Menschen im Bundestag
Die Dame mit dem Walkie-Talkie
Waltraud Barth leitet den Besucherführungsdienst im Reichstagsgebäude. Von dessen Arbeit hängt ab, ob die Menschen sich wohl fühlen im Hohen Haus und ob sie Lust auf einen zweiten Besuch bekommen.
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Zu Beginn erscheinen die Spielregeln am Westeingang des Reichstagsgebäudes mindestens so kompliziert wie beim Rugby. Es gibt häufig ein Gedränge, das sich dann doch ganz unverhofft auflöst und mit geordnetem Einzug in die Westhalle endet. Manchmal entsteht noch ein offenes Gedränge vor dem Fahrstuhl, der die Geduld der Besucher meist nicht mehr strapaziert – sind sie doch endlich drin, im Hohen Haus. Wer unangemeldet kommt und einfach nur hoch in die Kuppel möchte, um über die Stadt zu schauen, betritt das Gebäude durch den Eingang West B. Der Eingang A ist den angemeldeten Besuchergruppen vorbehalten.
Für alle – egal ob sie durch West A oder West B den Sitz des Deutschen Bundestages betreten – ist der Besucherführungsdienst verantwortlich. Dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen für den ersten Eindruck, den die Gäste erhalten. Eine nicht zu unterschätzende Tatsache und nur die halbe Wahrheit. Nicht nur die Art und Weise des Empfangs wird durch die Frauen und Männer des Besucherführungsdienstes bestimmt. Sie geleiten die angemeldeten Gruppen auch durchs Haus, erzählen Geschichten und Geschichte, reden über Parlamentarismus, die Historie des Gebäudes, Kunst im Reichstag. Sie beantworten zahllose Fragen – ganz einfache und ganz komplizierte. Sie sind für die Neugier der Menschen da, von denen viele eine weite Reise gemacht haben, um zu sehen und zu hören, wie und wo Politik gemacht wird. Dem muss Rechnung getragen und Reverenz erwiesen werden.
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Am Eingang A steht eine Frau und spricht in ihr Walkie-Talkie. Sie blickt beim Sprechen durch die hohen Glasscheiben im Westportal auf die Balustrade der Besucherebene. Dort oben steht ihr Gesprächspartner. "Den zweiten Teil der Schulgruppe müssen wir nachschicken", sagt sie und lächelt dem Kollegen auf der Balustrade zu. Vielleicht kann er das Lächeln ja sehen durch die vielen Scheiben. Die Frau ist mittelgroß. Sie trägt einen hellgrauen langen Rock, dazu einen passenden Blazer, eine dezent gestreifte Bluse und bequeme flache Schuhe. Um die Schultern hat sie ein weiches, großes, lichtgraues Wolltuch geschlungen. Später wird sie erzählen, dass sie zu Hause in ihrem Kleiderschrank zu jedem Outfit ein passendes großes Tuch hat. Die Tücher helfen gegen Zug und Kälte, denn unten im Westportal, wo sie den ganzen Tag zubringt, ist es nicht allzu warm und der Wind findet oft den Weg in die große Eingangshalle.
Die Frau hat dunkelblonde halblange Haare, Lippenstift und Nagellack sind aufeinander abgestimmt, der Goldschmuck unterstreicht die fast schon sommerliche Bräune ihrer Haut. Wenn sie ernst schaut, ist sie eine Respektsperson. Wenn sie lächelt, bleibt sie das. Sie hat ein schönes Lächeln. Waltraud Barth leitet den Besucherführungsdienst. Wenn man sie zwei Stunden beobachtet hat, notiert man im Kopf die Worte Energie, Gelassenheit, Freundlichkeit, Kompetenz, Überblick. Es macht Spaß, Waltraud Barth zu beobachten. Die kurzen Wortwechsel mit ihren Kolleginnen und Kollegen klingen verschlüsselt. "Ist die Grill-Gruppe schon durch?" "Nein, sie kommt als nächste rein." Wer jetzt das Bundestagshandbuch nicht im Kopf hat, kommt auf ganz falsche Gedanken. Die nächste Gruppe wird den CDU-Abgeordneten Kurt-Dieter Grill besuchen und mit ihm reden.
