Glücksfall 50 Jahre Bundestag
VON CARLCHRISTIAN KAISER
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Die ruhige Würde, mit der sich der Deutsche Bundestag von Bonn verabschiedet hat, sie hat mir gut gefallen. Kein falsches Pathos, kein verquollener Zungenschlag in der letzten Sitzung Anfang Juli am Rhein. Stattdessen in den Reden viel von eben dem nüchternen Augenmaß und der pragmatischen Selbstbescheidung, die an den 50 Jahren Bonner Politik gerühmt werden. Und dankbare Erinnerung an die günstigen Umstände, die den Aufbau der zweiten deutschen Demokratie begleitet haben.
In der Tat: Dass die neue Republik im Westen des Landes unter dem Imperativ des Wiederaufbaus nach den Kriegsverheerungen rasch zu wachsendem Wohlstand gelangte, dass sie in die westliche Staatengemeinschaft aufgenommen wurde und die Weltmacht USA zum Bündnispartner bekam, dass es zwar noch keinen sicheren Frieden, aber auch keine neuen kriegerischen Verwicklungen gab – wann war dies alles je zuvor in der deutschen Geschichte einmal zusammengekommen? Glücklicher konnten die Umstände nicht sein, gleichgültig, ob die weltpolitische Konstellation sie vorzeichnete oder ob sie erst geschaffen wurden.
Doch so entscheidend sie waren – die ganze Erklärung für die Gunst der letzten 50 Jahre sind sie doch nicht. Vollständig wird das Bild, wie mir scheint, erst durch den guten Stern, unter dem auch gestanden hat, was die Form wie das Wesen der neuen Republik ausmachen sollte: ihre demokratische Verfassung und strikt parlamentarische Ordnung.
Dieser gute Stern zählt umso mehr, als die Mütter und Väter des Grundgesetzes das demokratischparlamentarische Staatssystem ja so konsequent und stabil wie irgend möglich angelegt haben. Sie zogen damit die Lehren aus jenen Fehlentscheidungen, die sich zwischen 1918 und 1933 eingestellt und zur endgültigen Zerstörung der Weimarer Republik durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erheblich beigetragen hatten.
Vor allem ging es ihnen darum, im Vergleich zum Reichstag der Weimarer Jahre die Stellung des Bundestages zu stärken und zu festigen. Seine zentrale Rolle und Legitimation unterstrichen sie besonders dadurch, dass er zum einzigen Verfassungsorgan wurde, das unmittelbar vom Volk gewählt wird. Die Direktwahl des Staatsoberhaupts, die gegen Ende der Weimarer Republik zu einer verhängnisvollen Mit und Gegenregentschaft geführt hatte, wurde von der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung abgelöst, in der die Mitglieder des Bundestages die Hälfte stellen. Auch andere plebiszitäre Volksbefragungen sind mit einer einzigen Ausnahme bisher im Grundgesetz nicht vorgesehen. Statt dessen gilt das Prinzip der repräsentativen Demokratie, nach dem der Volkswille durch Wahlen auf das Parlament übergeht. Die Architekten der Bonner Verfassung haben es konsequent durchgehalten.
Mehr noch: Neben den klassischen Aufgaben der Gesetzgebung und Regierungskontrolle ist es allein Sache des Bundestages, den Kanzler zu wählen und unter Umständen auch zu stürzen. Aber er kann ihn bekanntlich nur zu Fall bringen, indem er einen Nachfolger wählt. So geht mit der beherrschenden Stellung des Parlaments der Zwang zu möglichst stabilen Verhältnissen einher. Nicht anders bei den hohen Hürden, die das Grundgesetz vor einer Auflösung des Bundestages und Neuwahlen errichtet. Wie das Parlament einen Regierungschef nicht einfach "in die Wüste" schicken kann, so soll es seinen Auftrag auch nicht kurzerhand an die Wähler zurückgeben können. Seine zentralen Rechte korrespondieren mit der Pflicht, sie keinesfalls lax zu handhaben oder gar zu missbrauchen.
