Erinnerung belichten
Als ich mir die Bilder aus dem Fotoladen abholte, waren alle entwickelt - außer die von der Grenze.
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Ich habe die Mauer schon als kleines Kind gesehen. Hinter dem Kleingarten meiner Eltern in Pankow erhoben sich die Neubaublocks von West-Berlin, die in meinem Schulatlas nicht eingezeichnet waren. Manchmal machten Menschen dort drüben die Fenster auf und sahen uns bei der Gartenarbeit oder beim Grillen zu. Diese Menschen gab es für uns eigentlich gar nicht.
In der Kleingartenanlage "Rosenthal Süd" haben wir niemals
einen Schuss gehört, nur das Bellen der Wachhunde. Dennoch hat
unsere Familie jederzeit damit gerechnet, einmal aufgeschreckt zu
werden. Jeden Tag sahen wir Soldaten mit Uniform, Gewehr und
farblosem Blick. Sie saßen in umgebauten und in Tarnfarben
angemalten Trabants und fuhren die Staatsgrenze ab. Einmal brachten
sie meine Schwester im Tarntrabbi zurück zur Laube. Sie hatte
mit ihrer Spielschippe ein Alarmkabel ausgegraben. Fortan durfte
meine Schwester nicht mehr an der Mauer spielen, obwohl dort feiner
Sand wie am Meer lag. Erst viel später habe ich begriffen,
warum das so war. An der Mauer, an der 600 bis 1000 Menschen ihr
Leben ließen, sollten keine Grünpflanzen
wachsen.
Verschwiegene Mauer
Ich habe als Schüler mal die Mauer fotografiert. Als ich mir die Bilder aus dem Fotoladen abholte, waren alle entwickelt - außer die von der Grenze. Irgendwer hatte sie aussortiert. Aber wer? Schon damals merkte ich, dass ich die Mauer vergessen sollte, dass ich nicht über sie zu sprechen hatte. In Pankow flogen Flugzeuge über uns hinweg, unterwegs zum West-Berliner Flughafen Tegel. Eigentlich gab es diese Flugzeuge für uns nicht. Aber immer sah ich ihnen nach. Ich wollte Sportreporter werden (nachdem mir meine Eltern meinen anderen Berufswunsch mühsam ausgeredet hatten: Erich Honecker). Ich wollte um die Welt reisen und die Wahrheit berichten. Dass das als politischer Reporter nicht ging, merkte ich schon, als ich Probleme wegen meiner Schülerzeitung bekam, "Brennpunkt" nannte ich sie. "Weißt Du nicht, dass auch ein ARD-Magazin ‘Brennpunkt’ heißt?", fragte mich damals meine Direktorin. Ich log: "Nein, wir gucken doch zu Hause keine Westprogramme." Da konnte sie nichts machen. Aber ich dachte mir: Gehe lieber zum Sport. Wenn die DDR-Auswahl 1:2 verloren hat, kann niemand behaupten, sie hätte 2:1 gewonnen. Vom DDR-Staatsdoping wusste ich freilich noch nichts.
Dass es 17 Jahre nach dem Vollzug der Deutschen Einheit noch ein
"Hier" für mich gibt, hat nichts mit Nostalgie zu tun. Eher
mit dem vermeintlichen Verlust der Heimat. "Die Deutsche
Demokratische Republik ist uns nicht nur Heimat, sondern auch
sozialistisches Vaterland." So sollte es sein, so war es
festgeschrieben im Buch "Vom Sinn unseres Lebens", das alle
Mädchen und Jungen zur Jugendweihe überreicht bekamen.
Heimat und Vaterland fielen wie selbstverständlich zusammen
und mündeten in die Parole "Unsere Heimat DDR". Nun ist das
Vaterland verschwunden. Ein Gefühl von Heimat empfinden die
jüngeren Ostdeutschen auch heute noch für Fichtelberg und
Kap Arkona. Da die DDR, die zu dieser Heimat gehörte, aber
nicht mehr existiert, fühlt sich das Heimweh heute etwas
unwirklich, unnahbar, ja unernst an. Eher wie Fernweh.
