Herzstück der Demokratie
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Der Deutsche Bundestag – das viel zitierte "Herz unserer Demokratie"– feiert in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag. Am 7. September 1949 trat der erste Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Damit wurde der Grundstein gelegt für das erfolgreichste Stück Parlamentarismus, das es in Deutschland je gegeben hat. In der Geschichte des deutschen Parlamentarismus findet sich keine Zeit, die von solcher Kontinuität, Stabilität und Verwurzelung in der Bürgergesellschaft geprägt war. Freilich gilt das nur für die westdeutsche Bundesrepublik, denn den Deutschen in der DDR blieb eine stabile, pluralistische, auf individueller Freiheit und Menschenwürde gegründete Demokratie lange Zeit versagt. Erst mit der friedlichen Revolution 1989, der ersten freien Wahl zur Volkskammer im März 1990 und der Vereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 in freier Selbstbestimmung konnte ein gesamtdeutsches Parlament Verantwortung für ganz Deutschland übernehmen.
Der Deutsche Bundestag hat sich – dies lässt sich nach 50 Jahren Frieden in Deutschland, zehn Jahren nach dem Fall der Mauer und nach fast neun Jahren deutscher Einheit mit Fug und Recht sagen – in guten wie in schwierigen Zeiten bewährt.
Unser Parlament hat in dem zurückliegenden halben Jahrhundert eine umfangreiche gesetzgeberische Arbeit geleistet und wichtige Weichen für unser Land gestellt: die Überwindung des Zusammenbruchs von 1945 mit seinen zunächst ausweglos erscheinenden sozialen und wirtschaftlichen Nöten; die Westanbindung der Bundesrepublik und die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas; die Erfüllung des Verfassungsauftrages, einen modernen und sozialen Rechtsstaat aufzubauen, und schließlich die deutsche Einheit.
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Bei all diesen Weichenstellungen wurde in oft hitzigen und leidenschaftlichen Debatten im Deutschen Bundestag um Lösungen gerungen. Schnell wurde deutlich: Demokratie kann sehr mühsam sein. Entscheidungen zu treffen, zwei miteinander konkurrierende Ziele gegeneinander abzuwägen, den Konsens zu suchen, ist oft leichter gesagt als getan. Unser Grundgesetz hält aber diesen Streit nicht nur aus, sondern es ist darauf angelegt. Der parlamentarische, der öffentliche Streit als Grundlage und Voraussetzung der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten ist die politische Ordnung, die unserem freiheitlichen Verständnis von Individuum und Gesellschaft Rechnung trägt. Das Grundgesetz garantiert Meinungsfreiheit, Pluralismus und Koalitionsfreiheit. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Streits, der gleichzeitig die Chance bietet, möglichst viele Interessen bei der abschließenden Entscheidung zu berücksichtigen. Nur wenn dies gelingt, gelingt die Gestaltung einer friedlichen und stabilen Bürgergesellschaft.
Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist es – unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit – insgesamt eindrucksvoll gelungen, eine gute Kultur des Streitens zu entwickeln. Gerade in den Anfangsjahren der jungen Bundesrepublik war ihnen aus den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur bewusst, wie wichtig eine stabile Demokratie und die Teilhabe der Menschen daran ist. Unser Parlament hat seine Fähigkeit, Kompromisse im Sinne des Gemeinwohls zu schließen, oft unter Beweis gestellt. Denn: In gesellschaftlichen und politischen Dingen gibt es keine "absolute" Wahrheit; höchstens gibt es die Wahrheit, dass es keine endgültige Wahrheit gibt. Diese Erkenntnis zwingt zur Bereitschaft zu Kompromissen. Ohne sie gäbe es keine parlamentarische Demokratie.
Trotz der oftmals laut werdenden Kritik am Parlament, die es manchmal verdient, manchmal benötigt und jedenfalls immer verträgt, darf festgestellt werden: Der Deutsche Bundestag ist im guten Sinne des Wortes ein Arbeitsparlament. Hier wird engagiert um beste, um durchsetzbare, um sachgerechte, um verantwortbare Lösungen gerungen. Es wird hart gearbeitet.
Seit dem 19. April 1999 ist unser Parlament, das Herzstück der Demokratie, wieder in Berlin zu Hause. Arbeits und Handlungsfähigkeit, Kontinuität und Verlässlichkeit, Lösung alter und neuer Probleme, Bewältigung von Erblasten und von neuen Herausforderungen werden auch die künftigen Handlungsmaximen des Deutschen Bundestages sein.
Der Übergang von einer klassischen Industriegesellschaft in eine Dienstleistungs und Mediengesellschaft, das unbewältigte Problem der Massenarbeitslosigkeit, die daran geknüpften unabweisbaren Umbauerfordernisse für unsere sozialen Sicherungssysteme – all dies markiert Herausforderungen, die nach neuen, innovativen, auch unkonventionellen Lösungen geradezu schreien. Die Antworten der Politik sind in Zeiten der Globalisierung sicher nicht einfacher geworden. Aber die Menschen erwarten mit Recht von ihrem demokratisch gewählten Parlament, dass es die Herausforderung ernsthaft annimmt. Die Politik muss gerade in einer Zeit beschleunigten Wandels und Auseinanderdriftens gesellschaftlicher Interessen ihre Gestaltungskraft beweisen. Sonst nimmt der Politikverdruss wieder zu, der wiederum Nährboden des Extremismus ist. Es liegt an der Überzeugungskraft demokratischer Politik, die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Toleranz lebendig zu halten, damit den Bürgerinnen und Bürgern bewusst bleibt, was ihnen persönlich wie gesellschaftlich verloren geht, wenn Feinde der Freiheit wirklich Einfluss gewinnen würden.
Wolfgang Thierse
Präsident des Deutschen Bundestages