Reden des
Bundestagspräsidenten
Reden 2004
24.11.2004
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Verleihung
des Georg-Dehio-Buchpreises am 24. November 2004 in Berlin
Es gilt das gesprochene
Wort
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn man auf der östlichen Seite der Mauer und des Eisernen Vorhangs gelebt hat, wenn man das trotzige und nicht selten verschwiegene Lebensgefühl kennt, doch und trotz allem Europäer sein zu wollen, womöglich gar nicht anders zu können, dann muss die europäische Vereinigung ein nachhaltiges – so heißt ja das modische Wort heute – ein nachhaltiges Glücksgefühl verschaffen. Es hat gewiss Unterschiede gegeben im sozialistischen Lager, im abgetrennten und der sowjetischen Ideologie- und Herrschaftsweise unterworfenen Teil Europas. Ebenso gewiss gab es Unterschiede zwischen uns Bewohnern dieses Lagers – Unterschiede, die eher zu Lasten der DDR-Deutschen gingen, wenn ich mich richtig erinnere. Jedenfalls habe ich manchmal Polen und Ungarn beneidet um ihre andere Art und Weise, mit in demselben Lager zu leben und leben zu können. Aber trotzdem, es gab auch das Band gemeinsamer Sehnsüchte – nach Freiheit, nach Demokratie, nach Wohlstand – und eben den Blick nach Westen, wo es all das Ersehnte ja gab.
Und im Westen: Wer blickte da schon ernsthaft, etwa gar sehnsüchtig nach Osten, auf dessen Geschichte, auf dessen Kultur? Europa – das war halt der Westen, er war die Mitte, um die sich Denken und Fühlen bewegten. Es gab allerdings Ausnahmen. Eine wichtige war und ist Karl Schlögel. "Die Mitte liegt ostwärts": ein trotziger, programmatischer Blickwechsel, den wir nun – glücklicherweise – geschichtlich einlösen können. Als ich das Buch vor 18 Jahren, das war 1986, las, hätte ich mir dieses Glück nicht vorstellen können. Was für eine Chance haben wir seit dem Herbst 1989, seit dem Erfolg der polnischen Solidarno½æ, seit der Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich, seit dem Durchbruch der ostdeutschen Bürgerbewegung am 9. Oktober in Leipzig und der Öffnung der Mauer einen Monat später!
Offensichtlich haben wir diese Chance politisch genutzt: Ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes sind heute in der NATO, sind Bündnispartner, sind seit diesem Jahr in der Europäischen Union, weitere sind Beitrittskandidaten. Deutschland ist von Freunden und Verbündeten umgeben, wir leben wiedervereinigt in Grenzen, zu denen all unsere Nachbarn Ja! gesagt haben. Im Frieden mit allen unseren Nachbarn – wann hat es das je in der deutschen europäischen Geschichte schon einmal gegeben? Wir schreiten auf dem Weg der europäischen Vereinigung voran, Erweiterung und Vertiefung der EU sollen parallel stattfinden, wir geben uns eine europäische Verfassung. Aber diese Vereinigung Europas ist – wir merken es immer stärker – nicht nur ein politischer Vorgang, sondern ganz wesentlich auch ein kultureller Prozess, ein Prozess der Verständigung, des Kennenlernens, der Wahrnehmung von bisher Unvertrautem, auch von Unterschieden, von Befremdlichem, ein Prozess eines mühseligen Mentalitätswandels, einer mühseligen Annäherung.
Mit Karl Schlögel wird heute ein Historiker ausgezeichnet, der diese gewaltige Veränderung der europäischen Topografie von Anfang an wissenschaftlich begleitet hat, ihr auch vorausgedacht hat. Mit Offenheit für unorthodoxe Perspektiven, mit Mut zu unbequemen Begriffen hat er die Mitte Europas als neues Gravitationszentrum ins Bewusstsein gerückt und eine "zweite Entdeckung Osteuropas", wie er das selbst nennt, betrieben. Diese "zweite Entdeckung Osteuropas" war und ist übrigens nicht den Westdeutschen vorbehalten. Auch in den Augen der Ostdeutschen haben viele Länder des ehemaligen Ostblocks nach der Wende erst ihre eigenen, überraschend vielfältigen Gesichter wiederbekommen. Wir haben ja – jedenfalls die meisten von uns – mit dem Blick nach Westen gelebt. Ich selbst habe die Artikel, die Aufsätze, die Bücher von Karl Schlögel mit großem intellektuellem Vergnügen und mit ebenso großem Gewinn gelesen. Ich habe darin manches Bekannte wiederentdeckt, entziffert bekommen und vieles Unbekannte gänzlich neu entdeckt.