Eroberung mit Verlusten
Für viele ältere Ostdeutsche ist die Rückschau nicht so ironisch, sie tut ihnen weh. Als die Mauer fiel, war ich 14. Genau das richtige Alter, um ein neues Leben zu beginnen. Meine Eltern waren Anfang 40. Den ersten Gang zu den unbekannten Brüdern und Schwestern machten wir noch gemeinsam. Hand in Hand liefen wir über die Bornholmer Brücke, durchquerten jubelnd die Kontrollanlagen, prosteten den verunsicherten Soldaten der Nationalen Volksarmee zu. Als wir drüben anlangten, zeigte meine Mutter auf die grauen Altbauten des West-Berliner Arbeiterbezirks Wedding und rief entsetzt: "Hier sieht es ja aus wie bei uns." Wir hielten inne. Zum ersten Mal merkten wir, dass wir uns den glitzernden Westen erst erobern mussten. Und vielleicht beschlich uns da schon die Ahnung, dass dem Wende-Gewinn auch Verluste gegenüberstehen könnten. Verluste an Gewohnheiten, Verluste an Nischen, Verluste an Gemeinsamkeit.
Meine Eltern hatten mir schon im Sozialismus beigebracht, einen
eigenen Weg zu gehen. DDR-Papierfähnchen, die ich aus der
Schule mitbrachte, schmissen sie in den Müll. Nach dem Umbruch
folgte ich ihrem Rat. Mein Weg führte mich von ihnen weg,
führte mich behutsam, aber Schritt für Schritt in eine
andere Himmelsrichtung: nach Westen. Ich wechselte die Seiten, und
ganz nebenbei wurde ich mit der Einheit erwachsen. Auch meine
Eltern mussten neu anfangen. Es galt, sich die neue Freiheit zu
nehmen und Entscheidungen zu treffen, die einem früher der
Staat abgenommen hatte. Lebenserfahrungen spielten auf einmal keine
Rolle mehr, sie waren eher hinderlich. Meine Mutter verlor ihre
Arbeit, ihr Betrieb wurde abgewickelt. Mein Vater geht nicht mehr
zur Wahl. Vielen älteren Ostdeutschen fiel es mit jeder
Kombinatsschließung schwerer, sich aufzurappeln und Vertrauen
in die neue Zeit zu fassen. Sie blieben auf der Seite, die sie
kannten, und richteten sich neue Nischen ein, in denen die
Vergangenheit eine Heimstatt fand. Die Träume teilten
sich.
Bürger erster und zweiter Klasse
Das war ein Schlagwort des Ostens gegen den Westen. Doch längst gibt es auch im Osten zwei Klassen. Die Trennlinie verläuft zwischen Gewinnern und Verlierern der Wende; die einen bauen sich neue Häuser in frisch gepflasterten Stadtvierteln, die anderen leben auf verfallenden, mit letzter Kraft in Schuss gehaltenen Bauernhöfen. Die Hecken zwischen den Grundstücken wachsen wieder höher, die Menschen dahinter beklagen den fehlenden Gemeinsinn. Die Illusion von einer Gesellschaft der Gleichen - einst von der SED verbreitet - wirkt fort.
Nicht immer, aber oft teilt sich Ostdeutschland zwischen Jung
und Alt. 1,4 Millionen Menschen hat der Osten seit der Wende an den
Westen verloren - gerade die jungen Menschen "machen rüber".
Die Flexiblen, die gut Gebildeten, die Frauen - sie gründen
dort Familien und Firmen. Es gehen genau jene Leute, die eine
Gesellschaft braucht, um Hoffnung zu schöpfen, um etwas
aufzubauen. Sie hinterlassen vergreisende Dörfer, in denen
erst die Betriebe dichtmachten, dann die Kneipen. Jetzt sind die
Schulen dran: Allein in Sachsen werden 800 geschlossen.
Eingeübte Rituale
Nicht wenige der Zurückbleibenden flüchten sich in die Jammerei aus DDR-Tagen. Meckern, sich zurückziehen, nicht mehr teilnehmen, sich durch Trotz verweigern. Dieses Ritual wurde im ostdeutschen Alltag lange eingeübt. Zu DDR-Zeiten war es wichtig, das Private auszuweiten, um die eigene Freiheit zu vergrößern, um Grenzen, die der allgegenwärtige Staat gesetzt hatte, langsam zu verschieben. Das konnte schon durch Zwischentöne geschehen. Als in meiner Kindheit ein Fleischerladen in Pankow geschlossen wurde, hing an den heruntergelassenen Rollläden ein Schild: "Wir sind umgezogen - nach gegenüber". Doch auf der anderen Straßenseite fand sich kein Geschäft, auch in den Parallelstraßen nicht. Erst später begriff ich: Der Fleischer war in den Westen übergesiedelt. Gegenüber hieß drüben.