Wie aber würde sich die einzigartige Konstruktion mit dem Parlament an der Spitze bewähren und der Wirklichkeit standhalten – in einem Land, das auch seine politische Ordnung neu aufbauen und erst lernen musste, mit ihr umzugehen? Als ich zu Anfang der sechziger Jahre als Zeitungskorrespondent nach Bonn kam, bot der Bundestag ein übersichtliches und stabiles Bild, mit einer Regierungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. und der SPD als Opposition. Doch das war ja nicht schon immer so gewesen. Vielmehr nahm sich das Ergebnis der ersten Bundestagswahl 1949 unentschieden und buntscheckig aus. Die Abgeordneten der beiden großen Parteien, hier die Christlichen Demokraten, dort die Sozialdemokraten, standen sich fast gleich stark gegenüber, und auch die Liberalen hatten eine beträchtliche Zahl von Mandaten erhalten. Darüber hinaus aber entfielen auch auf eine Reihe kleiner und kleinster Parteien bis hin zu parteilosen Abgeordneten nicht wenige Sitze.
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Konrad Adenauer bei der Vereidigung als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik durch Erich Köhler am 20. September 1949 |
Von diesem vielgestaltigen Parlament wurde Konrad Adenauer von der CDU mit nur einer Stimme, seiner Stimme, zum ersten Bundeskanzler gewählt. Anfangs konnte sich seine Koalitionsregierung aus der Union, der F.D.P. und der damaligen Deutschen Partei (DP) nur auf eine Majorität von ganzen sechs Stimmen stützen. Während der ersten Wahlperiode des Bundestages von 1949 bis 1953 war die politische Landschaft ziemlich unübersichtlich.
Aber schon bald begann sich das Bild zu ändern. Bereits bei der zweiten Bundestagswahl 1953 gelang es den meisten Kleinparteien, sofern sie überhaupt noch bestanden oder sich bewarben, nicht mehr, ins Parlament zurückzukehren.
Eine Ausnahme, in der sich alle Nachkriegsprobleme widerspiegelten, bildete allein der neu gegründete "Gesamtdeutsche Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (GB/BHE), der mit einem relativ beachtlichen Ergebnis zum Kreis der Bundestagsparteien hinzukam. Herausragend war, dass die CDU/CSU sehr starke Gewinne erzielte, die sie sogar an die absolute Mehrheit heranbrachten. Zugleich hielten sich jedoch die Stimmenverluste von SPD und F.D.P. in Grenzen. So zeichnete sich schon zu Beginn der zweiten Wahlperiode jenes Grundmuster ab, das die weitere Entwicklung auf lange Zeit prägen sollte: die Konzentration auf die Union, die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten, die bald fast alle abgegebenen Stimmen erhielten. Im dritten Bundestag von 1957 bis 1961 war außer ihnen nur noch die DP vertreten. Und danach verhalfen die Wähler über nicht weniger als sechs Wahlperioden hinweg allein CDU/CSU, SPD und F.D.P. zu Abgeordnetensitzen – bis sie 1983 auch die Grünen ins Parlament schick ten und dann nach der Wiedervereinigung 1990 noch die PDS hinzukam.
Natürlich hat die Entwicklung zum einen mit jener schrittweise verschärften Wahlgesetzklausel zu tun, die den Einzug in den Bundestag vom Gewinn von mindestens fünf Prozent der Stimmen im Bundesgebiet oder dreier Direktmandate abhängig macht. Zum anderen aber haben die Wähler entscheidend dazu beigetragen, dass das parlamentarische Parteienspektrum nicht zersplitterte. Der Konzentrationsprozess, den sie mitbewirkten, fiel auch deshalb besonders ins Gewicht, weil sie mehr und mehr zur Wahlurne gingen – bis hin zu den Rekordmarken von über 90 Prozent, die die Wahlbeteiligung in den siebziger Jahren erreichte.
Mit einem Satz: Immer mehr Wähler versammelten ihre Stimmen auf immer weniger Parteien. Die anfangs zerklüftete politische Landschaft und das mit durchaus noch nicht sicheren Perspektiven ins Leben gerufene parlamentarische System ordneten und stabilisierten sich. Und vor allem: Durch die wachsende Wahlbeteiligung gewann die Staatsform der jungen Republik auch immer mehr Legitimität. In alledem besteht für mich das erste wesentliche Merkmal der Bundestagsgeschichte, die ja immer auch eine Wahl und Wählergeschichte ist.
