Maliha Zulfacar
Die afghanische Botschafterin wünscht sich deutsche Hilfe beim Wiederaufbau ihres Landes. Und mehr internationalen Druck.
Frau Botschafterin, Sie waren bis vor kurzem Filmproduzentin und Professorin an der Universität in den USA. Jetzt sind Sie Diplomatin in Deutschland. Das klingt nach einer grossen Umstellung?
Das war es in der Tat. Diplomatin zu sein ist ein neues Kapitel in meinem Leben. Und ich lerne, indem ich diese Tätigkeit ausübe. Anderereseits habe ich auch nicht Film studiert, bevor ich Filmemacherin wurde. Als ich im Jahr 2000 in Afghanistan war, zusammen mit einer Gruppe französischer Feministinnen, besuchten wir den ehemaligen Führer der Nord-Allianz Ahmad Shah Massoud und waren für zwei Wochen seine Gäste. Bei der Gelegenheit besuchte ich benachbarte Dörfer in Nordafghanistan und fing an, die Menschen zu interviewen. Damals interessierte sich kaum einer für Afghanistan. Der Film kam unmittelbar vor dem 11. September 2001 heraus und fand ein gutes Echo beim Publikum.
Sie sind eine der wenigen Botschafterinnen, die Afghanistan im Ausland hat. Welche Impulse können wir von Ihnen erwarten?
Ich betrachte mich als Frau in keiner Weise als besser oder schlechter. Ich denke, es geht darum, als Botschafterin kompetent zu tun, was getan werden muss, unabhängig vom Geschlecht. Botschafterin in Deutschland zu sein ist eine große Herausforderung. Deutschland hat den höchsten Anteil an afghanischen Flüchtlingen im europäischen Vergleich und ist eines der Schlüssel-Länder beim Wiederaufbau in Afghanistan.
In welchem Sinn könnten die Beziehungen erweitert werden ?
Ich wünsche mir zum Beispiel, dass Beziehungen, die es schon in den 20er-Jahren gab, wiederaufleben. Zum Beispiel der wöchentliche Flug der Lufthansa nach Afghanistan. Zum jetzigen Zeitpunkt existiert kein direkter Flugverkehr zwischen Deutschland und Afghanistan. Aber wir leben wir in einer globalen Welt. Und es leben über 100.000 Afghanen in Deutschland. Deshalb müssen die Verbindungen auf allen Ebenen enger werden.
In den 60er- und 70er-Jahren gab es eine Menge afghanischer Studenten in Deutschland, einige von ihnen sind mittlerweile Minister in der afghanischen Regierung. Sollte es heute mehr Möglichkeiten für junge Afghanen geben, in Deutschland zu studieren?
Wir brauchen dringend mehr Bildungsangebote für junge Menschen. Afghanistan hat noch nicht die nötigen Kapazitäten. Zur Zeit machen rund 80.000 junge Menschen in Afghanistan ihren Schulabschluss. Aber das Hochschulsystem kann nicht einmal 25.000 davon aufnehmen. Wir haben es bildungspolitisch mit einem "Ground Zero" in Afghanistan zu tun. Ich wünsche mir von der deutschen Regierung, dass sie in Afghanistan hilft, Berufsschulen wieder aufzubauen.
Zahlreiche Afghanen, die länger in Deutschland gelebt haben, sind mittlerweile in ihr Land zurückgeschickt worden. Die Situation in Afghanistan erlaube das, so die Begründung. Stimmen Sie dem zu?
Vor allem aus den Nachbarländern Pakistan und Iran sind binnen weniger Jahre mehr als vier Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt. Aber die Regierung kann für viele davon keine Unterkunft garantieren, keine Arbeit und keine passende Ausbildung. Das gilt auch für jene, die aus Deutschland zurückkehren. Viele der Rückkehrer erhoffen sich mangels wirtschaftlicher Alternativen im Rest des Landes Arbeit in Kabul. Das erhöht den Druck auf die Regierung und es verschärft die labile Gesamtlage. Ich befürworte ist eine Rückkehr, die schrittweise und freiwillig ist. Rückkehrer, die aus Zwang zurückkehren und dann nicht zurecht kommen, können vor dem geschilderten Hintergrund im Extremfall ein Potenzial für aufständische Gruppierungen darstellen.
