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Die Parlamentarischen Geschäftsführer zum Reichstagsgebäude
"Unschlagbare Atmosphäre"
Gut ein Jahr ist das Reichstagsgebäude jetzt Tagungsort des Bundestages. "Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", gab Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Eröffnung des Reichstagsgebäudes am 19. April 1999 als Richtung vor. Haben sich die Erwartungen erfüllt? Wie arbeitet es sich im neuen Hohen Haus an der Spree? Und: Beeinflusst der historische Ort die Politik? Bevor der Bundestag in die Sommerpause ging, sprach Blickpunkt Bundestag darüber mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der fünf Bundestagsfraktionen, die als Manager ihrer Fraktionen entscheidend die Parlamentsarbeit bestimmen und erleben.
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Luftaufnahme der Baustelle Parlamentsviertel: Wenn alles fertig ist, haben die Abgeordneten ihre Büros direkt neben dem Reichstagsgebäude. |
Ob ursprünglich Umzugsgegner oder Berlin-Befürworter – nach einem Jahr äußern sich alle Geschäftsführer begeistert, zumindest positiv über das Reichstagsgebäude. Natürlich gibt es nach wie vor Kritik an Kinderkrankheiten und Unzulänglichkeiten im vom britischen Stararchitekten Lord Norman Foster umgebauten Reichstag – aber auf das Gebäude selbst mit seiner längst zum Symbol für Offenheit und Transparenz gewordenen Kuppel lassen die Parlamentarischen Geschäftsführer kaum etwas kommen. Nahezu gleichlautend schwärmen sie vom neuen Standort, der ein Ort deutscher Geschichte ist, aus der es "keinen Austritt gibt". Und zeigen sich überzeugt, dass sie als Sprachrohr und Interessenvertreter ihrer Fraktionen auch für die überwältigende Mehrheit der 669 Bundestagsabgeordneten sprechen.
"Es macht Spaß, im Reichstagsgebäude zu arbeiten", freut sich Jörg van Essen, Parlamentarischer Geschäftsführer der F.D.P.-Fraktion. Und ist geradezu stolz, wenn er von seinem Sitz im Halbrund des Plenarsaales den Kopf nach oben wendet und die zahlreichen Touristen in der Spirale der Glaskuppel sieht. "Es tut dem Parlament gut, wenn ihm die Bürger im wahrsten Sinne aufs Dach steigen und den Abgeordneten von oben auf die Finger gucken", meint er und spricht von einer exzellenten architektonischen Gestaltung, über die er auch von Kollegen "viel Begeisterung" höre. Nur eines stört van Essen: Der Blick aus dem Reichstagsgebäude auf den "Klotz Bundeskanzleramt", das sich "gigantisch und protzig in bewussten Gegensatz zum Parlament" setze.
Von einer "unschlagbaren Atmosphäre" im Plenarsaal spricht auch Wilhelm Schmidt, Parlamentarischer Geschäftsführer der größten Regierungsfraktion SPD, auch wenn er durchaus wehmutsvoll an den "schönen Blick aus dem Bonner Plenarsaal in den Park hinein" zurückdenkt und auch sonst an dem Gesamtkomplex noch einiges zu kritisieren hat. Ein "gelungenes Werk, in dem ich mich äußerst wohl fühle und meiner Arbeit hervorragend nachgehen kann", lobt der Parlamentarische Geschäftsführer des CSU-Landesgruppe Peter Ramsauer. Und sein CDU-Kollege Hans-Peter Repnik schwärmt von den "dichten Kontakten", die sich täglich zwischen Kuppel-Besuchern und Abgeordneten ergeben. Dass das Reichstagsgebäude mitten im Zentrum Berlins stehe und zu einer "internationalen Attraktion" geworden sei, unterscheide sich wohltuend von der "ausgelagerten Campus-Atmosphäre in Bonn". Ähnlich urteilt die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Sie hebt die zentrale Lage des Reichstagsgebäudes hervor, die ihn zu einer "Stätte der Kommunikation" mache. Etwas Wasser in den Wein schüttet Roland Claus, Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS. "Hervorragend als Plenum geeignet, eingeschränkt tauglich als Arbeitsstätte der Fraktionen", lautet sein Urteil über das Haus.
So sehr die Geschäftsführer vom Reichstagsgebäude allgemein angetan sind, so kritisch werden sie, wenn es um konkrete Detailfragen geht. Zwar sind die meisten der ursprünglich aufgelisteten 6.000 Anfangsmängel beseitigt, doch Ärgerlichkeiten gibt es nach wie vor. Vieles im Hohen Haus sei nicht "Abgeordnetenfreundlich", lautet die Klage. SPD-Geschäftsführer Wilhelm Schmidt spricht für seine Kollegen mit, wenn er sagt: "Der Architekt hat sich zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie Abgeordnete in der Praxis arbeiten. Es gibt kaum Arbeitsgelegenheiten im ganzen Hause; es kann sich niemand mal kurz zurückziehen und telefonieren, faxen oder schreiben. Wenn ein Kollege irgendetwas zwischendurch erledigen muss – was ja sehr häufig vorkommt – muss er in sein Büro hinüberwechseln, was bei den langen Wegen in Berlin unsinnig arbeitsaufwendig ist."