Auch Gregor Thum, den Ehrenpreisträger, hat sein Erkenntnisinteresse ostwärts getrieben, und herausgekommen ist ein Buch, das ich nicht nur deshalb herausragend finde, weil es von Breslau handelt, meiner Geburtsstadt. Der Autor fasst selbst zusammen, was er gefunden hat: "Wer einen einzigen Ort sucht, an dem sich das ganze Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn in dieser Stadt. Breslau ist das Prisma, durch das sich Europas Selbstzerstörung erkennen lässt. Keine andere europäische Stadt vergleichbarer Größe hat einen ähnlich radikalen Bruch in ihrer Stadtgeschichte zu verzeichnen wie Breslau 1945."
In nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche Bevölkerung durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt. Diesem beispiellosen Bevölkerungstransfer, dieser millionenfachen Vertreibung und Entwurzelung, diesem gewaltigen Leid auf allen Seiten, das durch den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten ausgelöst worden war, folgte der Versuch der neuen, der kommunistischen Machthaber im Nachkriegspolen, den Mythos einer urpolnischen Stadt im Bewusstsein der neuen Bewohner zu verankern. Fast alles, was an die deutschen Phasen der Geschichte dieser Stadt erinnerte, sollte zurückgedrängt, überschrieben, unsichtbar gemacht werden – eine jahrhundertelange komplexe Beziehungsgeschichte auf eine einzige Traditionslinie reduziert werden. Es bedurfte eines weiteren historischen Bruches, um die Voraussetzungen für ein umfassendes Erinnern zu schaffen.
Ich selbst habe in der DDR erlebt, wie staatlicherseits versucht wurde, die Vertreibung der Deutschen aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Dass ich in Breslau geboren wurde, konnte ich eine Zeit lang gar nicht sagen. Es hieß dann plötzlich, in Wroc³aw sei ich geboren, was ja keine historische Tatsache ist. Die angeordnete Unterdrückung von persönlicher Erinnerung, wir wissen es, widerspricht einem menschlichen Grundbedürfnis. Darum empfinde ich es als angemessen und richtig, dass heute wieder daran erinnert und davon erzählt wird – ohne jedwede Anfälle von Revanchismus.
Aber wir merken ja auch, wie leicht selbst kleinste Minderheiten mit rückwärtsgewandten illegitimen und unmoralischen Ansprüchen diesen Umstand sofort wieder zu neuen Belastungen machen können. Das erleben wir gerade in den deutsch-polnischen Irritationen, wie ich dieses Problem zusammen mit meinem polnischen Amtskollegen freundlich umschrieben habe. Das Ziel muss ein ganz anderes sein.
Wir erleben die Europäische Union sicher auch als etwas sehr Nüchternes und schwer Durchschaubares. Da es uns selbst oft so geht, sollten wir uns nicht darüber wundern, wenn in den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erst recht nach einem pragmatischen Verhältnis zur Gemeinschaft und nach einer eigenen Rolle in der Union gesucht wird. Aber wir dürfen dabei nicht übersehen, dass die Europäische Union von ihren Anfängen her und bis heute vor allem ein unerhörtes Friedenswerk ist, eine Wertegemeinschaft, die das Zeug hat, bis weit in die Zukunft die kriegerischen Jahrhunderte Europas zu beenden und durch gemeinsame freiheitliche Lebensgestaltung zu ersetzen.
Diesem Ziel hat sich auch der Georg-Dehio-Buchpreis verschrieben, ihm gilt die Arbeit des Deutschen Kulturforums östliches Europa. Denn dieses Ziel ist nicht mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln allein zu erreichen, so sehr uns diese immerfort beschäftigen. Das Bewusstsein von den europäischen kulturellen Gemeinsamkeiten, die vor dem deutschen Angriffskrieg mit seinen rassistischen Zielen und Verbrechen bestanden haben, die Wahrnehmung, wie viel von diesen Gemeinsamkeiten trotzdem noch vorhanden ist und weiter wirkt und vielleicht sogar noch weiter wirken könnte, wenn wir es nur wollten, ist auf diesem Wege unverzichtbar.
