Rede von Dr. Jürgen Meyer im Europäischen Konvent am 15. April 2002
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über zwei Themen, die an sich zu unterscheiden sind, nämlich das Thema der Aufgaben und das Thema der Kompetenzen der Europäischen Union. Zum Thema Aufgaben möchte ich feststellen, dass wir nicht bei Null beginnen, sondern dass wir eine Reihe von Verträgen und ein sehr modernes Dokument haben, in dem Wichtiges zu den Aufgaben der Union steht. Ich meine die Grundrechtecharta, die in vielen Sitzungen des ersten Konvents erarbeitet wurde. In dieser Grundrechtecharta bekennen wir uns zur Sicherung des Friedens, zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, zum besseren Umweltschutz unter Wahrung des Grundsatzes der Nachhaltigkeit und zum Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit unter Wahrung des Grundwertes der Solidarität. Ich finde, das alles sollten wir als Grundlage für unsere weitere Arbeit und für die Diskussion über Kompetenzen ansehen.
Was die Kompetenzen angeht, also die Mittel, um die genannten Aufgaben zu erfüllen, ist aus meiner Sicht die Dreiteilung in ausschließliche, konkurrierende und ergänzende Kompetenzen überzeugend. Ich hoffe sehr, dass es uns bei den konkurrierenden Kompetenzen gelingt, das Subsidiaritätsprinzip so zu formulieren, dass die Menschen es verstehen und dass es präziser ist als im Amsterdamer Vertrag. Ich bin nicht der Meinung, dass wir über diese drei Kategorien hinaus einen Negativkatalog brauchen, der festlegt, wofür die Europäische Union nicht zuständig ist, denn ein solcher Katalog könnte zukünftige Entwicklungen hemmen und das Zusammenwachsen Europas, das wir doch gemeinsam wollen, behindern.
Mehr Verantwortung sollte die Europäische Union in den Bereichen der zweiten und dritten Säule übernehmen. Was die dritte Säule angeht, stimme ich allen zu, die sagen, dass wir bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zusätzliche Kompetenzen brauchen. Was die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angeht, braucht man diese allerdings auch, wenn die Europäische Union wirkungsvoller und mit einer Stimme sprechen soll. Das bedeutet, wir müssen uns auch seriös mit der Frage auseinandersetzen, ob man überhaupt die zweite und dritte Säule als von der ersten Säule gesonderte Strukturen beibehalten sollte.
Wichtig ist mir aber ein Letztes: Alle Versuche, Kompetenzen durch einen umfassenden Katalog festzulegen in der Hoffnung, dass dann der Europäische Gerichtshof nur noch zu subsumieren brauche, sind nach meiner Auffassung zum Scheitern verurteilt. Die Welt und auch Europa sind mehr als ein Amtsgericht. Wir haben Verfahren, um Subsidiarität festzustellen, aber die bisherigen Verfahren sind offensichtlich unbefriedigend und bürgerfern. Beamte der Kommission und Beamte des Rates diskutieren oft monate-, ja jahrelang über Kompetenzfragen, vermischt mit dem Inhalt künftiger Regelungen, so dass es in den bestehenden nicht vorangeht. Was wir brauchen, ist ein politisch verantwortliches Gremium, das rasch Entscheidungen über diese Kompetenzfragen trifft, und in diesem Gremium sollten diejenigen sein, die von der Sache am meisten verstehen, also die Gesetzgeber und nicht die Beamten. Das bedeutet, dass das Europäische Parlament und die Nationalen Parlamente in diesem Gremium Entscheidungen politisch verantwortlich treffen sollten. Wenn dies nicht geschieht, ist demnächst die Wahl eines Richters zum Europäischen Gerichtshof viel wichtiger als die Wahl von einem Dutzend Europaabgeordneter. Europa ist kein Gericht. Wir wollen ein Europa der Parlamente, denn wir wollen ja alle mehr Demokratie wagen.