UNTERSUCHUNGSAUSSChuSS
Joschka Fischer verteidigt Außenminister Frank-Walter Steinmeier
Eine Leiche gibt es nicht. Das Opfer ist vielmehr ein junger Mann, der mehrere Jahre in einem Gefängnis einsitzt, das in dem Ruf steht, seine Insassen würden gefoltert. Aber ansonsten bietet der Untersuchungsausschuss ziemlich viel Krimistoff. Spuren tauchen auf, manche verlieren sich im Nebel, andere werden zu verwischen versucht. Detektive, das sind die Oppositionsabgeordneten, insistieren auf zuweilen etwas aufgebauschten Indizien, die von den auch um Gegenbeweise bemühten Anwälten der Beschuldigten, im Regierungslager in erster Linie die SPD-Vertreter, in ihrer Bedeutung angezweifelt werden.
Plötzlich tauchen unvermutete Zeugen aus dem Hintergrund auf, andere bieten im Kreuzfeuer der Fragen manchmal ein wenig überzeugendes Bild. Und im Kreis der Beschuldigten wird die Verantwortung für eventuelle Fehlentscheidungen hin- und hergeschoben. Im Saal und vor dessen Türen liefern sich Ankläger und Verteidiger Showgefechte, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Heute behauptet eigentlich niemand ernsthaft, dass der nach seiner Verhaftung in Pakistan Ende 2001 über Afghanistan nach Guantanamo gebrachte und dort bis August 2006 inhaftierte Murat Kurnaz ein Terrorist ist oder Kontakte zu Netzwerken im Umfeld von Al Kaida und der Taliban hatte. Auch für Walter Wilhelm, als Präsident des Bremer Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) im verästelten Geschehen rund um den Guantanamo-Gefangenen eine zentrale Schaltstelle, ist der in der Hansestadt aufgewachsene Türke aus heutiger Sicht zwar als Islamist, aber nicht als Terrorist oder Gefährder einzustufen. Ex-Innenstaatssekretär Claus Henning Schapper weist als Zeuge ebenfalls darauf hin, dass die zu einer von der Regierung im Herbst 2002 verfügten Einreisesperre gegen Kurnaz führende Einschätzung des Bremers als potenzielles Sicherheitsrisiko nicht bedeute, dass er ein Terrorist sei.
Die Kernfrage lautet so: Hat die damalige Regierung aus SPD und Grünen zu Recht oder zu Unrecht Kurnaz 2002 als Gefährder eingestuft, damals zwecks Verhinderung eventueller terroristischer Aktivitäten dessen aufgrund entsprechender US-Überlegungen im Raum stehende Überstellung nach Deutschland verhindert und so zu dessen jahrelangem Verbleib auf Guantanamo wesentlich beigetragen?
SPD-Obmann Thomas Oppermann beharrt darauf, dass das Votum der Geheimdienstspitzen und mehrerer Staatssekretäre unter der Verantwortung des Kanzleramtschefs und jetzigen Außenministers Frank-Walter Steinmeier Ende Oktober 2002 für eine Einreisesperre rechtlich einwandfrei und wegen des seinerzeitigen Verdachts gegen Kurnaz begründet war. Die Opposition hingegen ist überzeugt, dass die Beweislage außerordentlich dünn war.
Wenn ein Einreiseverbot auf so dürftiger Basis verhängt werde, "dann könne man das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren", meint der FDP-Abgeordnete Max Stadler. Es sei "für unser Land sehr beunruhigend", so der Liberale Hellmut Königshaus, wenn nicht abgesicherte Informationen so weitreichende Konsequenzen wie für
Kurnaz haben können.
Eine wesentliche Rolle bei der seinerzeitigen Einordnung des Türken als Gefährder, so Heinz Fromm als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) vor den Abgeordneten, spielten die vom Bremer Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) über Kurnaz nach dessen Verhaftung in Pakistan gesammelten Erkenntnisse. Wilhelm verteidigt deren Stichhaltigkeit, doch die entsprechenden LfV-Unterlagen kennen die Parlamentarier immer noch nicht. Deshalb provoziert der Ausschuss bei seinem jüngsten Treffen bewusst einen Eklat und verschiebt kurzerhand die Vernehmung so wichtiger Zeugen wie Ernst Uhrlau und August Hanning.
Der heutige BND-Chef Uhrlau, 2002 Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, und Hanning, Uhrlaus Vorgänger in Pullach und jetzt Innen-Staatssekretär, waren bei der entscheidenden Runde im Kanzleramt dabei. Erst müssen die Bremer Papiere her, auf die sich Uhrlau und Hanning damals stützten. Der Ausschussvorsitzende Siegfried Kauder (CDU): "Ohne Akten ist eine sinnvolle Zeugenvernehmung nicht möglich." Wolfgang Neskovic von der Linkspartei sieht im Aufbegehren der Abgeordneten einen "Sieg der Vernunft", der Grüne Hans-Christian Ströbele eine "Ohrfeige für die Regierung".
Warum aber wurden die offenbar zwischen Bundesinnenministerium und Bremer Innensenat pendelnden Unterlagen bislang nicht übermittelt? Hat es einfach damit zu tun, dass in den Behörden der Hansestadt "viel durcheinander geht", wie Oppermann meint? Der SPD-Obmann scheint auf den so manche Angriffsfläche bietenden LfV-Präsidenten Wilhelm ohnehin nicht gut zu sprechen zu sein, den er als "überforderten Chef einer Minibehörde" attackiert.