Wieso sollten wir mit unseren östlichen Nachbarn nicht die gleiche Freundschaft und das gleiche Vertrauen entwickeln können, wie es im Westen und namentlich mit Frankreich in wenigen Jahrzehnten entstanden ist? Damals, nach dem Kriege, noch in den 50er Jahren, hat es sich keiner vorstellen können, wie gut diese Beziehungsgeschichte ausgehen könnte. Doch wir wissen und erfahren leider immer wieder, dass die Wunden der Vergangenheit nur langsam heilen. Gerade im Verhältnis von Deutschen und Polen zeigt sich, dass ein offener, vorurteilsfreier und verantwortungsvoller Umgang mit unserer wechselvollen Geschichte noch nicht immer und nicht überall selbstverständlich ist – leicht ist er ohnehin nicht.
Eine Verdrängung dieses "traumatisierten Geländes" in Osteuropa aus unserem kulturellen Gedächtnis darf es nicht geben. Die Verdrängung der Vertreibung von Deutschen ist falsch und kann auf Dauer nicht gelingen. Aber bei der Erinnerung daran dürfen keine Zweifel aufkommen, wer Opfer und wer Täter war. Auch die Vertreibung Deutscher ist ohne den Krieg und die Verbrechen Nazideutschlands nicht zu erklären. Wenn wir uns – wir Deutsche – an die Vertreibung unserer Eltern oder unserer selbst erinnern, sollten wir uns an die Vertreibung der Polen ebenso erinnern. Deshalb hat sich der Deutsche Bundestag bereits im Juli 2002 für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen ausgesprochen. Man muss immer wieder daran erinnern, dass es diesen Beschluss gibt. Nun ist es unsere vordringliche Aufgabe, bei unseren europäischen Nachbarn, namentlich in Polen, für ein gemeinsames Projekt zu werben und es in Gang zu setzen.
Wenn es gelänge, Konsens darüber herzustellen, dass Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Deportationen für alle Zukunft zu ächten sind, wenn es gelänge, Partner zu gewinnen, die sich mit uns gemeinsam diesem schwierigen Kapitel der europäischen Geschichte stellen, wenn es gelänge, national verengte Positionen zu überwinden und eine europäische Kultur der Erinnerungen aufzubauen, dann könnte auch das Zentrum gegen Vertreibungen oder ein Netzwerk eine wichtige Geste der Aussöhnung und Verständigung werden. Zur europäischen Vereinigung – wie auch zur deutschen Vereinigung – gehört die Vereinigung von Erinnerungen, die ja nicht, wie wir jetzt gelegentlich erschrocken feststellen, identisch sein müssen und die manchmal Irritationen und Befremden auslösen. Wie unterschiedlich Akzente gesetzt werden, mit welchen Begriffen die unterschiedlichen Erinnerungen zur Sprache gebracht werden, das zu begreifen ist ein mühseliger Prozess, aber ein notwendiger.
Meine Hoffnung ist, dass sich gerade die jungen Generationen mit der Europäischen Union als Friedenswerk und als Wertegemeinschaft identifizieren und ein europäisches Bewusstsein entwickeln, das Erinnerungen einschließt. Die Arbeiten von Karl Schlögel und Gregor Thum, ihr Blick auf diese alten, uns verbindenden Kulturen und die Widerspruchsgeschichte dieses Teils Europas leisten – davon bin ich überzeugt – einen wichtigen Beitrag dazu. Die Wahrnehmung kultureller Gemeinsamkeiten und der Umgang mit den historischen Brüchen, der uns in Europa zusammenführt, statt uns wieder neuen vermeidbaren Belastungen auszusetzen, sind gerade jetzt und gerade mit Osteuropa bitter notwendig. Sie müssen gelingen. Ich hoffe sehr, dass sie schon fortgeschritten genug sind, um die Schwierigkeiten der Gegenwart, z.B. im polnisch-deutschen, deutsch-polnischen Verhältnis, überwinden zu können.
