Finden wird ja im Neuen Testament an verschiedenen Orten zitiert. Ich will und kann hier natürlich kein wissenschaftliches Kolleg über diesen Sachverhalt eröffnen. Ich bin ja schließlich kein Theologe. Möglich scheint, dass mit den Worten von der Hingabe und dem Kreuztragen auf der einen Seite, vom Verlieren und Finden auf der anderen Seite Wahrheiten und Weisheiten ausgesprochen wurden, die schon sehr früh in der biblischen Überlieferungen lange vor der Abfassung des Evangeliums durch Markus als Worte Jesu gesammelt und überliefert wurden. Ob es nun alleine die literarische und theologische Entscheidung des Evangelisten Markus war, dass er diese Sentenzen an der Stelle zitiert, an der sie jetzt stehen, oder ob er damit an eine alte Erinnerung der Urgemeinde über Jesu Reden und Jesu Geschick anknüpft, das kann ich nicht entscheiden. Tatsache ist, dass hier im Evangelium des Markus unsere Sentenz in einem Zusammenhang steht, der überraschend und beunruhigend zugleich ist. Hören wir nun den Zusammenhang des Textes aus dem Evangelium des Markus im Ganzen.
(Lesung des Textes Mk 8. 27 -
38)
Das Messiasbekenntnis des Petrus
27 Jesus ging mit seinen Jüngern in die Dörfer bei Cäsarea Philippi. Unterwegs fragte er die Jünger: Für wen halten mich die Menschen? 28 Sie sagten zu ihm: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen von den Propheten. 29 Da fragte er sie: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete ihm: Du bist der Messias! 30 Doch er verbot ihnen, mit jemand über ihn zu sprechen.
Die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung
31 Dann begann er, sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen. 32 Und er redete ganz offen darüber. Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe. 33 Jesus wandte sich um, sah seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.
Von Nachfolge und Selbstverleugnung
34 Er rief die Volksmenge und seine Jünger zu sich und sagte: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. 35 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten. 36 Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? 37 Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben zurückkaufen? 38 Denn wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommt.
Gleich zu Anfang nun ein Paukenschlag: die entscheidende Frage nach der Bewertung, dann nach Bedeutung Jesu. Zuerst befragt Jesus die Jünger, für wen die Menschen der Umgebung, die Zuhörer, die Gäste, die Öffentlichkeit also, Jesus halten. Man bringt Johannes den Täufer, Elija oder einen der Propheten ins Spiel. Dann fragt Jesus die Jünger, für wen sie selbst ihn halten. Petrus bekennt Jesus als den Christus, den Gesalbten, den Messias. Damit ist an dieser entscheidenden Stelle der wichtige Akzent gesetzt: Jesus ist der, auf den alle Hoffnung sich richtet, er ist der, mit dem die Erlösung endgültig beginnt. Petrus ist dagegen der, der das herausragende Bekenntnis sprechen kann und sprechen darf.
Sogleich aber eine scharfe Wendung: Jesus fährt Petrus an und befiehlt ihm sofort Schweigen. Eigentlich sollte doch ein solches Bekenntnis mit Verehrung, Annahme der Verehrung und Verbreitung unter der Volksmenge verbunden sein. Aber Jesus weiß, dass gerade deswegen, weil Petrus ein zutreffendes Bekenntnis abgelegt hat, sein Weg in dieser Welt ein völlig anderer sein wird als der der Verehrung und der freudigen Zustimmung. Jesus beginnt, seine Jünger einzuschwören auf ein konträres, hartes, entsagungsreiches, ja zuallerletzt tödliches Schicksal. Er, der Menschensohn, muss vieles erleiden von den Autoritäten, er muss verworfen werden, getötet werden, und nach drei Tagen wieder auferstehen.
