1963 bis 1966: Unaufschiebbare Entscheidungen
Mit dem Regierungsantritt Ludwig Erhards (CDU) als Nachfolger Konrad Adenauers (CDU) am 16. Oktober 1963 ändert sich zunächst wenig. Erhard führt die Koalition aus CDU/CSU und FDP fort - die SPD bleibt weiterhin in der Opposition. Der neue Kanzler ersetzt die straffe Führung der Regierungsarbeit durch einen weniger straffen, kollegialen Führungsstil. Das wirkt sich auch auf die Bundestagsarbeit aus. Die herrschende Hochkonjunktur erlaubt es, immer weiteren Wünschen von Interessengruppen durch ausgabenträchtige Gesetze entgegenzukommen, so dass die Staatsausgaben weiter steigen. Doch der mit der Hochkonjunktur verbundene Steuersegen dauert nicht an. Um die Mitte des Jahrzehnts beginnt sich die Konjunktur zu wenden.
Entspannung im Verhältnis zum Ostblock
Als ein erstes Schwächezeichen der Regierung wird es empfunden, dass die Abgeordneten auf Druck der Öffentlichkeit und der Opposition mitten in der Sommerpause 1964 zu einer Sondersitzung aus den Ferien zurückgerufen werden müssen. Die Regierung hat eine Erhöhung der Telefongebühren gebilligt. Der Regierung droht im Parlament eine Abstimmungsniederlage, die nur durch einen Kompromiss in letzter Minute abgewendet werden kann. Indessen unterstützt der Bundestag:
- die Bemühungen des Westens um Entspannung im Verhältnis zum Ostblock
- den Vorstoß der Erhard-Regierung zum Abschluss von Gewaltverzichtsabkommen
- die Bemühungen um die Anknüpfung von Handelsbeziehungen zu einer Reihe von Ostblockstaaten und
- die Aufnahme von Verhandlungen mit der DDR über Passierscheinabkommen.
Keine Verjährung von Kapitalverbrechen
Zwanzig Jahre nach Kriegsende rückt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Nazi-Verbrechen wieder stärker ins Blickfeld. Im Frühjahr 1965 wird die lange in der Schwebe gehaltene Entscheidung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel unausweichlich. Ägypten und andere arabische Staaten haben sich zuvor der DDR zugewand. Zu den besonders erinnerungswürdigen Sternstunden des Parlaments gehört eine mehrtägige, mit Leidenschaft und großem Ernst geführte Debatte. Es geht um die Frage, ob die dem geltenden Recht zufolge nach zwanzig Jahren eintretende Verjährung der Strafverfolgung schwerster Verbrechen auch für Nazi-Verbrechen wie Mord und Völkermord und für die noch unentdeckten Täter gelten solle. Gegen rechtsstaatliche Bedenken setzt sich schließlich der Standpunkt durch, dass die Nazimörder weiterhin verfolgt werden müssen. Ohne die Zwanzig-Jahres-Frist direkt zu verlängern, wird das Datum für deren Ablauf hinausgeschoben, indem der Beginn ihrer Laufzeit auf den 1. Januar 1950 als Beginn einer funktionierenden deutschen Gerichtsbarkeit festgesetzt wird. 1969 wird die Frage erneut akut. Der Bundestag beschließt, die Verjährung für Kapitalverbrechen ganz aufzuheben.
Einsetzende Wirtschaftsrezession
Häufiger als vorher kommt in diesen Jahren der Begriff der Krise in Gebrauch. Der Bundestag muss sich mit krisenhaften Entwicklungen beschäftigen, deren Anfänge jedoch zum Teil noch in die Adenauerzeit zurückreichen - so die Krise der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) um den Beitritt Großbritanniens und das Abstimmungsverfahren im Europäischen Rat. Die Krise führt dazu, dass Frankreich seine Mitarbeit im Rat für längere Zeit einstellt. Auch die NATO gerät über den umstrittenen Plan der Aufstellung einer multilateralen Atomstreitmacht mit deutscher Beteiligung in eine Krise. Später sorgt die so genannte "Starfighter- Krise" für Unruhe und Debatten: Eine nicht zu stoppende Serie von Abstürzen des Kampfflugzeugs löst heftige Kritik an der Bundeswehrführung aus. Und schließlich führt eine um die Mitte des Jahrzehnts einsetzende Wirtschaftsrezession die Koalition in eine Haushaltskrise, die sich zu einer Regierungskrise ausweitet. Erhard tritt am 30. November 1966 zurück. CDU/CSU und SPD bilden eine Große Koalition.