Was geschieht dem europäischen Friedenswerk, wenn der Verfassungsvertrag in einigen Mitgliedsländern scheiterte? Wenn er gerade in solchen Ländern, die von der Öffentlichkeit als besondere wahrgenommen werden, scheitern sollte? Was geschieht, wenn nationalistische Parteien nicht nur in Parlamente gelangten, sondern Regierungsverantwortung bekämen? Was folgte dann aus unzureichendem Wirtschaftswachstum und dessen sozialpolitischen Folgen für den Zusammenhalt der Europäischen Union? Wie schnell kann das gemeinsame europäische Projekt in Turbulenzen geraten?
Alles ist noch nicht so sicher. Ich will keine Schwarzmalerei betreiben, aber ich will die Gelegenheit nutzen, für die erheblichen Anstrengungen zu werben, die immer noch und weiterhin dafür nötig sind, dass Europa gelingt. Die Europäische Union muss eine Angelegenheit der Europäerinnen und Europäer sein – und nicht nur der Politiker, Diplomaten und Experten fürs Europäische –, ganz gleich ob sie in Irland oder in Litauen, Luxemburg oder Slowenien, Polen oder Frankreich leben. Wir müssen für die Vernunft, die Rationalität dieser Union werben: dass wir nur gemeinsam Freiheit sichern können, dass wir nur gemeinsam die Umwelt schützen können. Um Wohlstand und den Sozialstaat – die wohl wichtigste europäische Kulturleistung – bewahren zu können, haben wir uns einem harten internationalen Wettbewerb zu stellen. Die Erfolgsaussicht ist weitaus höher, wenn statt lauter Einzelstaaten Europa an diesem Wettbewerb teilnimmt.
Die Überwindung der politischen Teilung ermöglicht die Wiederentdeckung des ungeheuren Schatzes an kulturellen Gemeinsamkeiten in ganz Europa. Karl Schlögel und Gregor Thum haben den Blick dafür geöffnet, dass Europa trotz Spaltungs- und Leidensgeschichte ein unteilbarer historischer Raum geblieben ist. Ganz im Sinne Georg Dehios, des berühmten Kunsthistorikers aus Reval, dem heutigen Tallinn, haben sich die beiden Preisträger um die Wiederbelebung alter kultureller Verbindungen zwischen West- und Osteuropa verdient gemacht. Das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass Europa nicht nur eine Sache der Vernunft, sondern auch der Emotionen, der Begeisterung werden und deshalb gelingen kann.
Ich gratuliere beiden Preisträgern von Herzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn man auf der östlichen Seite der Mauer und des Eisernen Vorhangs gelebt hat, wenn man das trotzige und nicht selten verschwiegene Lebensgefühl kennt, doch und trotz allem Europäer sein zu wollen, womöglich gar nicht anders zu können, dann muss die europäische Vereinigung ein nachhaltiges – so heißt ja das modische Wort heute – ein nachhaltiges Glücksgefühl verschaffen. Es hat gewiss Unterschiede gegeben im sozialistischen Lager, im abgetrennten und der sowjetischen Ideologie- und Herrschaftsweise unterworfenen Teil Europas. Ebenso gewiss gab es Unterschiede zwischen uns Bewohnern dieses Lagers – Unterschiede, die eher zu Lasten der DDR-Deutschen gingen, wenn ich mich richtig erinnere. Jedenfalls habe ich manchmal Polen und Ungarn beneidet um ihre andere Art und Weise, mit in demselben Lager zu leben und leben zu können. Aber trotzdem, es gab auch das Band gemeinsamer Sehnsüchte – nach Freiheit, nach Demokratie, nach Wohlstand – und eben den Blick nach Westen, wo es all das Ersehnte ja gab.
Und im Westen: Wer blickte da schon ernsthaft, etwa gar sehnsüchtig nach Osten, auf dessen Geschichte, auf dessen Kultur? Europa – das war halt der Westen, er war die Mitte, um die sich Denken und Fühlen bewegten. Es gab allerdings Ausnahmen. Eine wichtige war und ist Karl Schlögel. "Die Mitte liegt ostwärts": ein trotziger, programmatischer Blickwechsel, den wir nun – glücklicherweise – geschichtlich einlösen können. Als ich das Buch vor 18 Jahren, das war 1986, las, hätte ich mir dieses Glück nicht vorstellen können. Was für eine Chance haben wir seit dem Herbst 1989, seit dem Erfolg der polnischen Solidarno½æ, seit der Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich, seit dem Durchbruch der ostdeutschen Bürgerbewegung am 9. Oktober in Leipzig und der Öffnung der Mauer einen Monat später!
