Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." So reagieren viele Leute, wenn es darum geht, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Im Allgemeinen hat der Mensch ja auch keine Gelegenheit dazu, möchte er nicht eine Wahrsagerin aufsuchen oder der Astrologie Glauben schenken. Seit etwa 25 Jahren entwickeln Humangenetiker jedoch eine Fülle neuer Diagnosemöglichkeiten, mit denen es auf einmal möglich ist, in die Zukunft zu schauen: die Gendiagnostik.
"Pro Jahr werden etwa 200 bis 300 Gene identifi-ziert, die mit einer erblichen Krankheit in Verbindung gebracht werden können, also werktäglich ein Gen", erläutert Jörg Schmidtke, der an der Medizinischen Hochschule Hannover das Institut für Humangenetik leitet. Die Dynamik der Entdeckung von Krankheitsge-nen ist enorm und ruft in der Bevölkerung nicht nur Begeisterung hervor. Mit der Akzeptanz der Gentech-nik tun sich die Deutschen nach wie vor schwer und bewerten Gentests je nach Nutzung ganz unterschied-lich: Bei Vaterschaftsfragen und in der Verbrechensbekämpfung werden sie bereits mit breiter Zustimmung eingesetzt. Der medizinische Bereich verursacht dagegen vielfach Unbehagen. Die Angst vor dem gläsernen Menschen geht um.
Gegenwärtig kann in Deutschland niemand zu einem Gentest gezwungen werden. Aber jeder, der eine genetische Untersuchung wünscht, kann sich an eine der 273 genetischen Beratungsstellen in Deutschland wenden. Allerdings: Solche DNA-Analysen werfen oft schwierige ethische und moralische Fragen auf, wenn zum Beispiel Krankheiten zwar erkannt oder vorhergesagt werden können, diese aber nicht zu heilen oder zu verhindern sind, wie die Nervenkrankheit Chorea Huntington. Bei Menschen aus betroffenen Familien kann eindeutig festgestellt werden, ob sie den zu dieser neuro-degenerativen Erkrankung führenden Gendefekt haben oder nicht, lange bevor irgendwelche Symptome dieser Krankheit auftreten. Die Entscheidung darüber, ob eine solche Analyse gewünscht wird, ist höchstpersönlich und kann nur nach eingehender Beratung getroffen werden.
"Zugleich muss berücksichtigt werden, dass mit ei-ner solchen Diagnostik auch Informationen über ande-re Blutsverwandte bekannt werden, also eine größere Gruppe betroffen ist", sagt Detlef Walter, Referent beim Bundesbeauftragten für Datenschutz. Wenn jemand mit einem choreakranken Großelternteil positiv auf die Chorea-Genveränderung getestet wird, weiß er damit genau, dass auch der entsprechende Elternteil Träger dieser Genveränderung ist.
In Anbetracht der Komplexität und Sensibilität der Materie empfahl die Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" bereits 2002 genetische Untersuchungen am Menschen durch ein umfassendes Gendiagnostikgesetz zu regeln. Die rot-grüne Bundesregierung hatte zwar mit den Arbeiten an einem Gesetzentwurf begonnen, diese im Zuge der Neuwahlen jedoch eingestellt. Die neue Regierung hat nun in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls vereinbart, einen rechtlichen Rahmen für die Gendiagnostik zu schaffen. Das Bundesgesundheitsministerium versucht gegenwärtig, Eckpunkte für ein solches Gesetz politisch abzustimmen. "Daher können wir zurzeit weder zum Inhalt noch zum Zeitplan etwas sagen", erklärt Andreas Deffner, ein Sprecher des Ministeriums.
Für die Juristen ist die rechtliche Regelung geneti-scher Untersuchungen eine vielschichtige und schwie-rige Thematik. "Ohne Humangenetiker geht das gar nicht", betont Detlef Walter. Denn DNA-Analysen zu medizinischen Zwecken können ganz unterschiedli-chen Zielsetzungen folgen: Im einfachsten Fall kann ein Gentest zur Diagnoseabsicherung beitragen. Le-gen die Krankheitssymptome eines Patienten den Verdacht auf eine bestimmte Krankheit nahe, so kann eine Genanalyse in manchen Fällen absolute Gewiss-heit verschaffen. Pharmakogenetische Tests dienen dagegen der Identifizierung genetisch bedingter Emp-findlichkeiten für bestimmte Arzneimittelwirkstoffe. Sie ermöglichen eine individuell abgestimmte Medikamentendosierung und -auswahl. Als drittes sind die Heterozygotentests zu nennen. Bei so genannten rezessiven Erkrankungen kann ein Mensch die Anlage zu einer Krankheit in sich tragen, ohne selber zu erkranken. Wenn aber sowohl er als auch sein Partner diese Anlage an ein Kind weitergäben, träte die Krankheit bei dem Nachwuchs ein. Die letzte Gruppe ist am heftigsten umstritten: Prädikative genetische Test lassen auch Aussagen über künftige Krankheiten zu.