Die Opposition indes mutmaßt, dass die Akten noch deutlicher als Wilhelms Zeugenaussage demonstrieren, wie brüchig 2002 die Indizienkette gegen Kurnaz gewesen sei. Stadler bezweifelt, dass der Ausschuss die ominösen Akten vollständig erhalten werde. Ströbele argwöhnt, das Innenministerium könne die Dokumente zensieren. Vor den Abgeordneten verweist Wilhelm auf "Quellenangaben", nach denen Kurnaz im Umfeld einer Moschee islamis-tisch indoktriniert worden und nach Pakistan gereist sei, um in Afghanistan für die Taliban zu kämpfen.
Doch wie überzeugend sind diese "Quellen"? Immerhin wurden die Erkenntnisse über den damals 19jährigen aus zweiter und dritter Hand gesammelt. Zählte zu den Informanten auch ein gewisser "Lügenbaron", wie er amtsintern firmierte?
Wenn Stadler hinter den seinerzeitigen Erkenntnissen über Kurnaz "Hörensagen" ausmacht und Ströbele "Gerede im Umfeld einer Moschee" vermutet, dann können sie sich neuerdings auf Prominenz berufen: Der frühere Bremer LfV-Vize Lothar Jachmann zeigt sich empört, auf welch dünner Verdachtslage gegen Kurnaz entschieden worden sei. Bestätigte Informationen über geplante terroristische Aktivitäten des Türken hätten nicht existiert.
Vor der schon fast legendären "Präsidentenrunde" im Kanzleramt im Oktober 2002 hatten im Übrigen zwei BND-Beamte und ein BfV-Vertreter den Türken auf Guantanamo verhört und dabei überwiegend entlastende Einsichten gewonnen. Nach dem Urteil eines BND-Mannes ging von Kurnaz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Gefährdung aus.
Laut BfV-Präsident Fromm stieß auch der Verfassungsschützer nicht auf terroristische Kontakte seitens des Türken, allerdings hätten Zweifel an rein religiösen Motiven für dessen Pakistan-Reise fortbestanden. Schapper überrascht die Parlamentarier mit der Aussage, bei der Sitzung im Kanzleramt habe BND-Präsident Hanning nichts mitgeteilt über die Einschätzung der BND-Vernehmer, dass Kurnaz kein Sicherheitsrisiko darstelle.
Liegt die Verantwortung für die Einreise-sperre bei den Geheimdiensten, entlastet dies Steinmeier als Kanzleramtschef? Oppermann zieht eine solche Verteidigungslinie: Staatssekretäre und Minister müssten sich auf die Geheimdienstspitzen verlassen.
Wenig Erhellendes bringt der nächtliche Auftritt des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer. Einerseits verteidigt er Steinmeier wortgewaltig gegen "infame" Vorwürfe, bei Kurnaz kaltherzig entschieden zu haben. Für den Beschluss, den Guantanamo-Gefangenen wegen Sicherheitsbedenken nicht einreisen zu lassen, äußert der Grüne volles Verständnis - wobei er von diesem Votum offenbar nichts mitbekam.
Andererseits hebt Fischer hervor, wie sehr er sich damals für die Freilassung von Kurnaz eingesetzt habe, auch gegenüber US-Außenminister Colin Powell - leider sei er nicht "durchgedrungen", bei Guantanamo habe die US-Regierung "ziemlich geblockt". Der Liberale Stadler nennt den Grünen einen "Weltmeister im Eiertanz". Kristina Köhler (CDU) sieht ein "massives Abstimmungsdefizit zwischen den Ministerien".
Nicht viel nützen dürfte Steinmeier Fischers Schützenhilfe bei der Abwehr kritischer Töne, die plötzlich aus Washington zu vernehmen sind. Laut Pierre Prosper, früherer US-Sonderbeauftragter für die Überstellung entlassener Guantanamo-Häftlinge in ihre Herkunftsländer, hat die deutsche Regierung nie ein Interesse an Kurnaz bekundet, da sei "keinerlei Signal" gekommen. Die USA hätten den Bremer Türken nicht als "erhöhtes Sicherheitsrisiko" eingestuft, so Prosper, weswegen er auch "zur Freilassung vorgesehen" gewesen sei.
Oppermann spielt Prospers Bedeutung herunter: Über Freilassungen habe das Pentagon, nicht Prosper befunden, der habe für die US-Regierung als "außenpolitisches Feigenblatt fungiert, um Kritiker von Guantanamo zu beruhigen".
Das Auswärtige Amt betont, die Regierung habe sich wiederholt auf diversen Ebenen für Kurnaz eingesetzt. An einer Entlassung von Kurnaz seien die USA nicht gehindert gewesen, meint Steinmeiers Sprecher Martin Jäger: "Fünf türkische Häftlinge wurden freigelassen, warum nicht Herr Kurnaz?"
Auf diese Linie heben die seinerzeit Verantwortlichen ab: Man habe eine Einreise des Bremers nach Deutschland verhindern wollen und stattdessen für dessen Überstellung in die Türkei plädiert.. Vor dem Ausschuss räumte der frühere Staatssekretär Schapper indes ein, bei der Unterrichtung der Vereinigten Staaten über diesen Beschluss sei wohl dessen zweiter Teil nicht mitgeteilt worden.