Offensichtlich haben wir diese Chance politisch genutzt: Ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes sind heute in der NATO, sind Bündnispartner, sind seit diesem Jahr in der Europäischen Union, weitere sind Beitrittskandidaten. Deutschland ist von Freunden und Verbündeten umgeben, wir leben wiedervereinigt in Grenzen, zu denen all unsere Nachbarn Ja! gesagt haben. Im Frieden mit allen unseren Nachbarn – wann hat es das je in der deutschen europäischen Geschichte schon einmal gegeben? Wir schreiten auf dem Weg der europäischen Vereinigung voran, Erweiterung und Vertiefung der EU sollen parallel stattfinden, wir geben uns eine europäische Verfassung. Aber diese Vereinigung Europas ist – wir merken es immer stärker – nicht nur ein politischer Vorgang, sondern ganz wesentlich auch ein kultureller Prozess, ein Prozess der Verständigung, des Kennenlernens, der Wahrnehmung von bisher Unvertrautem, auch von Unterschieden, von Befremdlichem, ein Prozess eines mühseligen Mentalitätswandels, einer mühseligen Annäherung.
Mit Karl Schlögel wird heute ein Historiker ausgezeichnet, der diese gewaltige Veränderung der europäischen Topografie von Anfang an wissenschaftlich begleitet hat, ihr auch vorausgedacht hat. Mit Offenheit für unorthodoxe Perspektiven, mit Mut zu unbequemen Begriffen hat er die Mitte Europas als neues Gravitationszentrum ins Bewusstsein gerückt und eine "zweite Entdeckung Osteuropas", wie er das selbst nennt, betrieben. Diese "zweite Entdeckung Osteuropas" war und ist übrigens nicht den Westdeutschen vorbehalten. Auch in den Augen der Ostdeutschen haben viele Länder des ehemaligen Ostblocks nach der Wende erst ihre eigenen, überraschend vielfältigen Gesichter wiederbekommen. Wir haben ja – jedenfalls die meisten von uns – mit dem Blick nach Westen gelebt. Ich selbst habe die Artikel, die Aufsätze, die Bücher von Karl Schlögel mit großem intellektuellem Vergnügen und mit ebenso großem Gewinn gelesen. Ich habe darin manches Bekannte wiederentdeckt, entziffert bekommen und vieles Unbekannte gänzlich neu entdeckt.
Auch Gregor Thum, den Ehrenpreisträger, hat sein Erkenntnisinteresse ostwärts getrieben, und herausgekommen ist ein Buch, das ich nicht nur deshalb herausragend finde, weil es von Breslau handelt, meiner Geburtsstadt. Der Autor fasst selbst zusammen, was er gefunden hat: "Wer einen einzigen Ort sucht, an dem sich das ganze Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn in dieser Stadt. Breslau ist das Prisma, durch das sich Europas Selbstzerstörung erkennen lässt. Keine andere europäische Stadt vergleichbarer Größe hat einen ähnlich radikalen Bruch in ihrer Stadtgeschichte zu verzeichnen wie Breslau 1945."
In nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche Bevölkerung durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt. Diesem beispiellosen Bevölkerungstransfer, dieser millionenfachen Vertreibung und Entwurzelung, diesem gewaltigen Leid auf allen Seiten, das durch den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten ausgelöst worden war, folgte der Versuch der neuen, der kommunistischen Machthaber im Nachkriegspolen, den Mythos einer urpolnischen Stadt im Bewusstsein der neuen Bewohner zu verankern. Fast alles, was an die deutschen Phasen der Geschichte dieser Stadt erinnerte, sollte zurückgedrängt, überschrieben, unsichtbar gemacht werden – eine jahrhundertelange komplexe Beziehungsgeschichte auf eine einzige Traditionslinie reduziert werden. Es bedurfte eines weiteren historischen Bruches, um die Voraussetzungen für ein umfassendes Erinnern zu schaffen.
Ich selbst habe in der DDR erlebt, wie staatlicherseits versucht wurde, die Vertreibung der Deutschen aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Dass ich in Breslau geboren wurde, konnte ich eine Zeit lang gar nicht sagen. Es hieß dann plötzlich, in Wroc³aw sei ich geboren, was ja keine historische Tatsache ist. Die angeordnete Unterdrückung von persönlicher Erinnerung, wir wissen es, widerspricht einem menschlichen Grundbedürfnis. Darum empfinde ich es als angemessen und richtig, dass heute wieder daran erinnert und davon erzählt wird – ohne jedwede Anfälle von Revanchismus.