Fehlende Telefone, von denen man ungestört reden kann, flimmernde Wandverkleidungen, die die Augen tränen lassen, nicht funktionierende Jalousien in den Fraktionsbüros, Fahrstühle, die immer mal wieder stecken bleiben, eine Klimaanlage, die nicht richtig läuft und eine Mikrofonanlage, mit der viele Redner nicht zurecht kommen und die bei einem "Hammelsprung" auf der Rückseite des Plenarsaales nicht zu hören ist – das sind weitere Klagepunkte der Parlamentarischen Geschäftsführer. Keine leichtfertigen Meckereien, wie sie betonen, sondern Mängel, die bei einem Bau dieser Wichtigkeit und dieser Umbaukosten (rund 600 Millionen Mark) nicht hätten passieren dürfen. Wilhelm Schmidt: "Sicherlich gibt es überall Anlaufschwierigkeiten, aber bei einem Prestige-Komplex wie diesem Haus mit seinem hohen und teuren technischen Standard sind sie ein bisschen zu viel." Dem stimmt Jörg van Essen zu. Er findet es noch immer "unmöglich", dass seine F.D.P.-Fraktion schon nach kurzer Zeit ihren Fraktionssaal in einem der Türme des Reichstagsgebäudes wieder aufgeben musste, weil er wegen schlechter Akustik für die praktische Arbeit schlicht nicht zu gebrauchen war. Genauso erging es der PDS. Ihr Geschäftsführer Claus: "Dass Fraktionsräume absolut unpraktikabel sind, hätte nicht passieren dürfen."
Viele Mängel, das räumen die Parlamentarischen Geschäftsführer ein, werden ihre Ärgerlichkeiten verlieren, wenn im nächsten Jahr die weiteren Parlamentsbauten in unmittelbarer Nähe bezogen sein werden. Vor allem die räumlichen Engpässe, die es jetzt noch gibt, sollen dann der Vergangenheit angehören. Sind erst einmal die Abgeordneten in Steinwurf-Nähe zum Plenarbereich, hoffen die Geschäftsführer auch auf eine noch dichtere Kommunikation untereinander. Hans-Peter Repnik: "Jetzt ist das Gebäude ja noch ein Solitär. Aber wenn der Gesamtkomplex in Betrieb ist, wird es hier sicherlich viel Leben geben."
Auch bei Abgeordneten geht die Liebe (zum Reichstagsgebäude) durch den Magen. Gab es am Anfang heftige Klagen über die kulinarische Qualität im Hohen Haus, die sich kurzzeitig sogar zu einem Buletten-Krieg ausweiteten, ist inzwischen Entspannung angesagt. "Das Essen im Restaurant und in der Cafeteria ist zufriedenstellend", lautet das Urteil der Parlamentarischen Geschäftsführer, die allerdings gestehen, aus Zeitmangel selbst nur selten den Weg an die parlamentarischen Futterstellen zu finden. Einen bleibenden Mangel hat Roland Claus (PDS) erspürt: Nirgends gebe es die (Ost-)Zigaretten "F 6".
Und wie steht es mit der Kunst, die im ersten Jahr so viel Staub aufgewirbelt hat? Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, nur der Erdtrog von Hans Haacke sorgt noch für Aufregung. Viele Abgeordnete weigern sich, Erde aus ihren Wahlkreisen mitzubringen, um im Trog Vielfalt sprießen zu lassen. Von ihrer Arbeit aber lassen sich die Parlamentarier nicht mehr ablenken. "Die Erregung war künstlich und vordergründig", sagt Wilhelm Schmidt. Sein F.D.P.-Kollege van Essen verteidigt das Kunstkonzept im Reichstagsgebäude: "Ich finde die Entscheidung der Kunstkommission, alle bedeutenden lebenden deutschen Künstler an der Ausgestaltung teil haben zu lassen, hervorragend. Wo andere Parlamente alte Kunst zeigen, erweisen wir uns als außerordentlich lebendige Volksvertretung."
Bleibt die Frage nach der Geschichte. Drückt die historische Last, die noch immer im Gemäuer des Reichstagsgebäudes spürbar und etwa über die kyrillischen Graffiti an einigen Wänden sichtbar ist? Den meisten Geschäftsführern ist stets präsent, dass "das Reichstagsgebäude ein historisches Gebäude ist, das ein anderes Erleben zur Folge hat" (van Essen). Aber nicht als störend, sondern eher verpflichtend wird dies gesehen. Katrin Göring-Eckardt: "Die eigene Geschichte wird bewusster". In der alltäglichen Arbeit überwiegen indes die jahrzehntelangen Erfahrungen rheinischer Gelassenheit. Ganz im Sinne der Eröffnungsrede von Thierse: Keine neue Ära, keine andere Republik.
Sönke Petersen