Der gute Stern über der Entwicklung des parlamentarischen Systems leuchtete auch deshalb, weil der Konzentrations und Stabilisierungsprozess keineswegs zu Stillstand und Verfestigung führte. Im Gegenteil, innerhalb dieses Prozesses hat es viel Wandel gegeben. Zwar hat die Union lange Zeit die Oberhand behalten. Aber ihre zu Beginn scheinbar so unerschütterliche Stellung hat sie nicht behaupten können. Schon von 1966 bis 1969 musste sie ja in der Großen Koalition die Macht mit der SPD teilen. Darauf folgte bis 1982 das Bündnis zwischen den Sozialdemokraten und den Freien Demokraten, dann die Rückkehr zu der Anfangskoalition aus der Union und den Liberalen. Und seit dem vergangenen Jahr sind die Republik und der Bundestag gleich um zwei weitere Erfahrungen reicher. Nicht nur, dass nun die SPD und die Grünen miteinander regieren, sondern auch, dass es ihnen, ein Novum, gelungen ist, direkt aus der Opposition heraus die Macht zu erobern.
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Bundeskanzler Ludwig Erhard nimmt zu seinem 67. Geburtstag die gratulation seines Vorgängers im Amt, Konrad Adenauer endgegen - 1964. |
Das alles bedeutet auch, dass mit Ausnahme der PDS alle Bundestagsparteien die beiden Grundrollen kennen. Die Regierungs oder Oppositionsbank blieb für sie kein ewiges Glück oder Pech. Vielmehr konnte, genauer: musste getauscht werden. Die Plätze auf der einen oder anderen Seite sind fast allen vertraut, ebenso der Wechsel von Koalitionspartnern. Und nicht zuletzt: Tausch und Wechsel fanden in aller Regel nicht in kurzatmigen Abständen statt, sondern folgten meistens Wählerentscheidungen, die, entgegen allen Befunden über den wachsenden Wankelmut der Stimmbürger, einer langen Dünung glichen. Wer zur Regierung bestellt oder in die Opposition verwiesen wurde, konnte oder musste sich bisher auf viele Jahre einrichten. Immer wieder Wandel innerhalb eines stabilen Rahmens, deshalb auch viele gemeinsame Rollenerfahrungen bei fast allen Bundestagsparteien: Das ist für mich das zweite wichtige Merkmal der Parlamentsgeschichte.
Die Schwester der Stabilität hieß Kontinuität. Aufs Ganze gesehen, zeigt sie sich sowohl in der Chronik der Bundestagsdebatten als auch der Gesetzgebung. Grundstürzende Änderungen, Anläufe zu einer ganz anderen Politik hat es nicht gegeben. Wohl wahr, dass sich besonders in der Anfangszeit fundamental verschiedene Positionen gegenüberstanden. Zumal, wenn es um die Westintegration und die soziale Marktwirtschaft ging, schieden sich die Geister. Regierungskoalition und Opposition, namentlich die Union und die Sozialdemokraten, haben sich damals nichts geschenkt. Ebenso ging es später oft sehr zugespitzt und kontrovers zu, vor allem vor und nach Regierungswechseln oder bei neu auftauchenden Themen und Problemen. Und auch bei der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hat es ja grundsätzliche Kontroversen gegeben, besonders über den richtigen Verfassungsweg dorthin.
Aber: Waren die Entscheidungen einmal gefallen, überwog die sachliche Detailarbeit an deren Ausgestaltung – nicht zu reden davon, dass sich die Bewältigung der Kriegsfolgen ohnehin von selbst verstand. Viele wichtige Gesetzesbeschlüsse kamen einstimmig oder mit großer Mehrheit zustande. Grundsatzarbeit, aber zugleich Suche nach Kompromissen und pragmatischen Lösungen: Das wurde zum Kennzeichen der Parlamentsberatungen.
Dazu trug auch bei, dass sich ein strikter Konfrontationskurs gegenüber der Regierung, zu dem sowohl die Sozialdemokraten als auch die Union am Anfang ihrer ersten Oppositionsperioden in den fünfziger und siebziger Jahren neigten, nicht ausgezahlt hat, weder bei den Wählern noch in der Sache. Als Folge stellte sich, als herausragendes Beispiel, etwa die SPD 1960 auf den Boden der bis dahin von der CDU/CSU geschaffenen Tatsachen, vor allem in der Westpolitik. Umgekehrt hat die Union, als sie 1982 die Macht zurückerhielt, die von der sozialliberalen Koalition betriebene Ost und Deutschlandpolitik übernommen und weiterentwickelt. Konstruktiver Wettbewerb erwies sich als besser denn ein absolutes Nein. Noch jede neue Koalition und Regierung hat, bei allen unterschiedlichen Akzenten, auf ihrer Vorgängerin aufgebaut. Daraus entstand, über lange Spannen, Kontinuität – in meinen Augen das dritte wichtige Merkmal der Bundestagsgeschichte.