Aber wir merken ja auch, wie leicht selbst kleinste Minderheiten mit rückwärtsgewandten illegitimen und unmoralischen Ansprüchen diesen Umstand sofort wieder zu neuen Belastungen machen können. Das erleben wir gerade in den deutsch-polnischen Irritationen, wie ich dieses Problem zusammen mit meinem polnischen Amtskollegen freundlich umschrieben habe. Das Ziel muss ein ganz anderes sein.
Wir erleben die Europäische Union sicher auch als etwas sehr Nüchternes und schwer Durchschaubares. Da es uns selbst oft so geht, sollten wir uns nicht darüber wundern, wenn in den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erst recht nach einem pragmatischen Verhältnis zur Gemeinschaft und nach einer eigenen Rolle in der Union gesucht wird. Aber wir dürfen dabei nicht übersehen, dass die Europäische Union von ihren Anfängen her und bis heute vor allem ein unerhörtes Friedenswerk ist, eine Wertegemeinschaft, die das Zeug hat, bis weit in die Zukunft die kriegerischen Jahrhunderte Europas zu beenden und durch gemeinsame freiheitliche Lebensgestaltung zu ersetzen.
Diesem Ziel hat sich auch der Georg-Dehio-Buchpreis verschrieben, ihm gilt die Arbeit des Deutschen Kulturforums östliches Europa. Denn dieses Ziel ist nicht mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln allein zu erreichen, so sehr uns diese immerfort beschäftigen. Das Bewusstsein von den europäischen kulturellen Gemeinsamkeiten, die vor dem deutschen Angriffskrieg mit seinen rassistischen Zielen und Verbrechen bestanden haben, die Wahrnehmung, wie viel von diesen Gemeinsamkeiten trotzdem noch vorhanden ist und weiter wirkt und vielleicht sogar noch weiter wirken könnte, wenn wir es nur wollten, ist auf diesem Wege unverzichtbar.
Wieso sollten wir mit unseren östlichen Nachbarn nicht die gleiche Freundschaft und das gleiche Vertrauen entwickeln können, wie es im Westen und namentlich mit Frankreich in wenigen Jahrzehnten entstanden ist? Damals, nach dem Kriege, noch in den 50er Jahren, hat es sich keiner vorstellen können, wie gut diese Beziehungsgeschichte ausgehen könnte. Doch wir wissen und erfahren leider immer wieder, dass die Wunden der Vergangenheit nur langsam heilen. Gerade im Verhältnis von Deutschen und Polen zeigt sich, dass ein offener, vorurteilsfreier und verantwortungsvoller Umgang mit unserer wechselvollen Geschichte noch nicht immer und nicht überall selbstverständlich ist – leicht ist er ohnehin nicht.
Eine Verdrängung dieses "traumatisierten Geländes" in Osteuropa aus unserem kulturellen Gedächtnis darf es nicht geben. Die Verdrängung der Vertreibung von Deutschen ist falsch und kann auf Dauer nicht gelingen. Aber bei der Erinnerung daran dürfen keine Zweifel aufkommen, wer Opfer und wer Täter war. Auch die Vertreibung Deutscher ist ohne den Krieg und die Verbrechen Nazideutschlands nicht zu erklären. Wenn wir uns – wir Deutsche – an die Vertreibung unserer Eltern oder unserer selbst erinnern, sollten wir uns an die Vertreibung der Polen ebenso erinnern. Deshalb hat sich der Deutsche Bundestag bereits im Juli 2002 für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen ausgesprochen. Man muss immer wieder daran erinnern, dass es diesen Beschluss gibt. Nun ist es unsere vordringliche Aufgabe, bei unseren europäischen Nachbarn, namentlich in Polen, für ein gemeinsames Projekt zu werben und es in Gang zu setzen.