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Von neun Uhr morgens und oft bis abends um acht kommen angemeldete Besuchergruppen in das Reichstagsgebäude. Die Kuppel kann man bis 22 Uhr besichtigen. Tag für Tag rund 2.200 Gäste, rund 200 pro Stunde also – da den Überblick zu behalten und die Ruhe zu bewahren, ist beachtenswert. Beim Betrachten der Szenerie in der Westhalle ist nach einigen Stunden auch klar: Hier kann nicht Dienst nach Vorschrift gemacht werden. Jede Gruppe, die kommt, hat ihre Eigenheiten und braucht eine Ansprache, die darauf Rücksicht nimmt. Den 16-jährigen Schülerinnen und Schülern aus Baden-Württemberg kann nicht begegnet werden wie den Landfrauen aus Schleswig-Holstein. Dass all diese Leute am Ende ihres Besuches fast immer sagen, es sei schön und interessant und beeindruckend gewesen, macht Waltraud Barth stolz. So stolz, dass sie eher nicht über sich reden mag, sondern über all jene, die mit ihr zusammenarbeiten: "Wir sind vier fest angestellte Leute, 22 Honorarkräfte und eine studentische Aushilfskraft. Soll ich Ihnen sagen, was das Schöne und Bestechende an dieser Truppe ist? Alle sind füreinander da, und sie bilden sich gegenseitig ständig weiter. Wer zuständig ist für die Kunstführungen und etwas Neues und Spannendes gelesen hat, legt den anderen eine Kopie des Textes ins Fach. Niemand von denen arbeitet eindimensional, so unter dem Motto: Ich mach nur Geschichte des Parlamentarismus, da muss ich über die Kunst hier im Hause nicht Bescheid wissen. Und wenn wir jeden dritten Dienstag im Monat unseren Jour fixe haben, nutzen wir den Termin oft, um mehr zu lernen und uns auszutauschen." Ach, sagt Frau Barth, "es macht wirklich Spaß, so zu arbeiten."
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Waltraud Barth hat 1986 im Bonner Wasserwerk, dem provisorischen Plenargebäude, angefangen. Als Honorarkraft. Sie hielt Vorträge auf der Besuchertribüne, machte Führungen im Bundeskanzleramt. Als Erklärerin und Gesprächspartnerin für Besucher der damaligen Bundeshauptstadt war sie geübt. Sie hatte zuvor Stadtrundfahrten betreut und begleitet. "Es war immer mein Berufswunsch und mein Traum, etwas im Bereich Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Im Bonner Wasserwerk war ich mit die erste im Plenarsaal, so wie dann auch in Berlin", erzählt die gebürtige Rheinländerin. 1997 meldete sie sich für Berlin. Ja, da wollte sie auch hin, in das neue alte Parlamentshaus, den Reichstag.
Am 2. Mai 1999 kam sie in die neue Hauptstadt. Einige Tage zuvor, am 19. April, war das Reichstagsgebäude eröffnet worden. Genau an diesem Tag wurde Waltraud Barth 53 Jahre. Sie baute zusammen mit anderen den Besucherführungsdienst in Berlin auf. Vom Besorgen der Stühle, über die Organisation der Führungen durchs Haus bis zu den Schlüsseln für die Besuchersäle musste alles beschrieben, neu erfunden, erledigt werden. "Da bin ich ja in meinem Element, wenn es ums Organisieren geht." Waltraud Barth schätzt sich selbst als stressresistent ein – ein Segen für sie und die Kolleginnen und Kollegen. Stressmanagement hat sie in und mit der Familie, zu der fünf Kinder gehören, gut trainiert.
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Wenn Waltraud Barth Dienst hat, kommt sie eine halbe Stunde früher ins Büro. In diesen 30 Minuten erledigt sie alles, was sie während des hektischen Tages nicht schaffen kann. Und wenn die letzten Besucher das Gebäude verlassen haben, arbeitet sie noch ab, was am Tage angelaufen ist. "So kann ich dann das Haus verlassen und weiß, ich bin wirklich fertig mit der Arbeit. Das ist eine wichtige Gabe, glaube ich: Abschalten zu können, wenn man sicher ist, man hat nun alles getan, was zu tun war."
Manchmal, wenn unten in der Westhalle für kurze Momente diese geradezu mystische Ruhe eintritt – keine Besuchergruppe weit und breit, als sei für fünfzehn Minuten draußen der Nahverkehr zusammengebrochen – sitzt Waltraud Barth am Empfangstisch, trinkt einen Schluck Kaffee, lehnt sich ein wenig zurück, blättert die Listen durch, auf denen die noch zu erwartenden Gäste stehen, ist gelassen und ruhig. Es sieht aus, als fiele in solchen Momenten aller Stress von ihr ab.
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Wenn Waltraud Barth in der Westhalle des Reichstagsgebäudes steht und den Menschen, die kommen, um ihre Neugier zu stillen, einen herzlichen Empfang bereitet, vermittelt sie der Beobachterin genau das, was ihr Credo bei dieser Arbeit ist: "Ich möchte jeden so behandeln, wie er es gern hätte. Ich glaube auch, dass ich das kann, denn ich habe ein gutes Gefühl für die Menschen. Sie sind mir wichtig. Sie interessieren mich. Ich denke, dass sie das spüren."
Dann lächelt sie, nimmt ihr Sprechfunkgerät und die
Liste der nun zu erwartenden Besucher, geht zum Eingang West A und
begrüßt die nächsten Gäste.
Kathrin Gerlof