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Berliner Jungsozialisten demonstrieren gegen die Notstandsgesetze - 1968 |
Gar keine Krisen? Aber ja. Wann immer es in der ersten Zeit zu Veränderungen und Verwerfungen, Wechseln und Wegbiegungen kam, war die Nervosität noch groß. Als die Kanzlerschaft 1963 von Adenauer an Ludwig Erhard überging, schrieb die "Neue Zürcher Zeitung" von einem lange gefürchteten Moment, der "die deutsche Demokratie, ihr parlamentarisches System und insbesondere ihre Führung und Führungsequipe vor eine Bewährungsprobe stellen wird, über deren Ausgang heute keine Prognose möglich ist."
Natürlich war diese Sorge von der Ablösung des großen Gründungskanzlers bestimmt und davon, dass sein Widerstand gegen den ungeliebten Nachfolger zu einem krisenhaften Hin und Her geführt hatte. Aber wenn sie heute seltsam übertrieben erscheint, dann doch deshalb, weil die Republik und ihr Parlament inzwischen längst die Erfahrung gemacht haben, dass die Mechanismen durchaus taugen, die das Grundgesetz für schwierige Situationen und Krisenfälle bereithält.
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Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt am 27. April 1972 gratuliert Rainer Barzel, der Kanzlerkandidat der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Bundeskanzler Willy Brandt. |
Welche Aufregung, als 1972 im Zuge der dramatischen Auseinandersetzungen um die neue Ostpolitik die schmale Majorität des SPD/F.D.P.Bündnisses durch den Wechsel mehrerer Abgeordneter zur CDU/CSUOpposition bröckelte, als deren Versuch, Bundeskanzler Willy Brandt zu stürzen, zwar nur um Haaresbreite scheiterte, es dann aber zu einem Stimmenpatt kam! Doch nach einigen Rochaden beschritten alle Fraktionen im gegenseitigen Einverständnis den Ausweg, den die Verfassung bot. Nach einer wie verabredet abschlägig beschiedenen Vertrauensfrage Brandts machte der Bundespräsident von seinem dann in Kraft tretenden Recht Gebrauch, den Bundestag aufzulösen. Die folgenden Neuwahlen schufen wieder stabile Mehrheitsverhältnisse, klar und eindeutig zugunsten der SPD und F.D.P..
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Helmut Schmidt gratuliert seinem Amtsnachfolger Helmut Kohl - 1982. |
Zehn Jahre später geriet ihr Bündnis durch zunehmende Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschafts und Sicherheitspolitik in Agonie. Nun bewährte sich das 1972 vergebens hervorgeholte Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums, des Kanzlersturzes durch die Wahl des Nachfolgers. Nachdem die CDU/CSU und F.D.P. eine neue Koalition vereinbart hatten, wurde der damalige Regierungschef Helmut Schmidt von Helmut Kohl, bis dahin an der Spitze der Opposition, abgelöst.
In beiden Fällen konnte die verfahrene Lage gemeistert werden, ohne dass neue schwerwiegende Probleme entstanden. Mehr noch: Aus manchen Schwierigkeiten und Krisen ist das Parlament sogar gestärkt hervorgegangen. Als ich nach Bonn kam, zitterte noch die Erregung über die gerade ausgestandene "Spiegel"Affäre nach. Die angeblich wegen Landesverrats gegen das Magazin unternommenen Regierungsaktionen hatten nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Bundestag zu heftigen Reaktionen geführt, weit über die Fraktionsgrenzen hinweg. Die Pressefreiheit wurde zum großen Thema. Die meisten Abgeordneten waren aufgebracht, besonders durch die Hinhaltetaktik des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß. Je länger die Regierung auswich, desto mehr bestanden Parlamentarier aus allen Lagern auf präzisen Auskünften. Am Ende traten die F.D.P.Minister zurück, um eine Regierungsumbildung notwendig zu machen, bei der Strauß aus dem Kabinett ausschied. In der Quintessenz hieß das nichts Anderes und Geringeres, als dass die Regierung vom Bundestag zur Ordnung gerufen worden war. Das Parlament hatte sich keine fragwürdigen Eigenmächtigkeiten bieten lassen und auf seinen Rechten bestanden.