Die afghanische Regierung hat wiederholt erklärt, dass sie ein größeres Mitspracherecht bei der Vergabe der internationalen Hilfsgelder wünscht. Die US-Regierung und die EU haben gerade weitere finanzielle Zusagen in Aussicht gestellt. Wurde ihrem Wunsch dabei Rechnung getragen?
Das ist in der Tat eine konkrete Sorge. Viele Afghanen sehen, dass viel Geld für den Wiederaufbau bereit gestellt wird und fragen sich, was damit geschieht. Lediglich fünf Prozent der Hilfsgelder sind an die afghanische Regierung gegangen und weitere 20 Prozent in Projekte, die gemeinsam mit internationalen Organisationen durchgeführt wurden.
Ziel der afghanischen Regierung ist es, aktiver an der Verteilung der Hilfsgelder beteiligt zu sein.
Das heißt, Sie warten immer noch auf konkrete Verbesserungen?
Viele Menschen in Kabul haben immer noch keinen Strom. Nur sechs Prozent haben Licht und fließend Wasser. Als ich 1979 Kabul verließ, hatte die Stadt 500.000 Einwohner. Heute sind es fast vier Millionen. Das sorgt für einen enormen Druck, was die nötigen Stromkapazitäten angeht. Deshalb muss es mehr wirtschaftliche Großprojekte im Rest des Landes geben, etwa kleine Landwirtschaftsprojekte, die einen Anreiz für die Menschen darstellen, die Stadt zu verlassen und sich außerhalb Kabuls zu engagieren.
Wie beurteilen Sie die Lage im Süden des Landes?
Die Lage ist dort besonders kritisch wegen der gemeinsamen Grenze mit Pakistan. Geografisch gesehen ist das eine offene Flanke für terroristische Aktivitäten, die ihren Ursprung im Nachbarland haben. Viele der Schulen, die angegriffen worden sind, viele der Polizei-Stationen, die überfallen wurden liegen auf afghanischer Seite in dieser süd-östlichen Region.
ISAF und US-Streitkräften bemühen sich, die "Herzen und Gedanken" der Menschen im Süden zu gewinnen.
Der angemessene Umgang mit den Menschen, die in der Region wohnen, der Respekt ihrer kulturellen Normen und Werte ist und bleibt ein kritischer Punkt. Man wird die Herzen dieser Menschen nur dann gewinnen, wenn man sie in Projekte des zivilen Wiederaufbaus einbindet und ihnen Arbeit gibt.
Deutschland wird sich wohl mit Tornado-Flugzeugen engagieren. Wird es damit zu einer kriegführenden Partei?
Es sind rund 3.000 deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert, überwiegend im Norden des Landes. Die Tornados dienen der Aufklärung gegenüber Bewegungen aufständischer Gruppen. Indem mehr Aufklärung über deren Bewegungen stattfindet, besteht die Möglichkeit, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verhindern.
Setzt Deutschlands veränderte Rolle in Afghanistan Soldaten der Bundeswehr und deutsche Zivilisten vor Ort einer größeren Gefahr aus?
Die Stationierung deutscher Soldaten in Afghanistan bleibt eine interne Angelegenheit der Bundesrepublik und der NATO. Das Erstarken aufständischer Gruppen betrifft nicht nur die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung. Es hat Auswirkungen auf die Stabilität der Region und des Westens. Zur Zeit sind Soldaten aus 37 verschiedenen Staaten im Land stationiert. Auch ihre Leben stehen auf dem Spiel. Ich denke, der Westen muss mehr Druck machen auf Pakistan, damit dessen Regierung im Kampf gegen Terror kooperiert. Parallel dazu muss der Ausbildung und Finanzierung terroristischer Trainingslager auf pakistanischer Seite der Boden entzogen werden.
Das afghanische Parlament hat ein Amnestie-Gesetz verabschiedet, das die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen 25 Jahre straffrei stellt. Geschieht das im Einklang mit internationalem Recht?
Eine Amnestie kann nur von den Opfern der Grausamkeiten der letzten drei Jahrzehnte selbst ausgesprochen werden. Das Ganze ist ein Vorgang, der in Einklang mit islamischen Prinzipien und dem Recht der Scharia sowie in Einklang mit der internationalen Konvention zum Schutz der Menschenrechte evaluiert werden muss.
Das Interview führte Martin Gerner.