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Der Bundestag im Reichstagsgebäude
von Carl-Christian Kaiser
Das Reichstagsgebäude macht es kurz. Ein paar Schritte nur sind nötig, die große Freitreppe hinauf, dann durch die mächtigen Säulen des Portals – und schon ist von der hohen Empfangshalle aus durch Glaswände auch das Herzstück des Deutschen Bundestages in seinem neuen Berliner Gebäude zu sehen: der Plenarsaal.
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In keinem anderen Plenargebäude des Parlaments, allenfalls mit Ausnahme des vorübergehenden Quartiers im Bonner "Wasserwerk", ist dieser Weg so kurz und der erste Blick auf das Plenum so rasch möglich gewesen. Der allererste Plenarsaal in Bonn verbarg sich hinter seinen Eingangstüren. Ähnlich im "Wasserwerk". Und der Blick auf den dritten und letzten Bonner Sitzungssaal öffnete sich trotz der gläsernen Durchsichtigkeit des ganzen neuen Parlamentstrakts erst, nachdem die weitläufige Lobby durchschritten war.
Anders also im historischen Berliner Reichstag. Mehr noch als in allen vorhergehenden Gebäuden beherrscht der Plenarsaal den so gründlich umgestalteten mächtigen Bau, nicht zuletzt durch seine bis zum Fuß der schon berühmten Glaskuppel hinaufreichende Höhe. Fast alle Stockwerke sind um ihn herum gruppiert; aus vielen Blickwinkeln kann er eingesehen werden.
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Über die große Freitreppe und durch die mächtigen Säulen des Portals hindurch gelangt der Besucher in die Empfangshalle des Reichstagsgebäudes. |
Um so deutlicher wird, dass sich hier das Zentrum der parlamentarischen Demokratie befindet. Wie in einem Brennglas bündeln sich ja im Plenum des Bundestages entscheidende Merkmale der parlamentarischen Ordnung und Arbeit. Das gilt für den Wettstreit der Meinungen vor aller Augen und Ohren ebenso wie für die öffentliche Beschlussfassung, für das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition nicht minder wie für die Auseinandersetzung nach bestimmten Spielregeln. Das Plenum ist die für alle parlamentarischen Aufgaben ausschlaggebende Instanz. Wird die Souveränität des Bundestages als höchstes demokratisches Organ nur von den Verfassungsbestimmungen begrenzt, ist er keinerlei Aufsicht oder Weisungen unterworfen, sondern regelt er seine Angelegenheiten selbst, so drückt sich dies in erster Linie in seinem Plenum aus. Über seine Zusammenkünfte, die Art und Weise seiner Beratungen und die Erledigung seiner Aufgaben befindet er aus eigenem Recht.
Die Beratung und Beschlussfassung über die Gesetzentwürfe in einem genau festgelegten Verfahren ist das Wichtigste und das tägliche Brot. Alle Gesetzesvorlagen gehen an den Bundestag. Nicht weniger herausragend ist die Bestellung des Regierungschefs. Die Wahl des Bundeskanzlers – und ebenso dessen Sturz durch die Wahl eines Nachfolgers – ist allein Sache des Parlaments. Schließlich, als dritte Hauptaufgabe, die Kontrolle der Regierung: Dafür verfügt der Bundestag über ein breit gefächertes Instrumentarium, das von Anfragen in verschiedener Form, zu denen die Regierung Rede und Antwort stehen muss, bis zu Untersuchungsausschüssen reicht. Vor allem aber: Ohne Zustimmung des Parlaments kann auch das alljährliche Haushaltsgesetz, das in Zahlen gefasste Regierungsprogramm mit allen Einnahmen und Ausgaben des Staates, nicht verwirklicht werden. Das Recht, über den Staatsetat zu entscheiden, ist das wichtigste Kontrollinstrument des Bundestages, und stets sind die Haushaltsdebatten, in denen es immer auch um die Grundzüge der Regierungspolitik geht, einer der Höhepunkte des Parlamentsjahres.
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Das Ostfoyer des Reichstagsgebäudes - Zugang für Parlamentarier, Minister, Staatsgäste. |
Aber mit den Rollen als Gesetzgeber, Wahlorgan für den Kanzler, Regierungskontrolleur und mit anderen Aufgaben hat es keineswegs sein Bewenden. Vielmehr soll im Bundestag jenseits aller Einzelthemen, Fachfragen, Detailprobleme und Tagesarbeit immer wieder auch zur Sprache kommen, was die Wähler allgemein bewegt, die Nation beschäftigt oder sogar die ganze Welt in Atem hält. Nicht selten werden die Debatten darüber zu großen Stunden, in denen das Parlament alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann wird am deutlichsten, was seine vornehmste Rolle ausmacht: das "Forum der Nation" zu sein, auf dem sich die Menschen mit ihren Problemen und Wünschen, Sorgen und Fragen wiederfinden.