Ein anderer Krisenfall war, wenn man so will, die Große Koalition. Nach der reinen parlamentarischen Lehre war sie sogar der Sündenfall an sich: ein übermächtiges Regierungslager hier und eine ganz und gar ohnmächtige Opposition dort. In der Tat nahm sich zwischen 1966 und 1969 die Phalanx aus den 477 Abgeordneten der CDU/CSU und SPD gegenüber dem Häuflein der 49 Freien Demokraten furchterregend aus – auch wenn es für das Elefantenbündnis wegen der ersten großen Wirtschaftsrezession und Haushaltskalamitäten einige gute Gründe gab und seine erfolgreiche Arbeit, wie ich finde, bis heute oft unterschätzt wird.
Indes, eben der riesige Umfang des Regierungslagers führte zu einem eigentümlichen internen Spannungsverhältnis. Sein Innenleben war nicht zuletzt davon geprägt, dass die beiden Koalitionsfraktionen mit Argusaugen auf die Regierung und darauf achteten, dass ihnen nichts an Information, Kontrolle und Mitwirkungsmöglichkeiten abging. Die so umfassende Regierung sollte sich nicht zu einer ganz eigenständigen Größe entwickeln und sozusagen über alle Köpfe hinweg agieren können. Darin waren sich besonders auch die beiden Fraktionsvorsitzenden, Rainer Barzel und Helmut Schmidt, einig. Gerade bei ihrer engen Zusammenarbeit verstanden sie sich in einem doppelten Sinne als Widerlager der Regierung, nämlich als Stütze wie als Gegenüber. Außerdem war eine Art eifersüchtiger Wachsamkeit zu spüren, wie wohl die eigenen Kabinettsmitglieder gegenüber denen der anderen Partei abschnitten. Schließlich regierten ja die Sozialdemokraten zum ersten Male mit.
Aus alledem entstand so etwas wie eine große Koalition in der Großen Koalition und zugleich ein Konkurrenzverhältnis in einem politischen Kartell – und damit Elemente, die im Endeffekt dem ganzen Parlament nützten und seine Funktion selbst unter so ungewöhnlichen Umständen schützten und wahrten. Zu einem angewandten Beispiel dafür wurden die langen Kontroversen über die Notstandsverfassung, über jene Grundgesetzartikel und die daraus folgenden Gesetze, die Vorsorge für den Kriegsfall, für schwerwiegende innere Spannungen und für Katastrophen schaffen sollen. Über sie war bereits seit Beginn der sechziger Jahre gestritten worden. Mehrere Anläufe waren gescheitert, weil sich vor allem die Einwände der Sozialdemokraten nicht überwinden ließen. Ohne die SPD konnte jedoch die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande kommen. Nun aber, in der Großen Koalition, war diese Majorität rein rechnerisch vorhanden.
Dennoch gab es wieder leidenschaftliche Auseinandersetzungen, bei denen es von neuem vor allem um die Frage ging, inwieweit Notstände, besonders der Kriegsfall, allein eine "Stunde der Exekutive" seien. Darauf hatten alle Regierungen mehr oder weniger hingearbeitet. Auch bei dem neuen Streit standen trotz Modifizierungen so viele Abgeordnete, neben der F.D.P.Opposition abermals vor allem bei der SPD, gegen die Regierungspläne, dass eine Zweidrittelmehrheit wiederum unerreichbar schien. Erst als sichergestellt war, dass der Notstand auch eine "Stunde des Parlaments" sein und der Bundestag an Maßnahmen im Verteidigungsfall auf eine nach den denkbaren Umständen wirkungsvolle Weise beteiligt sein würde – erst dann konnte die Notstandsverfassung, noch immer gegen viele Stimmen und Bedenken, verabschiedet werden. Mit anderen Worten: Die übergroße Mehrheit bedeutete für die Regierung keinen Freifahrschein. Das Parlament wahrte vorbeugend seine Rechte.
Während der Großen Koalition kam übrigens auch die Parlamentsreform als Daueraufgabe gut voran. Weil keiner der beiden Bündnispartner abschätzen konnte, ob er nach der Beendigung der Koalition und den nächsten Wahlen auf der Regierungs oder der Oppositionsbank landen würde, reichten beide ihre Hand besonders zu einer Stärkung der Minderheitenrechte im Bundestag. Wiederum zog das Parlament aus dem eigentlich widernatürlichen Bündnis einen Gewinn für sich. Kurzum, dass Krisen und Ausnahmesituationen in der politischparlamentarischen Entwicklung der Republik nie alles aus dem Lot gebracht haben, sondern immer auch mit den parlamentarischen Mitteln bewältigt werden konnten, halte ich für das vierte Merkmal der Bundestagsgeschichte.
