Rede von Dr. Jürgen Meyer im Europäischen Konvent am 06. Juni 2002
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde durch eine kurze Antwort auf die fünf Fragen des Präsidiums den Eindruck wieder zu verstärken versuchen, dass es ein hohes Maß an Übereinstimmung nicht nur in allgemeinen Fragen - wie der Vergemeinschaftung der dritten Säule oder der Stärkung von Europol -, sondern auch in konkreten Einzelfragen gibt.
Erstens: Die europäischen Staatsbürger erwarten - und ich finde, zu Recht -, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten respektiert werden, und zwar auch von den unvermeidbar immer mächtiger werdenden Organen der EU. Deshalb muss die Europäische Charta der Grundrechte verbindlich werden, und deshalb wird der Europäische Gerichtshof eine zunehmend wichtige Rolle übernehmen. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit ist uns jedoch vertraut; die europäischen Staatsbürger erwarten auch Sicherheit, Schutz vor Verbrechen. Das bedeutet für Europa, dass sie geschützt werden wollen vor dem, was man als europäische Straftaten bezeichnen kann, also Verbrechen, die grenzübschreitend sind und deshalb auch nur grenzüberschreitend effektiv bekämpft werden können. Dazu gehören bekanntlich neben Terrorismus, organisierter Kriminalität und Geldwäsche auch die Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften. Das alles bedeutet nicht, dass wir ein europäisches Strafgesetzbuch brauchen. Aber wir brauchen für den Bereich der europäischen Straftaten insoweit eine Annäherung, dass das "Ob" der Strafbarkeit EU-weit geklärt ist, also das, was man gelegentlich als beiderseitige Strafbarkeit bezeichnet, und dass die Straftaten ernst genommen werden. Dazu könnten vereinbarte Mindeststrafen gehören. Es geht also um die Fortsetzung des Weges "Trevi, Maastricht, Tampere" mit der Parole der spanischen Präsidentschaft "Mehr Europa".
Zweitens: Dazu gehört eine Verstärkung des Instrumentariums durch die europäische Staatsanwaltschaft, durch die Verstärkung von Eurojust und auch von OLAF, denn was unsere Steuerzahler für Europa aufbringen, sollte nicht in zweifelhaften Kanälen verschwinden, sondern diese Gelder und die Anstrengungen unserer Steuerzahler müssen geschützt werden.
Drittens: Die gegenwärtigen Strukturen der Justiz- und Innenpolitik sind ein Labyrinth von Verfahren. Es geht um Instrumente, zwischen denen sich auch Experten verlaufen können. Deshalb sollten wir, wie von vielen gefordert, die dritte Säule vergemeinschaften. Die Auffassung, intergouvernementale Verfahren seien effektiver, ist unter anderem dadurch widerlegt, dass es mehr als zehn Jahre gedauert hat, bis die Europolkonvention ausgearbeitet und ratifiziert wurde. Durch Vergemeinschaftung - so hoffe ich - wird es gelingen, beim Asyl eine gemeinsame Lastenverteilung zu erreichen und auch bei der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen mehr als bisher die Möglichkeiten der Integration der einzelnen aufnehmenden Staaten zu berücksichtigen.
Viertens: Demokratische Legitimation steigt durch Vergemeinschaftung. Die nationalen Parlamente können dadurch mehr mitarbeiten als bisher, indem sie verstärkt das Instrument der Richtlinie, die national umgesetzt werden muss, wie zum Beispiel die Geldwäscherichtlinie, mit entsprechenden Spielräumen bedienen. Verordnungen oder gar intergouvernementale Übereinkommen tragen dem nicht ausreichend Rechnung.
Fünftens: Gemeinsame Organe zum Schutz der Grenzen sind meines Erachtens eine Selbstverständlichkeit. Ich habe sehr wohl gehört, dass von polnischer Seite um Hilfe gebeten wird. Wir können die neue polnische Außengrenze nicht als alleinige Angelegenheit Polens ansehen, sondern das ist eine gemeinsame europäische Aufgabe. Im übrigen ist das, was zu Europol gesagt worden ist, aus meiner Sicht zu unterstützen. Es geht nicht darum, dass hier nationale Souveränitäten verletzt werden sollen, sondern exekutive Befugnisse wie Festnahme, Durchsuchung oder Beschlagnahme können nur gemeinsam mit nationalen Organen ausgeübt werden. Das wahrt die nationale Souveränität.