Um so sinnfälliger, dass im Reichstagsgebäude der Plenarsaal noch mehr als an allen früheren Beratungsorten des Bundestages den zentralen Platz einnimmt und sofort ins Auge fällt. Die ganze erste Etage des Reichstags, die Plenarebene, ist den Abgeordneten, ihren Mitarbeitern und dem Parlamentspersonal vorbehalten. Zur besseren Orientierung ist sie, wie alle anderen Stockwerke, mit einer bestimmten Farbe gekennzeichnet: Blau an allen Türen und anderen markanten Punkten. Gegenüber dem hellen Grau und Silber, dem Sandstein, Stahl und vielem Glas und den wuchtigen, quaderhaften Formen, die das alte Gebäude weiter prägen, heben sich die Farben wirkungsvoll ab.
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Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude. |
Ist das große Westportal hauptsächlich für die Besucher des Bundestages bestimmt, so dient das Ostportal an der gegenüberliegenden Seite des Reichstagsgebäudes, wo es auch genügend Vorfahrtsmöglichkeiten gibt, vor allem den Abgeordneten. Sie erreichen von dort aus die über dem Erdgeschoss mit seinen technischen Installationen liegende Plenarebene und den Plenarsaal. Wie ein Kranz umgeben ihn Räume und Einrichtungen, die für die Arbeit zumal an Debattentagen nötig oder nützlich sind: Wandelhallen für die oft wichtigen Gespräche am Rande, eine Präsenzbibliothek zum Nachschlagen von Daten und Fakten während der Debatten, Ruhe- und Aufenthaltsräume, auch für die Mitglieder der Regierung, ein Lobby- und Clubraum, ein größeres Restaurant sowie eine Cafeteria und ein kleines Bistro. Ebenso gibt es einen Andachtsraum, in dem sich Abgeordnete zu den morgendlichen Gottesdiensten versammeln können; nur durch einen schmalen seitlichen Spalt einfallendes Licht verleiht ihm eine besondere Atmosphäre.
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In den Wandelhallen, die um den Plenarsaal herum angeordnet sind, treffen sich die Parlamentarier für wichtige Gespräche am Rande von Plenarsitzungen. |
Einen ganz eigenen Akzent geben dem Raum auch die an die Wände gelehnten Gebots- und Nageltafeln von Günther Uecker – eines der vielen Kunstwerke, die im ganzen Haus zu finden sind. Auf allen Ebenen gibt es, von renommierten in- und ausländischen Künstlern, Gemälde, Bilder, Plastiken, Installationen und andere Arbeiten in zahlreichen Ausdrucksformen. Die meisten sind eigens für den Bundestag geschaffen worden. Andere sind aus dem Besitz der Künstler angekauft worden oder als Leihgaben zu sehen.
Besonders ins Auge fallen in der Eingangshalle am großen Westportal das hohe Rechteck aus den leicht verfremdeten Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold von Gerhard Richter und gegenüber die Leuchtkästen mit politischen und geschichtlichen Motiven von Sigmar Polke, die sich durch eine spezielle Technik ständig zu verschieben scheinen. Die Maler Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Bernhard Heisig, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Wolfgang Mattheuer, Emil Schumacher und viele andere sind ebenso vertreten wie Joseph Beuys mit einer Installation oder Ulrich Rückriem mit zwei Bodenreliefs. Von Katharina Sieverding stammt eine große Fotoarbeit, die zusammen mit Dokumentationsbüchern an die vielen von den Nazis ermordeten und verfolgten Mitglieder des alten Deutschen Reichstags erinnert. Die Beispiele aus der gegenwärtigen deutschen und internationalen Kunstszene tragen noch viele andere Namen.
Öffentlichkeit gehört zu den Lebensprinzipien einer parlamentarischen Demokratie. Ohne dieses Prinzip wäre das Parlament als "Forum der Nation" nicht denkbar. Deshalb bestimmt das Grundgesetz: "Der Bundestag verhandelt öffentlich." Zwar kann der Ausschluss der Öffentlichkeit von einem Zehntel der Abgeordneten oder von der Bundesregierung beantragt werden. Aber zu einem entsprechenden Beschluss ist die Zweidrittelmehrheit nötig. Die hohe Hürde zeigt, wie sehr Verhandlungen hinter verschlossenen Türen als absolute Ausnahme verstanden werden. Tatsächlich ist bisher noch nie verlangt worden, dass das Plenum im Geheimen beraten solle.