Allerdings: Eine absolute Gewissheit bieten nur sehr wenige Gentests. In den meisten Fällen spüren die Humangenetiker genetische Defekte in der Erbsubstanz auf, die mit erhöhter oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Erkrankung führen können. Der Getestete weiß dann beispielsweise, dass er ein erhöhtes Thrombose- oder Krebs-Risiko hat. Das Schicksal kann ihn ereilen, muss aber nicht. Manchmal können veränderte Lebensgewohnheiten oder regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen die Krankheitsentwicklung beeinflussen, in vielen Fällen aber auch nicht. Wie auch immer - der Untersuchte muss nun mit seinem Wissen leben.
Die Enquete-Kommission des Bundestages betont daher das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung. Dazu gehört sowohl das Recht, die eigenen genetischen Befunde zu kennen, als auch das Recht auf Nichtwissen. Zusammen mit den Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder fordert sie das ausdrückliche Verbot, einen Gentest ohne Zustimmung des Betroffenen durchzuführen. Ferner soll gesetzlich geregelt werden, wie solche Tests durchzuführen sind und wie im Bereich der Forschung zum Beispiel mit genetischen Reihenuntersuchungen zu verfahren ist. Einer besonderen Regelung bedürfen die Bereiche Versicherungen und Arbeitgeber.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungs-wirtschaft e.V. (GDV) hat sich in einer freiwilligen Selbstverpflichtungserklärung dazu bereit erklärt, bis 2011 prädikative Gentests nicht zur Voraussetzung eines Vertragsabschlusses zu machen. "Wir respektie-ren voll und ganz das Recht eines jeden auf Nichtwis-sen. Für eine künftige gesetzliche Regelung muss aber gelten: Was der Versicherungsnehmer weiß, muss er auch angeben", sagt Martina Vomhof, Leiterin der Abteilung Recht des GDV. Schon heute ist der potenzielle Versicherungsnehmer gesetzlich verpflichtet, dem Versicherer vor Abschluss des Vertrages alle ihm bekannten Risiken anzugeben. "Dieses Informationsgleichgewicht ist eine Voraussetzung dafür, dass das Geschäftsmodell einer Versicherung funktioniert", betont Vomhof.
Im Arbeitsbereich stellt sich die Situation etwas komplizierter dar. Denn hier kann eine genetische Disposition des Arbeitnehmers nicht nur Konsequenzen für die Vertragsparteien, sondern auch für unbeteiligte Dritte haben. "Piloten werden jetzt auch schon vor ihrer Einstellung medizinisch untersucht. Und hier wäre es nicht nur für den Arbeitgeber wichtig zu wissen, ob das Erbgut des Piloten vielleicht ein erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Herztod birgt", sagt Jurist Walter. Laut geltendem Recht muss ein Arbeitnehmer in Deutschland grundsätzlich nicht einer genetischen Untersuchung zustimmen, da ein Gentest ohne seine Einwilligung sein Persönlichkeitsrecht verletzten würde. "Nach herrschender Meinung muss die Unverletzlichkeit seiner Individualsphäre aber, wie bei herkömmlichen medizinischen Untersuchungen auch, unter bestimmten Umständen zurücktreten: Erstens bei Krankheit, durch die die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit auf Dauer eingeschränkt ist, zweitens bei ansteckenden Krankheiten, drittens wenn in absehbarer Zeit mit einer Arbeitsunfähigkeit zu rechnen ist", erläuterte Rechtsprofessor Jürgen Simon in einer Rede auf dem 13. Wiesbadener Forum Datenschutz. Wenn ein schon durchgeführter Gentest relevante Informationen für den Arbeitsplatz geliefert hat, ist der Arbeitnehmer also verpflichtet, Fragen des Arbeitgebers nach genetischen Untersuchungen wahrheitsgemäß zu beantworten. Eine Einwilligung in genetische Untersuchungen bei der Einstellung ist aber gegenwärtig nur so weit möglich, wie auch das Fragerecht des Arbeitgebers reicht.
"Die Tendenz geht insgesamt dahin, dass wir in ei-nem Gendiagnostikgesetz keinen völligen Ausschluss genetischer Tests im Arbeitsbereich bekommen kön-nen", meint Jürgen Simon vom Institut für Rechtswis-senschaften der Universität Lüneburg. "Entweder kommen wir zu einer Regelung, die zwar verbietet, aber Ausnahmen zulässt, oder zu einer Regelung die zulässt, aber erheblich einschränkt."
Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen die Gendiagnostik bereits gesetzlich geregelt ist. Hier wurde ein generelles Verbot von Gentests im Arbeitsbereich durchgesetzt, was aber gerade im Hinblick auf eine mögliche Betroffenheit Dritter inzwischen bedauert wird.
"Im Grunde sind Gentests wie andere medizinische Ergebnisse anzusehen und damit auch nicht das zen-
trale Problem des gläsernen Menschen", urteilt Jürgen Simon. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts liegt das Problem nicht darin, dass der Arzt oder die Versicherung intime Personendaten erhebt. Der Knackpunkt ist ein möglicher Zusammenschluss aller dieser Daten, wofür heute die elektronische Datenver-arbeitung wichtige, aber auch unliebsame Vorausset-zungen schafft.
Die Autorin arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Braunschweig.