Wenn aber der Bundestag nicht nur auf dem Verfassungspapier, sondern auch bei der täglichen Bewährung zu einer tragenden Säule in der politischen Architektur der Bundesrepublik geworden ist, dann auch, nein: in erster Linie, weil der viel berufene demokratische Grundkonsens, das kostbarste Gut, nie in Frage gestanden hat. Er ist auch unter schwierigen Bedingungen hochgehalten und bewahrt worden – etwa bei den heftigen Debatten und Auseinandersetzungen von 1968, als bei der Studentenrevolte so viele Köpfe der nachwachsenden Generation das ganze "System" in Zweifel zogen, und ebenso 1977, als die terroristische Herausforderung der Republik ihren Höhepunkt erreichte. Immer gab es im Parlament eine Grundübereinstimmung – auf jeden Fall in der demokratischen Methode, aber auch nach entscheidenden Weichenstellungen, so umstritten sie vorher gewesen sein mochten. "Miteinananderwirken im Rahmen des demokratischen Ganzen, wenn auch in sachlicher, politischer Gegnerschaft", so hat es der Sozialdemokrat Herbert Wehner einst formuliert. Auch rabiate Wahlkämpfe oder noch so zugespitzte Kontroversen haben diesen Konsens nicht gesprengt, auf die Dauer auch nicht bei manchmal tiefen persönlichen Verletzungen.
Wenn die Grundübereinstimmung Bestand hatte und hat und die von der Verfassung vorgezeichneten Bahnen nie verlassen worden sind, dann wiederum auch deshalb, weil die Umstände dem Bundestag wohlgesinnt waren. Extremistische Parteien haben bisher keinen Zugang zum Parlament erhalten, und innerhalb des Bundestages sind extreme Positionen bisher die Ausnahme geblieben. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin, dass die beiden großen Parteien bald zu vielschichtigen Volksparteien geworden sind, die zahlreiche unterschiedliche Interessen und Wünsche aufnehmen, aufeinander abstimmen und kanalisieren müssen. Ganz einseitige Vorstellungen können dabei nicht durchdringen. Dass der nach den Lehren der Weimarer Republik, der braunen Diktatur und der entsetzlichen Zäsur von 1945 so oft beschworene Vorsatz der demokratischen Gemeinsamkeit durchgehalten und von der Parteienentwicklung zusätzlich befördert worden ist, darin besteht für mich das fünfte, das wichtigste Merkmal der bisherigen Bundestagsgeschichte.
Was für ein Kapital also: kein Parteienlabyrinth mit vielen Ungewissheiten und Zufällen wie im Reichstag der Weimarer Republik, sondern Stabilität und Kontinuität. Klare Wählerentscheidungen. Aber innerhalb der Stetigkeit Wandel und Wechsel. Keine absolute Konfrontation, stattdessen konstruktiver Wettbewerb. Anstelle alles umstürzender Kursänderungen Korrekturen und neue Akzente, Krisenbewältigung statt Katastrophen. Ein Bundestag, der, wenn es um seine Rolle und Rechte geht, auch störrisch sein kann. Und der es vor allem mit der Gemeinsamkeit der Demokraten ernst nimmt. Aus den letzten Bonner Tagen des Parlaments wird mir außer dem würdigen Abschied auch eine eindrucksvolle politische Leistung in Erinnerung bleiben. Es war der Bundestag, der die heillos und beschämend verknäuelte Auseinandersetzung über das HolocaustMahnmal in Berlin beendet hat – nicht mit einem Machtwort, sondern durch eine nachdenkliche Debatte und vor allem dadurch, dass er nach schwierigen Diskussionen auch in seinen Reihen vor der Plenardebatte die verschiedenen, oft unvereinbaren Vorschläge in eine klare Abfolge von Entscheidungen brachte. Da zeigte er sich von seiner besten und kompetentesten Seite. Ja, doch: Alles in allem, so finde ich, ist die bisherige Bundestagsgeschichte ein Glücksfall.
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Der designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder und der jetzige Außenminister Joseph Fischer nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen am 20. Oktober 1998. |