Seit alle wichtigen Debatten von Fernsehen und Rundfunk direkt übertragen werden, hat das Prinzip der Öffentlichkeit noch ein viel größeres Gewicht als in früheren Jahren. Aber die Öffentlichkeit, das sind vor allem auch und in unmittelbarem Sinne die Besucher der Parlamentssitzungen. Für sie ist, mit der Kennfarbe Grün, im Reichstagsgebäude gleich die nächste Etage über der Plenarebene für die Abgeordneten bestimmt. Auch hier geht es direkt in den Plenarsaal, nämlich auf sechs Tribünen für Besucher, Gäste und die Presse. Über den Abgeordnetensitzen sind sie so weit in den Plenarsaal hineingezogen, dass alles wie zum Anfassen erscheint: Demokratie direkt, wie auf Tuchfühlung. Fast sieht es so aus, als säßen auch die Zuschauer mitten im Plenum.
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Der Clubraum. |
Auch in Berlin fällt der Blick zuerst auf den an der gläsernen Stirnwand des Plenarsaals angebrachten großen Bundestagsadler. Links und rechts neben dem Adler zeigen auf Lichtstreifen rote Ziffern den gerade behandelten Tagesordnungspunkt und die Uhrzeit an, während ein grünes "F" signalisiert, dass die Sitzung vom Fernsehen direkt übertragen oder aufgenommen wird. Von den Besuchern aus gesehen steht unterhalb des Adlers links die Bundesflagge und rechts die Europafahne. Zu seinen Füßen befinden sich die etwas herausgehobenen Plätze des Sitzungspräsidenten und der beiden Schriftführer aus den Bundestagsfraktionen sowie der Parlamentsbeamten, die den Präsidenten bzw. die Präsidentin bei der Leitung der Sitzung unterstützen. Vor diesen Plätzen steht das Rednerpult, und davor haben die Stenographen, die jedes Wort festhalten, ihre schmale Bank.
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Blick in die Abgeordneten-Lobby auf der Plenarebene. |
Wiederum von den Besuchertribünen aus gesehen, sind links vom Sitzungspräsidenten die Plätze für den Bundeskanzler, die Minister sowie ihre Mitarbeiter und rechts die Plätze des Bundesrates, der Vertretung der Länder, angeordnet. Die beiden Stühle, die dem Präsidentenpodest am nächsten stehen, sind dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten vorbehalten.
Gegenüber der flachen, nach innen gekrümmten Ellipse, die das Präsidentenpodest, die Regierungs- und die Bundesratsbank bilden, erstreckt sich in Form eines Dreiviertelkreises das weite Rund der Sitze für die insgesamt 669 Abgeordneten. Abermals von den Besuchern aus gesehen, beginnen die Sitze links mit den Plätzen für die Parlamentarier der F.D.P. Darauf folgt die CDU/CSU, dann das Bündnis 90/Die Grünen. Den größten Teil der rechten Hälfte nehmen die Abgeordneten der SPD ein, bevor der Dreiviertelkreis mit den Sitzen der PDS abschließt.
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Das Bistro. |
So also der Ort, an dem debattiert und entschieden wird, das Zentrum des Bundestages und der parlamentarischen Demokratie. Auf der Besucherebene, zu der auch in der Größe variable Vortragssäle sowie Arbeitsräume für die Presse gehören, ist man ihm am nächsten. Hier geht es um Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument, um die Darstellung von Problemen und die Debatte über ihre Lösung, um die Begründung der verschiedenen Standpunkte und die Rechtfertigung von Entscheidungen, um Streit und Wettbewerb zwischen den einzelnen Fraktionen und zumal zwischen dem Regierungslager und der Opposition. Einerseits dient dies alles der öffentlich wirksamen Kritik und Kontrolle, andererseits der öffentlichen Erläuterung und Durchsetzung der Regierungspolitik – und damit insgesamt der Information sowie der Urteils- und Willensbildung der Bürger.