Heute haben sich Zwischentöne erübrigt, im
öffentlichen Raum wird alles direkt gesagt, gefordert, im
Konflikt ausgetragen. Viele Ostdeutsche kommen damit nicht zurecht,
den Parteienstreit der Berliner Republik und die Amtssprache der
neuen Bürokratie verstehen sie nicht. Ansprüche klar zu
formulieren und sich etwa mit der BfA um eine Kur zu streiten, das
wird schnell als Demütigung empfunden. So wie Arbeitslosigkeit
eine tägliche Demütigung bleibt.
Der Osten fühlt sich vom Westen unverstanden
Aber er versteht sich auch selbst nicht. Bislang werden selbst im Privaten nicht die Fragen gestellt, die für ein neues Selbstbewusstsein nötig wären. Über die Frage, wie sehr die Stasi auch in die Privaträume der Menschen vordrang, fällt an den Gartentischen bis heute keine Wort. Die 90.000 hauptamtlichen und doppelt so vielen inoffiziellen Mitarbeiter bleiben meist unerwähnt. Die Tante könnte ja dabei gewesen sein. Um heiklen Themen zu entgehen, regen sich Jung und Alt lieber gemeinsam über die Arroganz des Westens auf: Nur so lässt sich die Illusion vom einen Osten aufrechterhalten, von dessen sozialen Werten der Westen sowieso keine Ahnung habe. Kritische Nachfragen, was früher alles nicht möglich war, fallen weg. Eingeübtes Schweigen, auch das ein Erbe des DDR-Alltags, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Der Weggang vieler Jüngerer ist auch eine Flucht vor diesem Schweigen; vor der gebückten Haltung der Älteren, die den aufrechten Gang gelernt haben wollen, sich nun aber in der Ostalgie einrichten.
Wie können wir die Kinder halten, fragen sich die Eltern in ihren Nischen. Verrate ich mit meinem Erfolg die Eltern, fragen sich die Kinder an den Ossi-Stammtischen in Frankfurt am Main und Stuttgart, die ständig größer werden. Doch bei Familientreffen werden diese Fragen ausgespart.
Dass die Freiheit, die man aus eigener Kraft erlangt hat, ein
Glück sein kann, auch wenn es nicht vollkommen ist - darum
könnte es bei gemeinsamen Gesprächen gehen. Aber der
Stolz, den Umbruch mit friedlichen Mitteln ertrotzt zu haben, kommt
im Selbstverständnis vieler Ostdeutscher zu kurz. Wichtiger
bleibt für viele die verstörende Erfahrung, wie sie
danach von Firmen und Vermietern behandelt wurden. Der Osten muss
das Erzählen lernen. Nur so kann er sich selbst verstehen. Und
sich besser verständlich machen. Denn es war ja nicht nur das
Westgeld, das den Seitenwechsel in ein Glücksgefühl
ummünzte, nicht der Doppelkassettenrekorder, den ich mir
für 1999 von 100 D-Mark Begrüßungsgeld kaufte,
nicht die Kiwi, für die ich danach die letzte Mark
ausgab.
Vom Glück der Kiwi
Viel mehr Glückseligkeit lag in jener Szene, in der meine
Mutter den türkischen Gemüsehändler in Kreuzberg
fragte, wie man die Kiwi denn kochen müsse. Sein ansteckendes
Lachen schallt mir bis heute in den Ohren: "Schälen, nicht
kochen." Und er schenkte uns eine zweite Kiwi zum Üben. Solch
eine peinlich-schöne Begebenheit kann jeder Ostdeutsche
erzählen, wenn er gefragt wird. Ich habe die Mauer schon als
Kind gesehen. Ihr Fall brachte mir die Erfahrung ein, dass ein
Leben nicht fest gefügt sein muss, dass Träume nicht
umsonst sind. Hoffnung kann sich lohnen, dies ist die wichtigste
Lehre aus dem Zusammenbruch der DDR. Meine Schwester, die einst an
der Mauer einen Alarmdraht ausgebuddelt hatte, ist inzwischen
Energieelektronikerin - Kabel faszinieren sie immer noch. Sie hat
eine Firma im früheren West-Berlin gegründet. Neulich bin
ich mit dem Flugzeug über ihr Haus hinweggeflogen. Und dann
über die ganze Stadt.
Robert Ide: Der Autor, 32, ist Sportchef beim "Tagesspiegel" und in Berlin-Pankow aufgewachsen. In diesem Jahr erschien sein Buch "Geteilte Träume - Meine Eltern, die Wende und ich" im Luchterhand Literaturverlag.