Wenn es gelänge, Konsens darüber herzustellen, dass Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Deportationen für alle Zukunft zu ächten sind, wenn es gelänge, Partner zu gewinnen, die sich mit uns gemeinsam diesem schwierigen Kapitel der europäischen Geschichte stellen, wenn es gelänge, national verengte Positionen zu überwinden und eine europäische Kultur der Erinnerungen aufzubauen, dann könnte auch das Zentrum gegen Vertreibungen oder ein Netzwerk eine wichtige Geste der Aussöhnung und Verständigung werden. Zur europäischen Vereinigung – wie auch zur deutschen Vereinigung – gehört die Vereinigung von Erinnerungen, die ja nicht, wie wir jetzt gelegentlich erschrocken feststellen, identisch sein müssen und die manchmal Irritationen und Befremden auslösen. Wie unterschiedlich Akzente gesetzt werden, mit welchen Begriffen die unterschiedlichen Erinnerungen zur Sprache gebracht werden, das zu begreifen ist ein mühseliger Prozess, aber ein notwendiger.
Meine Hoffnung ist, dass sich gerade die jungen Generationen mit der Europäischen Union als Friedenswerk und als Wertegemeinschaft identifizieren und ein europäisches Bewusstsein entwickeln, das Erinnerungen einschließt. Die Arbeiten von Karl Schlögel und Gregor Thum, ihr Blick auf diese alten, uns verbindenden Kulturen und die Widerspruchsgeschichte dieses Teils Europas leisten – davon bin ich überzeugt – einen wichtigen Beitrag dazu. Die Wahrnehmung kultureller Gemeinsamkeiten und der Umgang mit den historischen Brüchen, der uns in Europa zusammenführt, statt uns wieder neuen vermeidbaren Belastungen auszusetzen, sind gerade jetzt und gerade mit Osteuropa bitter notwendig. Sie müssen gelingen. Ich hoffe sehr, dass sie schon fortgeschritten genug sind, um die Schwierigkeiten der Gegenwart, z.B. im polnisch-deutschen, deutsch-polnischen Verhältnis, überwinden zu können.
Was geschieht dem europäischen Friedenswerk, wenn der Verfassungsvertrag in einigen Mitgliedsländern scheiterte? Wenn er gerade in solchen Ländern, die von der Öffentlichkeit als besondere wahrgenommen werden, scheitern sollte? Was geschieht, wenn nationalistische Parteien nicht nur in Parlamente gelangten, sondern Regierungsverantwortung bekämen? Was folgte dann aus unzureichendem Wirtschaftswachstum und dessen sozialpolitischen Folgen für den Zusammenhalt der Europäischen Union? Wie schnell kann das gemeinsame europäische Projekt in Turbulenzen geraten?
Alles ist noch nicht so sicher. Ich will keine Schwarzmalerei betreiben, aber ich will die Gelegenheit nutzen, für die erheblichen Anstrengungen zu werben, die immer noch und weiterhin dafür nötig sind, dass Europa gelingt. Die Europäische Union muss eine Angelegenheit der Europäerinnen und Europäer sein – und nicht nur der Politiker, Diplomaten und Experten fürs Europäische –, ganz gleich ob sie in Irland oder in Litauen, Luxemburg oder Slowenien, Polen oder Frankreich leben. Wir müssen für die Vernunft, die Rationalität dieser Union werben: dass wir nur gemeinsam Freiheit sichern können, dass wir nur gemeinsam die Umwelt schützen können. Um Wohlstand und den Sozialstaat – die wohl wichtigste europäische Kulturleistung – bewahren zu können, haben wir uns einem harten internationalen Wettbewerb zu stellen. Die Erfolgsaussicht ist weitaus höher, wenn statt lauter Einzelstaaten Europa an diesem Wettbewerb teilnimmt.
Die Überwindung der politischen Teilung ermöglicht die Wiederentdeckung des ungeheuren Schatzes an kulturellen Gemeinsamkeiten in ganz Europa. Karl Schlögel und Gregor Thum haben den Blick dafür geöffnet, dass Europa trotz Spaltungs- und Leidensgeschichte ein unteilbarer historischer Raum geblieben ist. Ganz im Sinne Georg Dehios, des berühmten Kunsthistorikers aus Reval, dem heutigen Tallinn, haben sich die beiden Preisträger um die Wiederbelebung alter kultureller Verbindungen zwischen West- und Osteuropa verdient gemacht. Das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass Europa nicht nur eine Sache der Vernunft, sondern auch der Emotionen, der Begeisterung werden und deshalb gelingen kann.
Ich gratuliere beiden Preisträgern von Herzen.
Quelle:
http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2004/019a