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Die Cafeteria. |
Auch in der "Laufbahn" der Abgeordneten spielt das Plenum eine bedeutende Rolle. Von der Häufigkeit, mit der ein Abgeordneter am Rednerpult steht, lässt sich zwar nicht ohne weiteres auf größeren Fleiß als bei anderen Parlamentsmitgliedern schließen, wohl aber auf den Rang und den Einfluss in seiner Fraktion und das Gewicht, das ihm dort für die Repräsentation nach außen zugemessen wird. Dabei handelt es sich sowohl um Abgeordnete, die an der Spitze der Fraktion stehen, als auch um Parlamentarier, die auf bestimmten Gebieten besonders sachverständig sind. Und nicht wenige Abgeordnete haben durch eine große Rede im Plenum mit einem Schlag viel Reputation innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen erworben.
Über dem Besuchergeschoss liegt, Kennfarbe Burgunderrot, die Präsidialebene – Arbeits- und Repräsentationsbereich in einem. Der Bundestagspräsident ist der höchste Repräsentant des Parlaments, und zusammen mit seinen gegenwärtig fünf Stellvertretern aus allen Bundestagsfraktionen bildet er das Präsidium als oberstes Gremium des Parlaments. Sein hoher Rang wird schon dadurch hervorgehoben, dass er nach dem Staatsoberhaupt, dem Bundespräsidenten, in der protokollarischen Reihenfolge den zweiten Platz einnimmt, noch vor dem Bundeskanzler oder den Präsidenten anderer Verfassungsorgane.
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Der Plenarsaal, das Zentrum der Parlamentarischen Demokratie, ist von unterschiedlichen Seiten einsehbar. |
Diese Reihenfolge steht für den Vorrang der gesetzgebenden vor der ausführenden Gewalt, der Legislative vor der Exekutive, des Bundestages vor der Regierung, und sie drückt sich auch in anderen Einzelheiten aus. So ist der Parlamentspräsident der Adressat aller Gesetzentwürfe und anderer Vorlagen der Bundesregierung und des Bundesrates und natürlich auch aller Eingaben aus den Reihen des Bundestages selbst. Er besitzt auch das Hausrecht und die Polizeigewalt im Bundestag und trifft gemeinsam mit seinen Stellvertretern die wesentlichen Personalentscheidungen bei der Verwaltung des Parlaments.
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Der Bundestagspräsident ist der höchste Repräsentant des Parlaments. Er eröffnet, leitet und schließt die Zusammenkünfte des Plenums. |
Am deutlichsten freilich wird seine Stellung und die seiner Stellvertreter während der Bundestagssitzungen. Der Präsident eröffnet, leitet und schließt die Zusammenkünfte des Plenums. Weil die Sitzungsleitung nach einem vorher vereinbarten Rhythmus, meistens nach zwei Stunden, zu wechseln pflegt, fällt diese Aufgabe auch seinen Stellvertreterinnen bzw. Stellvertretern zu. Der Vorsitz ist, bei aller häufigen Routine, kein leichtes Geschäft. Immer steht er unter dem Gebot, die Beratungen gerecht und unparteiisch zu leiten. Eine Vorstellung davon gibt jener Paragraph in der Geschäftsordnung des Bundestages, in dem es heißt: "Der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen leiten; insbesondere soll nach der Rede eines Mitglieds oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen."
Als beherrschender Grundsatz gilt, dass bei den Debatten zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen, besonders wenn sie miteinander rivalisieren, Chancengleichheit bestehen soll. In der Praxis bezieht sich dies vor allem auf das Verhältnis zwischen der Regierung bzw. den Mehrheitsfraktionen und der Opposition. Die öffentliche Kritik und Kontrolle ist in erster Linie Aufgabe der Opposition. Den Mehrheitsfraktionen kommt vor allem die Aufgabe zu, die Regierungspolitik mit ihrer Majorität im Bundestag durchzusetzen und zu verteidigen. Sie üben ihre Kontrolle eher informell und intern aus.
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Von der Kuppel kann man direkt in den Plenarsaal hinunterschauen. |
Aber kritische Diskussionen über die Regierungspolitik und im Einzelnen abweichende Meinungen gibt es durchaus auch bei ihnen. Als Folge muss die Regierung von vornherein auch darauf achten, für ihre Vorlagen in den eigenen parlamentarischen Reihen Zustimmung und Mehrheiten zu finden. Sie kann nicht gegen das Parlament regieren. Ihre Bundestagsmehrheit ist kein bloßer "Erfüllungsgehilfe". Erst recht nicht sind es die Oppositionsfraktionen. So übt im Endeffekt auch das Parlament als Ganzes seine Kontrollaufgaben aus.