Jetzt aber plötzlich eine hochdramatische Szene: Petrus steht auf und will Jesus von den übrigen Jüngern wegdrängen, beginnt ihn zu tadeln, richtiggehend zu bedrohen. Er solle doch den Gegnern nicht ins offene Messer laufen, er solle doch politisch geschickt sein, endlich diplomatisch agieren, er solle doch nicht nur an sich selbst denken, sondern auch an die Jünger, die Bewegung als solche, die Zukunft, die Kirche … . Dann wäre die Sache in Jerusalem ganz anders zu gestalten, dann könnten wir das Blatt wenden, dann wäre der Erfolg unser! Und ein siegreicher Jesus wäre doch für alle Zeiten erfolgreicher als ein gekreuzigter!
Jesus aber dreht sich um und bedroht seinerseits den Petrus. "Weiche hinter mich, Satan, denn du siehst nicht auf das Göttliche, sondern auf das der Menschen". Eine vernichtende Kritik. Petrus, der es doch nur zu gut gemeint hatte, der die Zukunft des Ganzen im Blick hatte, Petrus, der Anführer der Jünger, mit einem Mal ein Satan? Ein hartes, ein brutales Wort. Ein Wort, wie es nur Jesus sprechen konnte, der eine tiefe Einsicht hatte in das "Muss" des Leidens und Sterbens - und des Auferstehens am dritten Tag. Anders könnte er den Weg Gottes bei den Menschen nicht zu Ende gehen, anders wäre das, was zwischen Gott und dem Menschen steht, nicht durchbrochen, anders als durch seinen Tod könnte die neue Welt Gottes nicht beginnen.
"35 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten."
Nun ist endgültig klar, an wen sich vor allem das Wort Jesu richtet: es sind die Menschen, die Jesus nachfolgen - es ist die Kirche! Die Kirche, wir, die wir Jesus nachfolgen wollen, dürfen uns nicht allzu diplomatisch, allzu anpasslerisch und wendig nach dem Bequemen richten, nach dem Allzumenschlichen, nach dem Überkommenen allein, nach dem, was man von uns erwartet. Die Kirche darf sich nicht selbst zum Gegenstand ihres Überlebenswillen machen, nicht das Bewahren und Tradieren zum Selbstzweck erklären. Solches Retten und Bewahren wird zum Verlieren führen, wird die Kirche jedenfalls nicht so hinter Jesus scharen, wie er es verlangt.
Eine Kirche aber, die bereit ist, zu geben, sich hinzugeben, sich zu verleugnen, die bereit ist, zu verlieren an Status, an Reichtümern, an Ehren, und die sich Jesus zuwendet und den Menschen, die wird sich neu gewinnen. Eine Kirche, die den jungen Menschen Lebensmut und Freude schenkt, die religiöse Neurosen aufbricht, die die Zukunft konsequent ansagt, die wird glaubwürdig. Die kann zum Frieden rufen, die kann zum Verzicht rufen in einer Zeit, die mit Selbstsicherung des Bestehenden, mit Vermögenssicherung und Rechtebewahrung allzu beschäftigt erscheint. Eine solche Kirche könnte Menschen aufrütteln, sie könnte zu einem "Ruck" aufrufen, zu einer Veränderung im Denken und Handeln. Eine solche Kirche, die keine Angst um sich selbst hätte, die dreht sich nicht mehr um die eigenen Sorgen, nicht um die wegbrechenden Kirchensteuern, nicht um Feiertage, nicht mehr um kleinliche Abgrenzung im ökumenischen Gespräch. In der Nachfolge Jesu könnte sie neu lernen, sich hinzugeben für eine große Aufgabe: die Liebe Gottes so überzeugend zu leben, dass Angst vergeht, dass Menschen angestiftet werden, aufzubrechen, sich hinzugeben an die Zukunft, sich verlieren zu können an das Kommende, und sich neu zu finden in dem, was Gott für sie und für uns bereitet hat.
Wir Christenmenschen sind gemeint. Die Nachfolge Jesu, von der unser Text in so dramatischen Worten spricht, macht uns frei von Egoismus und von der Angst um uns selbst. Deshalb ist die Einladung, die fordernde Einladung, sein Kreuz auf sich zu nehmen und Jesu zu folgen, eine angstüberwindende, eine frohe Botschaft.
Quelle:
http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2004/012