Der Sitzungspräsident soll auch die Ordnung im Hause wahren. Dazu gehört, dass er, wenn nötig, Auseinandersetzungen und Verhaltensweisen als unparlamentarisch zurückweisen und notfalls Abgeordnete zur Ordnung rufen kann. Nach dreimaligem Ordnungsruf während einer Rede muss er ihm das Wort entziehen. Bei gröblichen Verletzungen der Ordnung kann er Parlamentarier des Saales verweisen, im äußersten Fall für längere Zeit. Wird die Debatte durch Unruhe gestört, kann sie der Präsident bzw. die Präsidentin auf unbestimmte Zeit unterbrechen oder die Sitzung aufheben.
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Die Sitzverteilung im 14. Deutschen Bundestag (669 Abgeordnete). |
Bei der Regelung der Parlamentsangelegenheiten steht dem Bundestagspräsidium der Ältestenrat zur Seite. Dort führt der Präsident in einem Kreis den Vorsitz, dem außer ihm und seinen Stellvertretern 23 nach den Stärkeverhältnissen der Fraktionen bestimmte Abgeordnete angehören. Dabei handelt es sich freilich nicht um die ältesten Mitglieder des Hauses, weder nach der Dauer der Zugehörigkeit zum Bundestag noch nach Lebensjahren. Aber erfahrene Parlamentarier sind sie durch die Bank. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, den Arbeitsplan des Bundestages und die Tagesordnung für die Plenarsitzungen aufzustellen. Wann welches Thema in welchem Umfang behandelt werden soll, ist nicht ohne Bedeutung. Hin und wieder sind die Meinungsverschiedenheiten so groß, dass in dem sonst auf Kooperation, Kompromiss, Kollegialität und einstimmige Beschlüsse angelegten Ältestenrat dennoch keine Einigung zustande kommt und das Plenum selbst als letzte Instanz entscheiden muss.
Eine andere Aufgabe des Ältestenrats besteht darin, Streitfragen zu erörtern und möglichst zu schlichten, die mit der Würde und den Rechten des Hauses oder mit der Auslegung von Geschäftsordnungsbestimmungen zu tun haben. Alles in allem ist er, ohne dass er dem Bundestagsplenum als letzte Instanz etwas völlig vorwegnehmen könnte, eine Art Lenkungsinstrument, das der Vollversammlung des Parlaments viele zeitraubende formelle Entscheidungen erspart, und ein wichtiges Verbindungsglied sowohl zwischen den Fraktionen als auch zwischen ihnen und dem Präsidium.
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Im Plenarsaal findet der Wettstreit der Meinungen vor
den
Augen und Ohren der Öffentlichkeit statt. |
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Plätze im Plenum: Hier sitzen die Bundestagsabgeordneten während der Plenarsitzungen. |
Im Übrigen: Kein Zufall wohl, dass der Präsident aus seinem Arbeitszimmer auf das in einiger Entfernung gegenüberliegende neue Kanzleramt blicken kann. Zwar stehen im Bundestag – anders als zu den Anfängen des Parlamentarismus im Kaiserreich, als das Parlament insgesamt als Widerpart der Regierung begriffen wurde – das Regierungslager auf der einen und die Opposition auf der anderen Seite. Aber die grundsätzliche Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist davon nicht berührt. So wirkt in Berlin das geographische Gegenüber von Parlament und Präsidialbüro hier und Kanzleramt dort auch wie ein Symbol.
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Präsidium und Ältestenrat regeln zusammen die Geschäfte des Bundestages. |
Auch die Abgeordneten und weitere Gremien im Plenargebäude unterzubringen, wäre unmöglich. Sie werden ihre Büros und Beratungsräume in unmittelbar benachbarten neuen Bauten haben. Bis diese Bauten fertig sind, wird ohnehin noch viel Improvisation nötig sein, auch im Reichstag. Wohl aber haben dort die Fraktionen ihren festen Platz, auf der vierten Ebene mit der Kennfarbe Grau. Ihre Versammlungssäle, Vorstandszimmer und Vorräume gruppieren sich um eine ausgedehnte Presselobby, die auch für ganz große Empfänge und anderes genutzt werden kann. Teil der Fraktionsräume sind auch die vier Ecktürme des Reichstags, die eine besondere Beratungsatmosphäre schaffen.
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Blick von der Fraktionsebene auf die Kuppel. |
Dass die Fraktionen im Reichstagsgebäude angesiedelt sind, macht viel Sinn. Als Zusammenschlüsse aller Abgeordneten einer Partei – oder verwandter Parteien – sind sie im parlamentarischen Getriebe wichtige, oft ausschlaggebende Schaltstellen. Nicht nur, dass sie zum Beispiel über die Einbringung von Gesetzentwürfen oder die jeweilige politische Marschroute für die Plenardebatten entscheiden. Vielmehr sind sie oft auch so etwas wie "Parlamente im Parlament". Auch innerhalb der einzelnen Parteien gibt es ja unterschiedliche Richtungen und Meinungen. Zwar stimmen die Mitglieder einer Fraktion in der politischen Grundhaltung überein, jedoch keineswegs von vornherein auch in allen Einzelfragen.
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Sitzung des Ältestenrates. |
Deshalb kommt es, wie im Plenum zwischen den Parteien, auch innerhalb der Fraktionen immer wieder zu lebhaften und manchmal sehr kontroversen Auseinandersetzungen, bevor die verschiedenen Standpunkte geklärt und möglichst auf einen Nenner gebracht sind. Zumindest im Stadium der Diskussion und Willensbildung sind die Fraktionen keine geschlossenen Heerhaufen. Auch lassen sich gelegentlich Minderheiten von der Generallinie nicht überzeugen. Und wie im Plenum können ebenso die Debatten in den Fraktionen zur großen Stunde einzelner Abgeordneter werden. Schon manche Parlamentskarriere hat auch auf diese Weise begonnen.
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In Fraktionssitzungen werden oft die entscheidenden Weichen gestellt. |
Die Fraktionsebene ist der letzte Arbeitsbereich im Reichstagsgebäude. Von unten bis oben, vom Erdgeschoss mit seinen Funktionsräumen, technischen Einrichtungen und Diensten, auch mit den Arzträumen, über die Plenarebene, dann den Besucherbereich und darauf der Präsidialebene bis zu der Etage für die Fraktionen ist alles zweckmäßig aufgeteilt, auch mit möglichst kurzen und direkten Wegen – und immer auf das Zentrum angelegt: auf den Plenarsaal in der Mitte des Gebäudes. Der neue Sitz des Bundestages ist ein klar gegliedertes Arbeitsgehäuse.
Über dem Fraktionsbereich als oberstem Stockwerk liegt dann schon die Dachterrasse samt einem Restaurant für die Besucher – und jene Glaskuppel, die sofort zum Wahrzeichen des Bundestages im umgestalteten Reichstagsgebäude, wenn nicht überhaupt zum Symbol der Hauptstadt Berlin geworden ist. Tags glänzt sie, nachts leuchtet sie über der Stadt.
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Das in der Kuppel befindliche Lichtumlenkelement mit seinen 360 Spiegeln versorgt den Plenarsaal mit Tageslicht. |
In ihrer technischen Funktion bringt die Kuppel, zumal durch das trichterförmige Lichtumlenkelement in der Mitte mit seinen 360 Spiegeln, zusätzliches Tageslicht in den Plenarsaal. Umgekehrt transportiert der bis ins Plenum reichende Trichter die Abluft des Saales nach oben ins Freie. Die Kuppel ist nicht geschlossen, sondern am unteren und oberen Rand offen, ein leichtes und luftiges Rund, wie eine schwebende Raumhülle. Vor allem aber bietet sie jene einzigartige Attraktion, die alle anzieht: Sie kann begangen werden. Die beiden an ihrer Innenseite in Spiralen sanft ansteigenden oder abfallenden Rampen führen zu einer Aussichtsplattform hinauf und wieder hinunter, von der aus, wie auch von der Dachterrasse, der Blick über ganz Berlin geht, ein großes Panorama.
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Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im Giebel des Hauptportals steht: "Dem Deutschen Volke". |
Das Gefühl der Beschwingtheit und Weite, das die Kuppel vermittelt, ist schon oft beschrieben worden, ebenso wie die Möglichkeit, dem Parlament buchstäblich aufs Dach zu steigen. Ihre lichte Konstruktion und ihre Zugänglichkeit für jedermann nehmen ihr jeden herrschaftlichen Charakter, wie er sonst Kuppelbauten kennzeichnet. Ob nun direkt durch die weit in den Plenarsaal hineinreichenden Tribünen oder indirekt durch die gläserne Haube über dem Plenum – wohl kein anderes Parlament öffnet sich Besuchern so sehr wie der Deutsche Bundestag im historischen Reichstagsgebäude. Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im Giebel des Hauptportals steht: "Dem Deutschen Volke".